Nandalees Schultern berührten kaum den Boden, als sie mit einem Satz wieder auf den Beinen war und den Zwergenkriegern entgegenstürmte. Sie hatte Glück. Die Zwerge hatten ihre Armbrüste mit dem Spannfuß zu Boden gerichtet und die Sehnen in die Haken an ihren Gürteln eingelegt. Einen Fuß in den trapezförmigen Spannfuß gesetzt, spannten sie die Waffen mit aller Kraft ihrer Beine. Das ging erstaunlich schnell. Gleichzeitig tasteten sie nach Bolzen in den Köchern an ihrer Seite.
Nandalee erreichte den ersten Zwerg, als dieser die Waffe hob. Sie traf ihn mit einem Fauststoß dicht unter dem Kinn, genau auf dem Kehlkopf. Der Zwerg taumelte zurück gegen den Gefährten, der hinter ihm stand. Er ließ die Waffe fallen und packte sich mit beiden Händen an den Hals. Nandalee beachtete ihn nicht weiter. Sie wusste, sein Kehlkopf war durch den Treffer in die Luftröhre gedrückt. Für ihn gab es keine Hilfe mehr. Er würde ersticken.
Sie fing die fallende Armbrust auf und hieb den stählernen Bogen dem nächsten Zwerg seitlich gegen den Kopf. Mit einem grässlichen Knirschen verschwand der Bogen im Schädel. Nandalee warf sich zurück, um einem Axthieb auszuweichen. Die Klinge verfehlte sie um Haaresbreite. Dann war Nodon über den Zwergen. Er kämpfte mit kühler Selbstbeherrschung, so wie sie ihn aus den Fechtstunden kannte. Jeder seiner Hiebe war ein tödlicher Treffer. Tausende Übungsstunden hatten ihn zu einem Schwertkämpfer gemacht, der nur noch unter Drachenelfen gleichwertige Gegner finden mochte. Er schien jeden Angriff im Voraus zu ahnen, parierte selbst Schläge, die auf seinen Rücken zielten, und nutzte die Wucht der Angriffe, um die Zwerge gegeneinander auszuspielen.
Nandalee nahm eine Axt und beteiligte sich am Kampf, wohl wissend, dass Nodon eigentlich keine Hilfe brauchte. Sie hatte wenig Übung mit Äxten. Wie die meisten Drachenelfen fand sie diese Waffen plump. Mit kurzen, wuchtigen Hieben machte sie sich den Weg frei.
Die Zwerge kämpften verbissen. Die meisten von ihnen hatten keine Zeit gehabt, Rüstungen anzulegen oder Schilde mitzunehmen. Sie hatten sich ganz auf ihre Armbrüste verlassen. Dennoch wandte sich kein Einziger von ihnen zur Flucht. Und in ihren Augen sah Nandalee keine Furcht. Nur Hass! Sie kämpften bis zum letzten Mann.
Das Gefecht dauerte weniger als fünfzig Herzschläge. Als Nodon den letzten Zwerg mit einem wuchtigen Hieb enthauptete, hob Nandalee ihre blutbespritzte Axt und salutierte vor den toten Feinden.
»Sie werden ohnehin alle sterben«, sagte Nodon. Dann hob auch er sein Schwert zum Gruß an die Toten. »Komm jetzt. Wir müssen hier fort.«
»Ich kann nicht.« Nandalee blickte in den Stollen hinab. Die meisten Lichter waren erloschen. Es war totenstill.
»Dort unten erwartet uns nur der Tod«, sagte Nodon in einem Tonfall, wie man ihn anschlägt, wenn man ein kleines Kind davon überzeugen will, von einer Dummheit abzulassen. »Diese Tunnel liegen zu tief. Die Flammen der Drachen verzehren die Luft der tiefen Stollen. Wenn wir diesem Weg folgen, werden wir ersticken.«
»Ich habe keine Wahl. Die vielleicht letzte Überlebende meiner Sippe wird dort unten gefangen gehalten. Ich muss dort hinab. Ich habe es Duadan versprochen.«
»Was hast du ihm versprochen?«, fuhr Nodon sie an. »Deine Sippe ganz und gar auszulöschen? Hast du den letzten Funken Verstand verloren? Du kommst mit nach oben. Nachtatem wünscht, dass du lebst. Ich werde dich zu ihm bringen. Und wenn ich dich tragen muss!« Nackt, über und über mit dem Blut der Zwerge bespritzt und mit seinen unnatürlichen, schwarzen Augen sah er wie ein leibhaftiger Daimon aus. Ein Geschöpf, einzig dazu erschaffen, Krieg und Verderben zu bringen.
Mit Worten wäre Nodon nicht zu überzeugen. Nandalee warf sich herum und floh den Tunnel hinab. Nodon war ohne Zweifel der bessere Schwertkämpfer. Aber sie war die bessere Läuferin. Mit fliegenden Schritten hastete sie in die Dunkelheit. Es war eine Dummheit, ja, aber sie hatte Duadan versprochen, Fenella zu retten.
Sie hörte hinter sich das scharfe Klacken einer Armbrust. Nodon konnte doch nicht … Sie warf sich zur Seite. Zu spät. Ein Schlag traf sie am linken Oberschenkel. Dumpf. Sie fühlte keinen Schmerz. Noch nicht.
Sie lief weiter. Sie durfte nicht aufgeben. Es war ihre Schuld, dass ihre Sippe von den Trollen fast vernichtet worden war. Sie musste Fenella finden!
Nandalee spürte ihr Blut das Bein hinabrinnen. Sie versuchte sich das seltsame Modell der Zwergenstadt in Erinnerung zu rufen. Dass sie einen der Tunnel, die nach links abzweigten, nehmen musste, wusste sie. Aber wie weit war sie schon?
Ihr Atem ging keuchend, obwohl sie nur eine kurze Strecke gelaufen war. Nodon hatte recht, es war Irrsinn, diesen Weg zu nehmen. Sie hatte Fenella nicht einmal leiden mögen …
Sie hörte ein leises Geräusch. Nackte Füße auf Felsboden. Nodon folgte ihr.
Sie musste weiter. Um Atem ringend, kämpfte sie sich vorwärts. Endlich erreichte sie einen abzweigenden Tunnel. War sie hier richtig? Im Zwielicht konnte sie keinerlei Markierungen entdecken. Wozu auch? Dieser unterirdische Palast war kein Ort, an den sich ein Gast der Tiefen Stadt ohne Einladung verirren konnte. Und in ihrem eigenen Heim brauchte Amalaswintha keine Wegweiser.
Ein dunkler Ton erklang aus dem Seitentunnel. Ein Geräusch, ähnlich einem Glockenschlag, nur dumpfer. Nandalee entschied sich, es hier zu wagen. Einen zweiten Versuch hatte sie nicht, dessen war sie sich bewusst. Taumelnd, am Rande ihrer Kräfte, schleppte sie sich den Seitentunnel hinab. Jeder Atemzug war jetzt ein verzweifelter Kampf gegen das Ersticken.
Nebel wogte ihr entgegen. Sie war auf dem richtigen Weg. Nandalee beschleunigte ihre Schritte. Wassertropfen sammelten sich auf ihrem Körper und perlten ihre glatte Haut hinab. Der Schmerz sprang sie an wie ein Tier, das im Verborgenen gelauert hatte. Ihr Bein pochte, als sei etwas Lebendiges darin gefangen und versuchte durch ihr Fleisch hinauszugelangen. Sie brach in die Knie. Die Wunde im Oberschenkel blutete noch immer. Ein dunkler Armbrustbolzen ragte zwei Fingerbreit aus ihrem Fleisch. Die Befiederung war von ihrem Blut verklebt. Sie sollte die Wunde heilen, doch dazu müsste sie erst den Armbrustbolzen ziehen. Wenn sie sich damit aufhielt, würde Nodon sie einholen, und sie hatte nicht mehr die Kraft, sich ihm zu widersetzen. Sie musste weiter. Um die Wunde konnte sie sich später noch kümmern!
Nandalee biss die Zähne zusammen. Nicht mehr weit. Die Lichter an den Höhlenwänden waren nur noch ein mattes Glimmen. Doch vor ihr, mitten im Nebel, war etwas Großes, Leuchtendes.
Sie erreichte den Beckenrand. Benommen, kaum noch sie selbst, ließ sie sich ins Wasser gleiten. Es trug sie. Sie sah einen Aal im Hafenbecken versinken. Eines der Tauchboote der Zwerge.
Nandalee kämpfte um Atem. Sie hechelte, versuchte mit aller Kraft ihre Lungen mit Luft zu füllen. Aber ganz gleich, wie hart sie kämpfte, das Gefühl zu ersticken, wollte nicht weichen. Es wurde von Herzschlag zu Herzschlag stärker.
Der Nebel schien um sie herum zu tanzen. Sie spürte deutlich einen Luftzug, hin zu dem Tunnel, durch den sie gekommen war. Nodon hatte recht gehabt. Es war dumm gewesen hierherzukommen. Und doch hatte sie keine Wahl gehabt. Sie hätte mit der Schuld nicht länger leben können. Sie war es, die ihrer Sippe den Untergang gebracht hatte. Nun musste sie mit all ihrer Kraft für die letzten Überlebenden der Windgänger kämpfen.
Der Gedanke ließ neue Kraft in ihr aufkeimen. Sie stieß sich vom Kai ab und schwamm dem Licht entgegen. Schon nach wenigen Schwimmzügen stieß sie auf eine unsichtbare, glatte Wand. Das musste die Kuppel sein, von der Amalaswintha gesprochen hatte. Nandalees tastende Finger fanden Fugen, wo Glas mit Glas verschmolzen war.
»Nandalee«, erklang es keuchend irgendwo im Nebel. Nodon wagte lieber sein Leben, als Nachtatem zu enttäuschen.
»Du … musst … in … die … Kuppel … tauchen.« Jedes Wort war ein Kampf. Ihr Atem war fast erschöpft. Sie stieß sich von der Kuppelwand ab und tauchte in die Tiefe, dem Licht entgegen. Der Druck in ihrer Kehle wuchs ins Unerträgliche. Atmen! Das war alles, was sie noch denken konnte. Tief einatmen und sei es um den Preis, dass sich ihre Lungen mit Wasser füllten und ihre Seele in den Zyklus von Tod und Wiedergeburt einging.