»Da ist was«, lallte Nyr und schob sich abenteuerlich weit über den Brunnenrand.
Hornbori packte ihn beim Gürtel. »Ersäuf dich nicht, du Narr. Du …« Hornbori entdeckte einen Handabdruck auf dem Brunnenrand. Jemand war erst vor Kurzem aus dem Schacht heraufgestiegen. Eisensprossen waren in die Brunnenwand eingelassen. Das Wasser war irgendwo in dunkler Tiefe verborgen. Sollte Galar auf diesem Weg geflohen sein? Hatte er dort unten einen kleinen Aal? Zuzutrauen war ihm alles.
»Ich steig mal da runter«, murmelte Nyr und versuchte sich aus seinem Griff zu befreien.
Hornbori zog ihn zurück und schwang sich selbst auf den Rand der Brunnenummauerung. »Ich steig da hinab. Oder hast du Lust, nass zu werden?«
Nyr klappte den Mund auf und zu. Er rülpste noch einmal, und der süßliche Geruch von Met schlug Hornbori ins Gesicht. »Nö!«, brummte Nyr, machte dabei aber den Eindruck, als habe er seine Überlegungen noch nicht gänzlich abgeschlossen. Mit seinem kurzen, versengten Bart und den roten Brandnarben im Gesicht sah er zum Erbarmen aus. Hornbori dachte, was für ein Glück er bei der Drachenjagd gehabt hatte, und trat auf die oberste Sprosse. Das Metall war nass und rutschig. Ohne Zweifel war hier erst vor Kurzem jemand heraufgekommen. Aus dem Wasser! Das war ganz und gar unzwergisch! Hornbori hielt die feuchten Sprossen fest umklammert und blickte nach unten. Er konnte kein Wasser sehen. Der Schacht verlor sich im Dunkel. Aber die Feuchtigkeit war zu spüren.
Er konnte nicht schwimmen. Wenn er abstürzte und es unten an der Brunnenwand keine Sprossen mehr gab … Nicht daran denken, ermahnte er sich stumm und umklammerte die kantigen Eisensprossen so fest, dass sie ihm in die Handflächen schnitten.
Er dachte an Galar und versuchte sich zu erinnern, ob der Schmied je einen gewaschenen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Reinlichkeit und Galar, das waren zwei Welten, die nicht zueinanderfanden. Auch der Betrug, den er ihm unterstellte, passte nicht zu dem Schmied. Galar war ein unverträglicher Kotzbrocken. Ein egoistischer Mistkerl, durch und durch. Und deshalb würde er sich das Blut einfach nehmen und sich nicht in aller Heimlichkeit davonmachen. Das war einfach nicht Galars Stil.
»Na, haste auch Angst, nass zu werden?« Nyr grinste zu ihm herab. Der Geschützmeister hatte sich wieder bedenklich weit über den Brunnenrand gelehnt.
Hornbori stieg eine vierte Sprosse hinab, um dem feuchtwarmen Met-Atem zu entfliehen. Er war in seinem ganzen Leben noch nicht in einen Brunnen geklettert. Es wäre vernünftig, hier wieder herauszukommen und einfach oben auf Galar zu warten. Irgendwann würde der Schmied schon erscheinen. Ein falscher Tritt … Noch einmal blickte er in die dunkle Tiefe. Nein, für solch aberwitzige Abenteuer war er nicht geschaffen. Wenn er jetzt wieder aus dem Brunnen kletterte, dann war das keine Feigheit, sondern ein Sieg der Vernunft!
»Was war denn das?« Nyr drehte sich um.
Flammen füllten den runden Ausschnitt der Höhlendecke, den Hornbori aus dem Brunnenschacht sah. Nyr schrie auf, verlor das Gleichgewicht und fiel ihm entgegen. Die Kleider des Geschützmeisters standen in Flammen!
Hornbori drehte den Kopf zur Seite. Nyr prallte auf ihn wie ein Felsbrocken. Die Flammen, die aus seinem Wams schlugen, griffen nach Hornboris kümmerlichen Bartresten. Im Reflex schlug er mit der Hand nach dem Feuer und rutschte von den nassen Eisensprossen ab.
Schreiend stürzten sie dem Dunkel entgegen.
Liuvar
Nodon ließ den plötzlich zu Kohle gewordenen Stein fallen und riss sie mit sich. Entsetzt blickte er zur himmelblauen Höhlendecke hinauf. Sein Schreck währte nur einen Augenblick, dann trat ein entschlossener Zug in sein Gesicht. Er berührte sie an der Stirn und murmelte ein Wort der Macht. Dabei zerrte er sie in Richtung des Höhlenausgangs.
»Was hat das zu bedeuten?« Ein Schauder überlief Nandalee. Eine angenehme Kühle umfing sie wie an einem Sommermorgen in regendurchnässtem Wald.
Sie erreichten den Durchgang, durch den Amalaswintha geeilt war, um nach ihren Leibwächtern zu suchen. Duadan sah ihnen nach. Im Blick des Sehers lag etwas, das ihr Angst machte. Ein stummer Abschied. Als wisse er ganz genau, was geschehen würde.
»Wir sind inmitten einer Stadt, die sterben wird«, sagte Nodon mit feierlicher Stimme. »Ich glaube nicht, dass wir entkommen können. Ich werde nicht im Körper eines Zwerges gefangen sein, wenn der Tod zu mir kommt.«
Nandalee verstand nicht. Die Stadt sollte sterben? Wovon sprach er? Nachtatem würde Meuchler zu den Mördern des Schwebenden Meisters schicken. Wie sollte eine Stadt sterben?
Nodon griff unter seinen Umhang und reichte ihr ein Kurzschwert. Sie roch das Blut, das daran haftete, obwohl die Klinge sauber gewischt war. Sie musste ganz genau hinsehen, um die feinen, dunklen Linien in der ziselierten Parierstange der Waffe zu entdecken.
Nodon brach in die Knie. Sein Mund klaffte auf. Seine Zähne verschoben sich im Kiefer, das Gesicht schien auf dem Schädelknochen zu verrutschen. Der Bart verschmolz mit Haut und Fleisch. Gepeinigtes Keuchen entrang sich seiner Kehle.
»Bei den Alben, Arbinumja, was ist das? Ist er krank? Ist das ansteckend? Ist …«
Nandalee hob das Kurzschwert und stellte sich breitbeinig vor ihren wehrlosen Gefährten.
»Besessen ist er«, sagte Gadaric. »Habt ihr nicht seine Augen gesehen? Kein Zwerg sieht so aus! Seine Seele hat sich verfinstert. Ihr Schatten scheint selbst durch seine Augen. Du musst ihn töten, Arbinumja.«
Nandalee hob das Schwert mit beiden Händen, sodass dessen Spitze auf Nodons Brust wies. Seine Zwergengewänder waren von ihm abgefallen wie die Haut einer Schlange. Die Verwandlung war fast abgeschlossen.
Ein Hauch berührte sie. Körperlos, einer Ahnung entsprungen, brachte er eine Kälte, die bis tief in die Knochen drang. Duadan hatte den Kopf zur Seite gewandt und sah sie an. Seine Lippen formten Worte, denen er keine Stimme schenkte. Und doch vermochte sie seinen letzten Gruß zu lesen. »Gehe deinen Weg, Nandalee, die du die Seele meiner Tochter trägst. Liuvar.«
Flammen umfingen Duadans Käfig. Gleißend hell schienen sie geradewegs aus dem blau gemalten Höhlenhimmel hinabzufahren. Nandalee stürmte vor, das Schwert erhoben, um die eisernen Gitterstangen des Käfigs zu zerschlagen. Duadans Gestalt war nur noch ein Schatten inmitten von Flammen.
Ihre Klinge fuhr nieder und glitt mit schrillem Kreischen über das Metall. Ihr Ziehvater krümmte sich. Sie griff nach seiner Hand. Die Hand, die sie so lange behütet hatte, wurde zu Asche, während sie sie hielt.
Das Feuer vermochte Nandalee nicht zu verletzen. Es brannte die Zwergenkleider von ihrem Leib. Ihr Schwert wurde rot glühend. Sie spürte, wie die Lederbänder, mit denen der Griff umwickelt war, sich zusammenzogen und dann ebenfalls zu Asche wurden. Tränen aus geschmolzenem Eisen rannen die Gitterstäbe hinab, dann bogen sich die Stangen, und der Käfig sank in sich zusammen.
Nandalee tastete ungläubig über das schmelzende Metall. Konnte nicht fassen, dass Duadan, der immer Rat gewusst hatte, nun nicht mehr war. Und so wenig die Hitze sie zu verbrennen vermochte, so unbändig war der Schmerz, der in ihrem Inneren wuchs. Sie bäumte sich mit einem schrillen Schrei auf, der all ihr Unglück und ihre Einsamkeit mit sich trug. Ihr Körper wollte schier zerreißen. Sie wand sich wild durch die Pfütze weiß glühenden Metalls. Längst war ihr Schwert verschwunden, eins geworden mit den Gitterstäben, denen Duadan nun entflohen war.
»Liuvar«, flüsterte Nandalee, als der Schmerz nachließ und sie begriff, dass Duadan nicht tot, sondern frei war. Seine Seele würde wiedergeboren werden. Die Martern durch Trolle und Zwerge hatten ein Ende. »Liuvar«, hauchte sie noch einmal. »Frieden, mein Freund.«
Nandalee hatte ihre wahre Gestalt angenommen. Geschmolzenes Eisen perlte wie Quecksilber von ihrem Leib, als sie sich erhob. Das Wort der Macht, das Nodon gesprochen hatte, schützte sie vor der Hitze des Feuers.
Die Flammen waren verschwunden. Ebenso die Zwerge, die gerade noch Amalaswinthas Gäste gewesen waren. Die weite Höhle war vom Ruß geschwärzt, und der falsche Himmel hatte Risse bekommen. Die Pfütze aus geschmolzenem Metall schimmerte in mattem Rot. Es war das einzige Licht, das die gleißenden Flammen hinterlassen hatten.