»Nandalee.« Nodon stand im Durchgang zu dem Tunnel, in den Amalaswintha verschwunden war, um nach ihren Leibwachen zu suchen. Er war nackt wie sie, doch war er weit genug vom Zentrum der Flammen entfernt gewesen, dass sein Schwert nicht geschmolzen war. »Wir müssen fort. Schnell.« Seine Stimme klang rau. Sein Atem ging keuchend, als sei er eine weite Strecke gelaufen.
Auch Nandalee fühlte sich atemlos. Ein öliger Geschmack lag auf ihrer Zunge. Den Gedanken, woher er stammen mochte, verdrängte sie sofort wieder. Sie dachte an die Schuld, die auf ihr lastete. An Fenella und die Gefangenen in den Höhlen beim Königsstein. Sie musste Fenella finden, Duadans Nichte! Was hatte Amalaswintha über die Elfe gesagt? Sie ist an einem Ort, zu dem außer mir niemand geht. Nandalee hatte eine Ahnung, wo das sein mochte!
Nodon hielt sie zurück, als sie an ihm vorbeiwollte. »Vorsicht. Noch sind nicht alle Zwerge tot. Diese Furie hat erstaunlich viele Leibwächter.«
Nandalee ging in die Knie und spähte in den Tunnel. Einzelne ersterbende Lichter flackerten entlang der Wände. Etwa zwanzig Schritt entfernt stand ein halbes Dutzend Zwerge, die Armbrüste im Anschlag.
Sie zog sich vorsichtig zurück.
»Sie werden uns in den Rücken schießen, wenn wir versuchen, zum Ausgang zu gelangen«, stellte Nodon nüchtern fest.
»Dann willst du sie also angreifen?« Nach jedem einzelnen Wort rang Nandalee um Atem.
Statt zu antworten, bedachte Nodon sie mit einem schmallippigen Lächeln.
»Nur um sicherzugehen … Zwei Krieger, die zusammen ein Schwert besitzen, stürmen in einem engen Tunnel auf zehn Armbrustschützen zu. Das ist dein Schlachtplan, ja?«
»So, wie du das schilderst, hört es sich nicht sonderlich ausgefeilt an.« Sein Lächeln wurde ein wenig breiter. »Aber ich denke, es ist besser, als sich in den Rücken schießen zu lassen.«
»Unbedingt!« Nandalee erhob sich, bog in den Tunnel ein und wurde vom scharfen Klacken der Armbrüste empfangen.
Kein Zwergentod
Wasser und Dunkelheit. In blinder Panik ruderte Hornbori mit Armen und Beinen. Er war im Wasser gelandet. Der Sturz hatte ihn in die Tiefe dunkler Fluten gerissen. Um und um sich wirbelnd hatte er alle Orientierung verloren, wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Die grausamen Flammen waren verloschen … Oder blickte er einfach nur in die falsche Richtung? Er drehte sich, streckte die Hände aus. Verfluchtes Wasser! Zwerge waren nicht zum Schwimmen erschaffen. Felsgräber waren sie, Steinespalter. Der Erde verschworen. Wasser … Das war nicht ihre Welt.
Ihm ging die Luft aus. Nicht mehr lange … Seine Finger glitten über schlüpfrigen Fels. Eine Wand. Fast hätte er aufgelacht. Der Brunnen war nicht weit. Man musste ein Idiot sein, um keine der Schachtwände zu finden. Aber wo war oben? Dort, wohin die Luftblasen stiegen! Seine Lungen brannten wie Feuer. Er musste atmen! Doch erst musste er ein wenig von seiner kostbaren Atemluft aufgeben. Dann würden ihm die Luftblasen den Weg weisen. Er pustete durch seine zusammengepressten Lippen. Spendete ein wenig der Luft, die sein Leben bedeutete. Sie strich seine Hand entlang, mit der er die Silberblasen, die er im Dunkel nicht zu sehen vermochte, ertastete. Luftblasen, groß wie Taubeneier, strichen über seinen Bart, und er stellte sich vor, wie sie seinen Füßen entgegeneilten, um dann ganz und gar mit der Dunkelheit zu verschmelzen, in die auch er eingehen würde. Sie waren ihm nur ein kleines Stück voraus, die … Was dachte er da! War er denn von Sinnen? Luftblasen, die seinen Füßen entgegenstiegen? Er arbeitete sich in die falsche Richtung die Brunnenwand entlang.
Erneut überkam ihn Panik. Er drehte sich. Zu viel?
Ich bin tot, dachte Hornbori. Tot! Ertrunken! Was für ein unwürdiges Ende. Er wünschte, er wäre in den Flammen umgekommen oder auf einem blutigen Schlachtfeld. Oder zumindest in einem Steinschlag in den Tiefen des Berges. Ertrinken, das war kein Tod für einen Zwerg.
Seine Sinne lösten sich von dieser Welt. Er ließ sich treiben, glitt einem Licht entgegen. Was erwartete ihn nach dem Tod? Beklommen dachte er daran, dass niemand seinen Leichnam finden würde. Wer suchte schon einen Zwerg am Grund eines Brunnens? Und die letzte Tat seiner Existenz würde darin bestehen, das Wasser zu vergiften, in dem er lag. Mist! Was für ein jämmerliches Ende.
Er hatte keine Kraft mehr. Ließ sich dem Licht entgegengleiten … Nein, nicht gleiten. Er wurde dem Licht entgegengezogen. Etwas hatte ihn gepackt! Erschrocken atmete er aus, und Finsternis umfing ihn.
»Du wirst jetzt wieder atmen, du schleimiger Haufen Scheiße!« Ein heftiger Schlag traf Hornbori auf der Brust.
»Hörst du, du … du … du …«
Hornbori blinzelte.
»Siehst du, er lebt!«, rief eine andere Stimme. »Hab ich es dir doch gesagt.«
Ein weiterer Hieb traf Hornbori auf die Brust. »Was lebt, das atmet, Rattenhirn. Atme!«
»Ratten sind nicht dumm, Galar. Wirklich nicht …«
Noch ein Hieb. »Glotz nicht! Atme!«
Hornbori bäumte sich auf und spuckte Wasser. Sehr viel Wasser. Seine Lungen brannten. Ihm war schwindelig. Er fühlte sich den Toten näher als den Lebenden. Ein Zittern überlief ihn, das er einfach nicht zu beherrschen vermochte. Er musste wohl ziemlich elend aussehen, wenn selbst Galar darauf verzichtete, Späße zu machen.
Hornboris Kraft reichte kaum, den Kopf zu heben. »Danke.« Das Wort schob sich wie ein großer, runder Stein über seine Lippen. Schwer, von Speichel benetzt, unecht.
»Wir konnten dich ja nicht absaufen lassen«, kam es ein wenig unwirsch von Galar. »Was ist da oben passiert?«
»Feuer kam von der Höhlendecke«, murmelte Nyr und zog dabei die Augenbrauen zusammen. »Heiß wie Drachenatem! Ja, ich weiß, wie sich das anhört. Aber genau so war es …«
Galar strich sich über seine kümmerlichen Bartreste. »Sie haben uns also gefunden. War nur eine Frage der Zeit.«
Hornbori lag noch immer am Boden, zu schwach, um sich aufzurichten oder gar an dem Gespräch zu beteiligen. Stumm dankte er den Alben dafür, noch zu leben. Zumindest vorübergehend noch.
»Ihr habt unglaubliches Schwein gehabt«, stellte Galar mit dem Anflug eines Lächelns fest. »Hier unten sind wir vor dem Drachenfeuer sicher. Niemand weiß von diesem Tunnel.«
Hornbori verdrehte die Augen und blickte in den spärlich beleuchteten Stollen. Er war mit allerlei Gerümpel vollgestellt und unterschied sich in seinem Chaos nicht im Mindesten von der Werkstatt des Schmiedes. Auf einer Werkbank lagen Werkzeug und Lederreste durcheinander. Auch hier stank es nach dem grässlichen Koboldkäse. Alchemistische Gerätschaften waren zu unübersichtlichen Abfolgen von bauchigen Flaschen über Öllampen aufgebaut, verbunden durch ein Netzwerk in Spiralen gebogener Kupferröhrchen. Und dann entdeckte er die dunkelroten Glasphiolen. Sauber in kleinen, eigens angefertigten Setzkästen. Ordentlich mit eng beschriebenen Pergamentstreifen beklebt, ein Hort der Ordnung, der ganz und gar Galars Charakter widersprach. Das Drachenblut! Hierher war es also gekommen. Der Schmied hatte sie nicht bestohlen. Im Gegenteil, er hatte das Blut in weiser Voraussicht in Sicherheit gebracht.
»Wie haben die denn unter all den Luftschächten den zu deiner Höhle gefunden? Und woher wussten die Drachen, dass wir dort unten sind? Das Feuer drang in die Höhle, kaum dass wir eingetreten waren.«
Galar stieß einen tiefen Seufzer aus und musterte Nyr, als habe er es mit einem Idioten zu tun. »Na, das liegt doch wohl auf der Hand, wie sie das gemacht haben. Mit Drachenmagie! So haben sie uns mitten in der Tiefen Stadt unter Tausenden Zwergen aufgespürt.«
»Wenn da Magie im Spiel ist … müssten die dann nicht auch wissen, dass wir noch leben?«
Hornbori schluckte. Übelkeit und Schwindel waren vergessen. Er blickte zu der dunklen Wasserfläche, auf der sich das Licht der Öllampen spiegelte.