Die Bestie schnappte nach einem treibenden Baum. Ihr Schwanz peitschte durch das Wasser. Plötzlich warf sie den Kopf herum, und es schien Nandalee, als blicke ihr das Ungeheuer mit seinen blutroten Augen geradewegs ins Herz. Sie spürte den Schmerz und die Wut der Weißen Schlange.
Nandalee ballte die Fäuste, dachte an ein funkelndes Schwert, das in den geschuppten Schädel fuhr.
Die Bestie riss ihr Maul auf. Reihen dolchlanger Zähne, zwischen denen zersplitterte Äste und zerfetztes Fleisch hingen, rahmten die kräftigen Kiefer.
Nandalee ruderte mit den Armen und versuchte zur Wasseroberfläche zu gelangen. Ihre Lungen brannten. Die Seeschlange war schneller. Viel schneller! Nandalee zog die Beine an. Kaum eine Handbreit unter ihren Sohlen schnappten die Reißzähne zusammen.
Nodon hing unter dem Kiefer der Schlange. Er hatte sich an einen der armdicken Tentakel geklammert, die dort wucherten. Er schwang herum und stieß sein Schwert in die ungeschützte Kehle der Bestie. Schwaden dunklen Blutes wogten auf und zogen wie roter Nebel durch das Wasser.
Die Seeschlange warf sich zur Seite und schüttelte den Kopf, um den Angreifer loszuwerden. Doch Nodon ließ nicht locker. Durch die ruckartigen Bewegungen vergrößerte sich der klaffende Schnitt in der Kehle des Ungeheuers.
Plötzlich änderte die Schlange ihre Strategie. Sie tauchte ab, ins Dunkel des Hafenbeckens. Nandalee sah, wie Nodon loslassen wollte, doch nun hatten ihn mehrere der Kiefertentakel umschlungen. Er hieb mit dem Knauf der Waffe auf die fleischigen Fangarme ein, doch die Bestie ließ nicht los.
Ein Barinstein, der neben ihnen in die Tiefe sank, beleuchtete den verzweifelten letzten Kampf des Drachenelfen. Er winkte Nandalee, gab ihr Zeichen aufzutauchen. Ihre Lungen brannten, als stünden sie in Flammen, doch sie folgte ihrem Gefährten mit kräftigen Schwimmzügen in die Tiefe. Nodon hatte alles gegeben, um sie zu retten. Jetzt war es an ihr, ihm zu helfen! Er winkte noch immer, machte Gesten, dass sie auftauchen solle, als sie unvermittelt ein Schwanzhieb der Seeschlange traf. Unter der Wucht des Treffers atmete sie aus. Wasser füllte ihren Mund. Panik ergriff sie. Sie schlug mit Armen und Beinen um sich und prallte gegen eine Mauer. Ihre Finger bekamen einen hölzernen Pfosten zu packen, um den Tauwerk gewickelt war. Halb ohnmächtig zog sie sich daran empor. Sie hob ihren Kopf aus dem aufgewühlten Hafenbecken und spie Wasser. Sie keuchte und prustete. Ihr Hals schmerzte. Benommen kletterte sie auf die Anlegestelle. Überall lagen tote Zwerge. Vor allem Frauen und Kinder. Eng umschlungen, ganz ohne Wunden. Sie waren erstickt.
Nandalee blinzelte das Wasser aus den Augen und rollte sich zusammen. Es stank nach Rauch und verbranntem Fleisch. Jeder Atemzug kratzte in ihrer Kehle, aber es gab wieder genug Luft, um überhaupt atmen zu können.
Nodon! Völlig entkräftet robbte sie zum Rand des Kais und blickte auf das unruhige Wasser, in dem Äste und Blumen tanzten. Dazwischen schaukelten die zerzausten Federleiber ertrunkener Vögel. Das Licht der Barinsteine war in der Tiefe verglommen. Nodon konnte sie nirgends entdecken.
Kaltes Metall berührte ihre Schläfe. Aus den Augenwinkeln sah sie eine gespannte Armbrust und einen Zwerg mit einem blutigen Kopfverband. »Jetzt stirbst du, Mörderin.«
Zwergentücke
In den Augen des Zwergs war nichts als Hass. Tödlicher, unvernünftiger Hass. Er stieß mit seinem Dolch nach ihr, so stümperhaft, dass Bidayn ohne Mühe ausweichen konnte. Doch der Kerl setzte sofort nach, versuchte sie zu packen. Seine rote, zerschundene Hand glitt über ihren nackten Bauch. Es war eine feuchte Berührung, die Blutschlieren zurückließ. Sie stach mit ihrem Kurzschwert zu. Eine knappe, präzise Bewegung. Es geschah ohne Nachdenken. Hundertfach hatte sie diesen Stich im Schwertkampf, den Gonvalon die Schüler der Weißen Halle gelehrt hatte, erprobt.
Ihre Klinge drang durch den Bart des Zwergs, traf ihn am Kehlansatz, zwei Fingerbreit unter dem Halsknorpel, und drang durch seine Brust bis in die Lunge. Als sie ihre Klinge zurückzog, spürte sie den Stahl über Knochen schaben. Der Zwerg starrte sie an. Stieß einen unartikulierten Laut aus und hob seinen Dolch, um erneut zuzustoßen. Blut quoll ihm über die Lippen und troff in seinen versengten Bart.
Er blinzelte sie mit verkniffenen, grauen Augen an. Dann brach er in die Knie, immer noch drohend seinen Dolch erhoben.
»Er hat es hinter sich«, sagte Lyvianne kühl. »Töte ihn! Oder soll ich das für dich erledigen?«
Bidayn zog dem Sterbenden ihr Schwert über die Kehle.
»Du musst ihnen nicht nachtrauern. Sie haben die Himmelsschlangen herausgefordert. Das tun nur Narren! Sie hätten wissen können, was der Lohn ihrer Torheit sein würde.«
Bidayn nickte und vermied es, zu den Toten hinabzublicken. Sie atmete tief durch und wappnete sich für die Schrecken, die noch kommen mochten. Die Luft schmeckte nach Rauch und nach heißem Fels.
»Komm!« Lyvianne stieg über die Leiber der Zwerge hinweg, die sie erschlagen hatte. Es war erstaunlich, wie viele das Drachenfeuer überlebt hatten. Es gab offenbar etliche Höhlen ohne Luftschächte. Oder ihre Späher hatten doch nicht all diese Schächte gefunden.
Lyvianne verfiel in einen geschmeidigen Trab. Sie bewegte sich mit der Anmut eines Raubtieres. In diesem Abschnitt der Höhlen gab es kaum noch Licht. Bidayn überlegte kurz, dann flüsterte sie ein Wort der Macht, sorgsam darauf bedacht, den natürlichen Fluss der Magie nicht zu stark zu verändern. Ein Fehler wie auf Nangog würde ihr nie wieder geschehen!
Ihre Augen waren empfindlicher für das spärliche Licht geworden. Sie sah deutlicher, doch lag über allem ein graugrüner Schleier, der die Farben verfälschte. Auch die große Tätowierung auf Lyviannes Rücken trat nun deutlicher hervor, so als reagiere sie auf den Zauber. Sie zeigte das Bild des Goldenen, ihres Meisters. Seine ausgebreiteten Schwingen bedeckten ihre Schulterblätter, der schlangenhafte Leib wand sich ihren Rücken hinab. Nebel umspielten den Drachen. Er schien daraus emporzusteigen wie das Licht, das den Morgennebel vertreibt. Seine Augen starrten sie an, als seien sie lebendig.
Bidayn schüttelte den Kopf. Das war Unsinn! Sie war angespannt, hatte Angst. Das war alles. Sie wagte es, ein zweites Mal nach den Augen des Drachen zu blicken. Nun waren sie nur ein Bild, in die Haut ihrer Meisterin gestochen.
Würde auch sie selbst eines Tages dem Goldenen gehören?
Lyvianne blieb abrupt stehen. »Vorsicht«, flüsterte sie und duckte sich.
Bidayn sah über ihre Schultern hinweg eine weite Höhle … Nein, keine Höhle, es war ein Abgrund. Ein gewaltiger Spalt, der inmitten des Berges klaffte. Der Tunnel, dem sie gefolgt waren, mündete auf einen schmalen, von einer niedrigen Mauer gesäumten Pfad, der sich entlang des Abgrundes wand.
»Ich rieche Zwerge.«
Zwerge? Bidayn roch nur den Gestank verbrannten Fleisches. Sie duckte sich und blickte hinauf, dorthin, wo die Höhlendecke im Dunkel verborgen blieb. An der gegenüberliegenden Steilwand erkannte sie vereinzelte Terrassen. Ein Stück entfernt schwang sich eine Brücke in kühnem Bogen über den Abgrund. Auch sie lag höher und war von ihrem Saumpfad aus nicht zu erreichen.
»Wo lang gehen wir?«
Lyvianne zuckte mit den Achseln. »Nach links? Das ist die Seite des Herzens. Du dienst den Himmelsschlangen doch mit ganzem Herzen, oder?«
»Natürlich!« Sie hatte ein wenig zu schnell geantwortet.
Lyvianne wandte sich zu ihr um.