Nandalee ließ ihren Blick durch den Garten schweifen. Wie hatte die Zwergin, die dieses Idyll erschaffen hatte, gewissenlos Duadan quälen können? So viel Liebe steckte in diesem Ort! Welche Mühen musste es bereitet haben, Blumen, Obstbäume und selbst Singvögel hierherzuschaffen und am Leben zu erhalten? Bislang hatte sie geglaubt, dass es Orte wie diesen, die ohne praktischen Nutzen einzig dem Zweck dienten schön zu sein, nur in den Elfenpalästen Arkadiens gab. Wie wenig sie doch über die Zwerge wusste.
Nandalee massierte sich das Bein, dort, wo sie der Armbrustbolzen getroffen hatte. Die Wunde hatte sich geschlossen, ohne dass auch nur eine Rötung auf der Haut zurückgeblieben war. Ihr Bein fühlte sich an, als habe sie eben erst einen schlimmen Krampf gehabt, und sie war so erschöpft, als wäre sie den ganzen Tag gelaufen.
Sie sollte Pläne für die Flucht schmieden, doch sie fühlte sich einfach nur zu Tode erschöpft. Sie mussten hierbleiben, bis sie außerhalb der Glaskuppel wieder atmen konnten. Warum das Feuer wohl nicht hierhergelangt war? Gab es keine Luftschächte über dem kleinen Hafenbecken? Wenn sie Amalaswintha richtig verstanden hatte, war dieser Ort geheim. Das hätte er wohl kaum bleiben können, wenn Schächte bis zur Oberfläche des Berges getrieben worden wären.
Wie hatten die Zwerge nur so dumm sein können, die Himmelsschlangen herauszufordern! Wussten sie denn nicht um deren Natur? Ja, sie waren weise Herrscher, die Statthalter der Alben, aber sie waren auch Raubtiere. Wer sie reizte, der forderte den Tod heraus. Sie betrachtete den Garten ringsherum. Waren die Zwerge all dessen hier überdrüssig gewesen, dass sie auf Drachenjagd gegangen waren, ohne über die Folgen nachzudenken?
Sie blickte zur gläsernen Kuppel hinauf. Konnte es sein, dass die Drachen diesen Ort übersehen hatten, als sie ihren Angriff planten? Oder hatten sie sich einfach darauf verlassen, dass jeder ersticken würde, der hier unten blieb? Wann sie draußen wohl wieder atmen konnten? Nandalee streckte sich. Sie mussten abwarten.
Ihr fielen die Augen zu.
Erschrocken fuhr sie auf. Sie war eingeschlafen! Und sie vermochte nicht zu sagen, ob es nur für einen Moment oder für ein paar Stunden gewesen war. Sie …
Ungläubig sah sie zu Fenella und Nodon. Der Schwertmeister sang! Er hatte eine schöne Stimme. Wie machte Fenella das? Wie …
Nandalee sah sich argwöhnisch um. Sie fühlte sich beobachtet. Aber in dem Garten war niemand außer ihnen. Die gläserne Kuppel lag zur Hälfte unter Wasser. Der Eingang war verborgen. Hier würde sie niemand behelligen. Sie sollte sich einfach entspannen. In der Tiefen Stadt mochte vielleicht noch gekämpft werden, aber hier waren sie in Sicherheit.
Nodon und Fenella blickten plötzlich in ihre Richtung. Fenella kicherte. »Ja, sie sah schon immer ein wenig zerzaust aus.« Sie sprach absichtlich so laut, dass Nandalee jedes Wort verstehen konnte.
Diese kleine Schlange! Um sie zu retten, hatte sie ihr Leben gewagt. Sie hätte sie hier unten verrecken lassen sollen. Verhungert wäre sie hier, wenn sie nicht gekommen wäre.
Fenella ging zur Mitte des Gartens und beugte sich vor, um im dunklen Wasser ihr Spiegelbild zu betrachten und ihr Haar zurechtzuzupfen. Unglaublich, wie eitel sie war.
Die junge Elfe ließ ihr Kleid ein Stück von der Schulter rutschen und blickte keck zu Nodon zurück. Nandalee musste unwillkürlich lächeln. In diesen Dingen war Fenella ohne Zweifel die Meisterin und sie nur staunende Schülerin.
Das dunkle Wasser wogte auf, und eine riesige, schlangenhafte Gestalt erhob sich aus den Fluten. Schneeweiße Schuppen bedeckten Kopf und Leib. Kurze, fleischige Fangarme wucherten dort, wo der Kiefer in den Hals überging. Blutrote Augen starrten auf Fenella hinab. Einen Moment lang nur. Dann stieß die Kreatur hinab und schnappte nach der Elfe. Kopf und Schultern verschwanden im Maul. Es gab ein grässlich schmatzendes Geräusch.
Nodon sprang auf. Zu langsam. Das Geschöpf sank ins Wasser. Zurück blieb nur der verstümmelte Torso der Elfe.
Nandalee schrie auf und eilte zum Wasser. Nodon packte sie und zog sie zurück. »Das Vieh wird wiederkommen. Es muss eine der Weißen Schlangen sein, die von den Drachen gerufen wurden, um sich an dem Vernichtungswerk zu beteiligen. Sie sollen die Aale angreifen und die Zwerge, die sich zu den Häfen der Tiefen Stadt flüchten.«
Nandalee starrte auf den Körper der Toten. Eben noch war Fenella so voller Leben gewesen. Hatte nach der Trauer um Duadan so erstaunlich schnell zu ihrer Unbekümmertheit zurückgefunden. War es Unbekümmertheit gewesen? Oder hatte sie kühl entschieden, dass sie sofort einen neuen Beschützer brauchte, und deshalb Nodon umgarnt? Nandalee konnte den Blick nicht von der Toten abwenden. Von dem verstümmelten Torso, dessen Blut hinab ins dunkle Wasser rann. Es war so schnell gegangen. So unerwartet.
Nodon stand vorgebeugt und mit herabhängenden Schultern da. Wie zu einer Salzsäule erstarrt.
Ein leises Klirren erklang, dann ein Knirschen. Die ganze Glaskuppel erbebte.
»Er wird wiederkommen.« Nodon trat einen Schritt auf das Wasser zu.
Nandalee fühlte sich wie gelähmt.
Dann hörte sie, wie Glas zersplitterte. Eine Woge dunklen Wassers ergoss sich in den Garten. Der Boden verrutschte. Die gläserne Insel begann zu sinken. Alle Töpfe und Bottiche gerieten in Bewegung. Etliche stürzten ins Wasser. Andere schlitterten über den Holzboden. Ängstliches Zwitschern erklang, als ahnten die Singvögel, welches Schicksal sie erwartete.
Nodon riss Nandalee zu sich und achtete darauf, den schweren Bottichen auszuweichen. Jedes Mal wenn einer der großen Kübel, in die Bäume gepflanzt waren, gegen die rückwärtige Wand schmetterte, ertönte ein beunruhigendes Klirren.
Ein riesiger, weißer Schlangenleib glitt über den gläsernen Himmel zu ihren Häuptern.
»Sie wird die Kuppel zerdrücken.« Nodon flüsterte, als habe er Angst, das Ungeheuer könne sie belauschen. »Ich gehe hinaus und greife sie an. Du schwimmst in den Hafen. Hoffen wir, dass es dort wieder genug Luft zum Atmen gibt.«
»Ich lasse dich nicht alleine kämpfen.«
»Wir haben nur ein Schwert. Mein Schwert. Du wirst doch nicht etwa mit blanken Fäusten gegen die Schlange antreten wollen?«
»Ich werde jedenfalls nicht zusehen, wie du dich opferst, damit ich feige davonlaufen kann.«
Weitere Glasscheiben splitterten. Das Wasser reichte ihnen inzwischen bis zu den Knien. Überall trieben Blumentöpfe. Nandalee sah eine Nachtigall gegen die Glasscheiben der Kuppel fliegen. Meisen schwirrten durch das Geäst sinkender Bäume, die von ihren Bottichen hinab ins Hafenbecken gezogen wurden.
»Uns bleibt keine Zeit zu streiten. Du willst dein Leben riskieren? Dann lass uns wenigstens eine sinnvolle Strategie absprechen. Du springst als Erste ins Wasser. Du bist unser Köder. Das Vieh wird besser schwimmen als du und wendiger sein. Während du es ablenkst, versuche ich ihm an die Kehle zu gehen.«
Ein lebender Köder. Nandalee hätte lieber die Schwertarbeit übernommen.
Ein Regen von Glassplittern ging auf sie nieder. Sie mussten handeln. »So machen wir es«, sagte sie und tauchte zwischen den treibenden Blumenkübeln unter. Erde und abgerissene Blätter trübten die Sicht. Die Glaskuppel ruckte noch einmal und legte sich weiter auf die Seite. Nandalee bekam ein Stück vom untergetauchten hölzernen Steg zu fassen, der einmal die Umfassung des Ausstiegs in die Kuppel gebildet hatte.
Sie sah einen bleichen Leib durch das Wasser gleiten. Fenella! Äste und Wasser hatten ihr Kleid halb herabgezogen. Ihr schlanker, blutleerer Körper trieb inmitten abgerissener Blüten davon.
Nandalee stieß sich vom Steg ab und tauchte aus der Kuppel hinaus. Der Schlangenleib streifte sie. Die Bestie schnappte nach einer der leuchtenden Kugeln, die zu den Schätzen in Amalaswinthas Garten gehört hatten. Barinsteine, ein Geschenk der Alben!
Nandalee sah Nodon. Er hatte sein kurzes Schwert zwischen die Zähne geklemmt und schwamm auf die Weiße Schlange zu.
Wie sollte sie inmitten dieses Durcheinanders auf sich aufmerksam machen? Sie versuchte einen Zauber zu weben, stellte sich vor, wie die Seeschlange den Kopf wandte und sie ansah. Plötzlich kam ihr eine andere Idee. Wenn ihr Zorn Sayn getötet hatte, müsste er doch auch der Seeschlange gefährlich werden können. Falls sie diese dunkle Gabe, über die sie so oft schon nachgegrübelt hatte, tatsächlich besaß, dann war dies der Augenblick, sie zu nutzen! Sie dachte an Fenella und deren Tod und versuchte all ihr Entsetzen und ihre Wut in einen einzigen Gedanken zu bündeln, der wie blanker Stahl in das Bewusstsein der Weißen Schlange schneiden sollte.