Die Pergamente auf seinem Tisch wirbelten auf und segelten der Ohrenwand entgegen. All seine Skizzen gerieten in heillose Unordnung. Er versuchte gerade einzelne der Pergamente zu schnappen, als das Ende seines Bartes in eines der Ohren gesaugt wurde.
War er denn in einem Tollhaus! Er packte seinen langen, grauen Bart mit beiden Händen und zupfte ihn wieder heraus. Dieses Durcheinander machte ihn ganz atemlos. Keuchend taumelte er von der Ohrenwand zurück. Ihm war schwindelig. Nicht nur die Blätter drehten sich jetzt in der Luft. Auch die Wände tanzten um ihn herum. Er griff sich an die Kehle.
Die Blätter, die vor die Ohren gesaugt worden waren, fielen zu Boden. Das Geräusch, das wie Atmen geklungen hatte, wurde leiser. Jari rang um Atem. Er wusste nicht, was hier in der Kammer geschah, in der er sein halbes Leben verbracht hatte und die ihm vertraut war wie kein zweiter Ort. Aber was immer es war, es brachte ihn um.
Er schleppte sich zu dem großen Hebel, der neben seinem Schreibtisch aus dem Boden ragte, und ließ sich dagegensinken. Der Hebel ruckte. Er war noch nie benutzt worden. Wenn er ihn umlegte, schoben sich gut getarnte Steinwände vor die Haupttunnel der Tiefen Stadt, und es öffneten sich Parallelgänge, die mit Fallen gespickt waren. Fallen, ersonnen, um Elfen zu töten. Sie würden es bereuen, in seine Stadt gekommen zu sein!
Jari stemmte die Füße gegen den Boden und drückte seinen Leib gegen den Hebel. Er bekam keine Luft mehr. Bald wäre es vorbei mit ihm.
Endlich ruckte der Hebel ein zweites Mal und sank dann nach vorn.
Jari spürte ein fernes Beben. Es war vollbracht! Er stieß einen erleichterten Seufzer aus und starb.
Fenella
Nandalee war erleichtert, Fenella wohlbehalten vor sich zu sehen. Die junge, kaum der Kindheit entwachsene Elfe blickte sie mit ihren weiten, braunen Augen ungläubig an. »Du? Wir dachten alle, du seiest tot. Wo ist Duadan?«
»Er hat mich zu dir geschickt«, antwortete Nandalee ausweichend. »Ich werde dich retten.«
Fenella runzelte die Stirn. »Wir müssen auch ihn retten«, sagte sie zaghaft.
»Das ist nicht mehr möglich. Er ist tot«, mischte sich Nodon ein. »Himmelsschlangen und Drachenelfen greifen die Tiefe Stadt an.«
»Wie überaus feinfühlig«, zischte Nandalee ihn an.
»Ich halte nichts davon, mit der Wahrheit hinter dem Berg zu halten. Besser, sie weiß, woran sie ist.«
Fenellas große Augen füllten sich mit Tränen. »Wie … Er war so …« Sie schluchzte. »Ich … ich habe immer gedacht, er würde niemals sterben. Er wirkte so unbezwingbar … so …« Ihre Stimme ertrank in Tränen.
Nandalee nahm sie in den Arm. »Ich weiß, was du sagen willst. Ich habe genauso gefühlt. Ich war oft mit ihm auf der Jagd. Nichts konnte ihn aus der Ruhe bringen. Er wusste immer, was zu tun war.« Auch sie kämpfte mit den Tränen. »Sein letzter Wunsch war, dass ich dich und die anderen rette.«
Fenella löste sich aus der Umarmung. »Du willst in den Königsstein?« Ihre warmen Augen waren rot umrandet. Tränen rannen noch über ihre Wangen. Ihre Trauer war blankem Entsetzen gewichen. »Du willst in die Trollhöhlen? Das ist unmöglich! Sie werden uns fangen. Ich gehe dort nie wieder hin. Eher bleibe ich hier. Zu den Trollen … Du kannst dir nicht vorstellen, wie es dort ist, was sie uns angetan haben. So viele Monde war ich ihre Gefangene. Es macht ihnen Freude, uns zu quälen. Ich musste zusehen, wie sie meine Schwester geschlachtet haben. Und all die anderen.« Fenella wich bis in die äußerste Ecke ihres Lagers zurück und zog die Decke an sich. »Ich gehe nie wieder in den Königsstein. Lieber bleibe ich bei den Zwergen.«
»Hier wird es bald sehr einsam werden«, warf Nodon sarkastisch ein. »Die Tiefe Stadt steht kurz vor dem Untergang. Wir müssen hier raus! Sofort!«
Fenella sah ihn verständnislos an.
»Das genügt! Kannst du uns jetzt bitte alleine lassen?«
Nodon lächelte kühl. »Ich verstehe. Du möchtest deine Ruhe haben, wenn du sie anlügst.« Er verbeugte sich elegant und zog sich zurück.
»Wer ist das?«, fragte Fenella.
»Er heißt Nodon. Er ist ein Drachenelf. Sie sind nicht alle wie er.«
»Ein Drachenelf!« Fenella sah Nodon nach, und in ihrer Stimme schwang eine Faszination, die Nandalee unbegreiflich blieb.
»Und er ist hierhergekommen, um Duadan zu retten?«
»Nein, er kam, um mich zu holen.«
Fenella sah sie irritiert an. »Warst du auch eine Gefangene der Zwerge? Wir dachten, die Trolle hätten dich gefressen.«
»Ich war keine Gefangene.« Die Fragen wurden Nandalee langsam lästig. Sie hatte Fenella schon früher für naiv gehalten.
»Er ist deinetwegen gekommen …«
Nandalee konnte förmlich sehen, wie es im Kopf der jungen Elfe arbeitete, und sie ahnte, welche Frage als Nächstes kommen würde. »Nein, er ist nicht mein Geliebter«, kam sie Fenella zuvor. »Der Erstgeschlüpfte hat ihn geschickt, damit Nodon mich vor dem Angriff auf die Tiefe Stadt zurück zu den Drachenelfen bringt.«
»Was hast du denn bei den Zwergen gemacht? Warst du eine Gesandte?« Fenellas Kiefer klappte herab, und sie starrte sie ungläubig an. »Du bist eine Gesandte Nachtatems!«
Nandalee entschied, dass eine Lüge wesentlich unkomplizierter war als die Wahrheit. Sie würde Fenella später alles erklären. »Ja, ich war eine Gesandte der Himmelsschlangen.«
»Und die Himmelsschlangen greifen jetzt die Zwerge an«, sinnierte Fenella. »Dann scheinst du ja nicht sonderlich erfolgreich gewesen zu sein.« Sie blickte zu Nodon, der sich ein Stück entfernt bei einem jungen Apfelbaum niedergelassen hatte. »Er ist ein Zauberweber und ein großer Krieger, nicht wahr? Hat er eine Gefährtin?«
Nandalee glaubte nicht recht zu hören. »Er liebt nur sein Schwert. Mach dir keine Hoffnungen.«
»Kein Mann in ganz Albenmark will immer allein sein«, sagte Fenella erstaunlich selbstbewusst und lächelte auf eine ganz und gar nicht mädchenhafte Art.
Nandalee glaubte nicht, dass Nodon Gefallen an ihr finden würde. Aber was wusste sie schon von Nachtatems Schwertmeister? Vielleicht irrte sie sich. Sie wusste auch nicht, was sie mit Fenella anfangen sollte. In der Weißen Halle würde sie niemals aufgenommen werden. Aber sie hatte Duadan versprochen, auf sie aufzupassen. An welchen Ort konnte sie Fenella bringen? An einen der Fürstenhöfe Arkadiens? Wahrscheinlich wäre sie dort am besten aufgehoben.
»Sehe ich noch sehr verweint aus?«
»Große Helden beschützen gerne hilflose Mädchen«, entgegnete sie sarkastisch. »Da werden ein paar Tränen eher nutzen als schaden.«
»Das stimmt.« Fenella stand auf und schlenderte zu Nodon hinüber. Nandalee konnte nicht hören, was sie zu ihm sagte, aber sie schaffte es, ihm mit nur ein paar Worten ein Lächeln zu entlocken. Wie machte sie das? Ihr war es nie so leichtgefallen, einen Mann zu umgarnen.
Nandalee bediente sich bei dem Obst, das sie bei Fenellas Lager fand, und trank in tiefen Zügen aus dem Wasserkrug. Im gleichen Maße, in dem ihre Anspannung nachließ, wuchs ihre Müdigkeit. Sie würden wohl noch eine ganze Weile hierbleiben müssen, bis man in den Tunneln wieder halbwegs unbeschwert atmen konnte.
Einen so idyllischen Garten tief unten im Berg zu hegen, hätte Nandalee Zwergen nicht zugetraut. Selbst Amalaswintha nicht, die schon außergewöhnlich genug war. Wie schwierig musste es gewesen sein, eine Glaskuppel so zu entwerfen, dass sie in diesem kleinen, abgelegen Hafenbecken zu schwimmen vermochte. Amalaswintha hatte sich inmitten des Berges einen Zufluchtsort erschaffen, an dem sie von keinem Zwerg behelligt wurde. Das kleine Volk baute zwar Tauchboote, doch soweit Nandalee wusste, scheuten sie das Wasser. Wer aber hierhingelangen wollte, der musste schwimmen. Sie blickte zu der gewölbten Glaskuppel. Wie viel Arbeit darin steckte! Die einzelnen Scheiben wurden von goldenem Gitterwerk zusammengehalten, das wie ein riesiges Spinnennetz alles einfasste. Amalaswintha musste unfassbar reich sein.