»Du bleibst hinter mir. Wir bewegen uns dicht an der Mauer entlang. Und schnell! Wirst du das schaffen?«
Bidayn nickte.
»Dann los!«
Lyvianne schien fast mit den unsteten Schatten in dieser gewaltigen Höhle zu verschmelzen. Ob sie einen Zauber gewoben hatte? Dicht hinter dem Ausgang ihres Tunnels lag ein alter Zwerg, der im Tode beide Hände auf seine Brust gepresst hatte. Das Gesicht war ganz rot und aufgedunsen. Eine schwere, goldene Kette schimmerte zwischen seinem Barthaar. Ob vor Furcht sein Herz zersprungen war?
»Schneller«, zischte Lyvianne.
Bidayn hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Konnte es hier Überlebende geben? Der Zauber Lyviannes hielt sie noch immer wie ein angenehm kühler, seidiger Kokon umfangen. Wie heiß es wohl wirklich war?
Sie stiegen über eine Gruppe Toter hinweg. Der Felsboden war schlüpfrig. Lyvianne blieb plötzlich stehen. »Dort oben auf den Terrassen sind Zwerge. Sie haben uns gesehen.«
Bidayn blickte hinauf, konnte aber niemanden entdecken. »Was tun wir jetzt?«
Lyvianne lachte. »Den Kopf unterhalb der Mauerkrone halten und einen Weg nach oben suchen. Wir sind hier, um Zwergenblut zu vergießen.«
Ein tiefes Grollen erklang. Es schien aus dem Felsen unmittelbar hinter ihnen zu kommen. Bidayn blickte zurück. Das Licht war zu schlecht, um alles deutlich sehen zu können. Sie hatte das Gefühl, ein Teil der Felswand habe sich bewegt. Natürlich war das nicht möglich.
Der Boden unter ihren Füßen erzitterte. Kleine Steine stürzten klackernd in den Abgrund. Staub senkte sich auf sie herab. Plötzlich begann die niedrige Mauer neben ihnen zu schwanken. Fingerdicke Risse klafften in den Fugen.
»Zurück!«, rief Lyvianne.
Unter lautem Getöse stürzte ein Teil der Mauer in den Abgrund. Fast im selben Augenblick prasselten Armbrustbolzen auf sie nieder. Einer streifte Bidayns Haar. Klackernd schlugen sie auf die Felsen und den Weg.
»Sie greifen an, die Wahnsinnigen.« In Lyviannes Stimme schwang ein Anflug von Respekt mit. Sie half Bidayn auf die Beine und deutete den Weg hinunter. Dort stürmte ihnen schreiend ein halbes Dutzend Zwerge entgegen. Eigentlich keine Bedrohung, wären da nicht die Armbrustschützen auf der anderen Seite der weiten Felsspalte, die ihnen in den Rücken schießen würden, sobald sie sich zum Kampf stellten.
Geduckt flüchteten sie an der niedrigen Mauer entlang, begleitet vom Sirren der Armbrustbolzen. Lyvianne blieb völlig ruhig, nicht als sei sie auf der Flucht vor einem Haufen ungewaschener Zwerge, die sie beide in eine Falle gelockt hatten. Selbst auf der Flucht wirkte sie so, als sei sie ganz Herrin der Lage. So wollte Bidayn auch eines Tages sein! Ob sie das wohl jemals schaffen würde?
Plötzlich verwandelte sich der Boden unter ihren Füßen in eine rutschige Masse. Sie schlitterte ein Stück, kämpfte mit den Armen wedelnd um ihr Gleichgewicht, während ein Armbrustbolzen nur einen Fingerbreit vor ihrer Nase vorbeiflog. Sie zuckte zurück. Ihre Füße verloren jeden Halt. Sie stürzte zwischen die Leichen der Zwerge, über die sie eben erst hinweggestiegen waren.
Der Anführer ihrer Verfolger stieß einen triumphierenden Schrei aus. Lyvianne stieg über sie hinweg, hob eine Axt auf, die zwischen den toten Zwergen lag, und stellte sich ihren Verfolgern. Die Zwerge wurden langsamer und blieben stehen.
Bidayn rappelte sich auf. Sie war über und über mit weißlichem, halb geronnenem Fett bedeckt.
»Lauf zum nächsten Tunneleingang«, befahl Lyvianne ruhig. »Suche dort Deckung.« Sie lenkte mit dem Blatt der Axt einen Armbrustbolzen ab und schleuderte die Waffe dann ihren Verfolgern entgegen. Mit scharfem Knall grub sie sich in den Schild des Anführers. Der Zwerg taumelte unter der Wucht des Aufpralls zurück.
Lyvianne riss beide Arme hoch und rief ein Wort der Macht in der Sprache der Drachen. Drohend hallte es von den Felswänden wider.
Bidayn hatte das Gefühl, dass die Dunkelheit ringsherum dichter wurde. Das wenige Licht gerann zu Schlieren, die sich schwingend über dem Abgrund bewegten und den Terrassen entgegentanzten. Die Armbrustschützen schrien entsetzt auf und wichen zurück.
Lyvianne lief den Saumpfad hinauf. »Schnell, sie werden nicht lange brauchen, um zu merken, dass dies nichts weiter als ein wenig Spielerei mit Licht ist.«
Ihre Meisterin zog sie neben sich her, und nahe dem toten Zwerg mit der schweren Goldkette traten sie in einen Tunnel. War der Tunnel, aus dem sie gekommen waren, nicht ein Stück weiter den Weg hinab gewesen? Sie konnte sich gar nicht erinnern, hier einen Eingang in den Fels gesehen zu haben. Vielleicht irrte sie sich auch … Die Tiefe Stadt war ein einziges Labyrinth, ein Ameisenhaufen, in dem man sich wohl nur zurechtfinden konnte, wenn man darin geboren worden war.
Angewidert wischte Bidayn über die klebrige Masse, die ihre Arme und Beine bedeckte. »Was ist das?«
Lyvianne bedachte sie mit einem bedauernden Blick. »Du hast dir einen schlechten Platz ausgesucht, um zu stürzen. Ich an deiner Stelle würde ein sehr langes Bad nehmen, wenn wir zurück in der Weißen Halle sind.«
»Was …«
»Es ist immer noch sehr heiß. Dein Zauber schützt dich, deshalb merkst du es nicht. Die Toten … Ich weiß nicht, wie ich es dir nett sagen soll. Hast du schon einmal Würste in einer zu heißen Pfanne gebraten? Die Pelle platzt auf, und das Fett läuft heraus. Das ist dort draußen geschehen. Du hast im Fett der Toten gelegen.«
»Nein …« Angewidert wischte Bidayn über ihre nackten Glieder.
»Stell dich nicht so an!«
Bidayn sah das anders. Sie strich mit den Händen über den Fels der Tunnelwände, um das Fett loszuwerden. Etliche Furchen waren in das Gestein gegraben. An den scharfen Kanten konnte sie die klebrige Masse abstreifen.
»Riechst du das?«
Bidayn roch nichts außer dem Gestank des Fettes. Es würde tief in ihre Haut einziehen, und sie würde stinken wie ein toter Zwerg.
»Hier ist Blut vergossen worden. Elfenblut!« Lyvianne rief ein Wort der Macht, und eine der Lichtschlieren, die über dem Abgrund tanzten, wand sich in den Tunnel hinein.
Deutlich sah Bidayn nun die über die Wände, die Decke und den Fußboden verlaufenden Furchen. Alle waren vollkommen gerade und schmaler als ihr kleiner Finger.
Knirschend prallte ein Armbrustbolzen von der Wand hinter ihr ab.
»Wie es scheint, haben unsere Freunde draußen frischen Mut gefasst.« Lyvianne winkte ihr. »Komm, gehen wir ein Stück tiefer. Mit dem Licht, das ich gerufen habe, erleichtern wir ihnen das Zielen. Außerdem werden wohl gleich ihre Axtschwinger kommen.«
Bidayn hatte in einer Furche, die etwa auf Brusthöhe verlief, etwas Dunkles entdeckt. Sie strich darüber. »Hier ist Blut.«
Lyvianne bedachte ihre blutbenetzten Finger nur mit einem kurzen Blick. »Ich sagte doch, ich rieche Elfenblut. Vielleicht ist weiter oben im Tunnel ein Opferplatz. Zwergen traue ich alles zu.«
Bidayn blickte die Furchen entlang zum Ausgang. Ein paar Schritt vor dem Ende des Tunnels schwangen sie sich in weitem Bogen der Decke entgegen und verschwanden in einem Schacht. Ein Opferplatz war das hier bestimmt nicht, dachte sie und beeilte sich, den Anschluss an Lyvianne nicht zu verlieren.
Der Tunnel stieg mit sanftem Gefälle an. Immer wieder blickte Bidayn zurück. »Die Axtträger folgen uns nicht.«
»Denen ist wohl aufgegangen, dass sie hier ohne die Deckung durch ihre Armbrustschützen der sichere Tod erwartet, wenn sie sich zwei Drachenelfen stellen.«
Wieder blickte Bidayn zurück. Sie hatte ein ungutes Gefühl. »Vielleicht wollten sie, dass wir in diesen Tunnel gehen.«
»Und wenn? Was hätten wir beide zu befürchten?«
Bidayn wünschte sich, sie wäre so selbstsicher wie ihre Meisterin.
Schweigend folgten sie dem Lauf des Tunnels und entdeckten bald in den Furchen am Boden Rinnsale von Blut. Jetzt verlangsamte auch Lyvianne ihren Schritt. Sie hielt wachsam ihr Schwert erhoben und ließ den Wurm aus blassem Licht den Stollen hinaufeilen. Voraus lag ein blasser, zartgliedriger Körper.
»Coleen.« Lyviannes Stimme klang halb erstickt.
Vorsichtig näherten sie sich der Toten. Der Wurm aus Licht drehte sich in weiten Spiralen über der Elfe. Ihre beiden Arme waren abgetrennt. Der Kopf und ein Stück ihres Torsos ebenfalls. Sie sah aus, als sei sie vom Schwert eines Riesen in die Brust getroffen worden. Eine gewaltige Klinge hatte mit nur einem einzigen Hieb glatt durch sie hindurchgeschnitten.