Lyvianne kniete neben der Toten nieder und schloss ihr die Augen.
Bidayn hatte Coleen kaum gekannt. Sie war eine Schülerin der Meisterin Ailyn, die Nandalee an ihrem ersten Tag in der Weißen Halle so entsetzlich verprügelt hatte. Sie mochte Ailyn nicht und alle, die mit ihr zu tun hatten. Sie und ihre Schüler interessierten sich kaum für die Kunst des Zauberwebens. Sie wollten nur eins: vollkommene Kriegerinnen sein. Umso beklemmender war es, Coleen hier tot zu sehen. Sie war mit einem Ausdruck grenzenlosen Erstaunens auf ihrem Antlitz gestorben. Wer hatte sie getötet? Oder besser was?
»Sie hat nicht kommen sehen, was sie umbrachte. Oder zumindest hat sie es zu spät bemerkt«, stellte Lyvianne sachlich fest. Der Wurm aus Licht glomm um ein weniges heller, als nutze die Zauberweberin nun all ihre Kraft, um gegen die Dunkelheit anzukämpfen. »Ihr Tod war nicht nutzlos. Wir sind gewarnt.« Mit diesen Worten richtete sie sich auf und schickte das sich windende Licht mit graziler Geste weiter den Stollen hinauf.
Wie eine Antwort auf ihre Worte erklang ein fernes Klirren vor ihnen im Tunnel. Dann ertönte ein leises, metallisches Zischen. Zwei schwere silberne Klingen zerteilten den Lichtwurm und schossen ihnen mit atemberaubender Geschwindigkeit entgegen. Zu schnell, um vor ihnen fortlaufen zu können. Sie waren in die steinernen Führungsschienen eingelassen und gewannen durch ihr eigenes Gewicht immer mehr an Geschwindigkeit.
Statt davonzulaufen, tat Lyvianne genau das Gegenteil. Sie lief ihrem Tod entgegen. »Spring!«, schrie ihre Meisterin und machte einen kühnen Hechtsprung zwischen den Klingen hindurch.
Bidayn begann am ganzen Leib zu zittern. Sie fluchte. Und dann sprang sie … Sie spürte den Luftzug der Klingen und landete schwer auf dem Boden des Tunnels.
»Du magst es spannend.« Lyvianne half ihr auf. »Ich dachte schon, ich würde die talentierteste Zauberweberin, die in den letzten fünf Jahrhunderten die Weißen Halle betreten hat, an ein Stück Zwergenstahl verlieren. Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.«
Bidayn schlotterten alle Glieder. Sie war nicht einmal mehr in der Lage zu sprechen. Ihr Herz klopfte ihr bis in den Hals hinauf.
»Ist schon gut.« Lyvianne strich ihr sanft über das Haar. »Lerne, Bidayn. Du darfst nie in Panik verfallen. Ganz gleich, was geschieht. Wenn die Angst dein Handeln regiert, hat der Tod dich schon am Kragen gepackt. Bewahre ein ruhiges Herz und einen kühlen Verstand, und du wirst die meisten Gefahren meistern.«
Bidayn nickte, zitterte aber noch immer. Es war ihr peinlich, sich so wenig unter Kontrolle zu haben. »Licht und ein bisschen Akrobatik, das genügt, um uns hier herauszubringen. Keine Sorge, wir gehen diesen Weg bis zum Ende.«
Wieder ertönte ein entferntes Klirren. Lyvianne lachte. »Wie es scheint, fällt den Zwergen nichts Neues ein. Bist du bereit zu springen?«
Bidayn nickte, obwohl ihr immer noch die Glieder schlotterten. Ihre Meisterin trieb mit einer Geste den Lichtwurm voran. Funkelndes Metall schnellte den Gang hinab, ihnen entgegen.
Bidayn schrie auf, und selbst Lyvianne erbleichte.
Den Zwergen war doch noch etwas Neues eingefallen. Ein Gitterwerk aus messerscharfen Klingen schoss auf sie zu.
Die nackte Wahrheit
Gonvalon sah zwei Zwerge von einer der Terrassen stürzen. Endlich begann ein organisierter Angriff gegen die heimtückischen Schützen. Er hatte eine Ewigkeit gebraucht, um zu dem Portal auf der anderen Seite zu gelangen, und dort einen Palast vorgefunden. Doch Nandalee war nicht dort gewesen. Die Launen der Schlacht ließen sie nicht zusammenfinden. Sie konnte jetzt überall in dieser riesigen Stadt sein.
Gonvalon duckte sich. Armbrustbolzen prasselten gegen die niedrige Mauer und den Fels hinter ihm. Er hatte Respekt vor den Zwergen. Sie mussten wissen, dass sie auf verlorenem Posten kämpften. Sie hatten die Himmelsschlangen herausgefordert, und nun war deren Zorn über sie gekommen. Allein die Alben hätten sie noch retten können. Doch die Schöpfer dieser Welt schienen sich schon lange nicht mehr für die Geschicke ihrer Kinder zu interessieren. Alle Macht lag nun bei den ältesten Drachen. Wer sich gegen sie stellte, der war des Todes. Und er, Gonvalon, war das Schwert des Goldenen.
Vorsichtig spähte er über die Brüstung. In dem weiten Felsspalt, der das Herz des Berges teilte, war Magie gewirkt worden. Licht tanzte in seltsamen Schlieren über dem Abgrund. Lebendig gewordene Schatten liefen über die Felsen und erschwerten den Zwergen das Zielen.
Ein Stück weiter kauerte eine bleiche Gestalt. Ein Elf! Gonvalon sah schon von Weitem das Blut. Zu viel Blut, und er besaß nicht mehr die Zaubermacht, sie zu heilen, noch irgendetwas, um die Wunden zu verbinden. Alles, was er hatte, war sein Schwert. Die Drachen hatten ihre ersten Diener an diesem Tag ganz und gar zu ihren Henkern gemacht. Es gab keinen Schmuck und keine edlen Gewänder. Nichts, mit dem sie bemänteln konnten, was sie waren. Ihr Sein war reduziert auf die Klingen in ihren Händen. Das war die nackte Wahrheit, alles andere nur Blendwerk.
Gonvalon hatte den Toten erreicht. Durell, ein Novize. Er war nicht nur ein guter Schwerttänzer gewesen, sondern auch ein begnadeter Flötenspieler. Drei Armbrustbolzen steckten in seinem Rücken. Vor ihm auf dem engen Weg lagen sechs tote Zwerge.
Gonvalon strich sanft mit der Hand über Durells Gesicht. »Die Weiße Halle wird ohne dein Flötenspiel ein freudloserer Ort sein, mein Freund.«
Geduckt eilte er weiter und horchte in sich hinein. Er versuchte die Bilder vergangener Liebesnächte heraufzubeschwören und das Band zu Nandalee wieder zu festigen. Konnte er spüren, wo sie war, wenn er nur fest genug an sie dachte? Oder hatten sie sich längst zu weit voneinander entfernt?
Ein Armbrustbolzen schrammte kreischend über sein Schwert. Was tat er da! Er sollte mit allen Sinnen im Hier und Jetzt sein, wenn er überleben wollte.
Ein Stück voraus versperrte ein Trupp Zwerge den Weg. Sie erwarteten ihn mit grimmig erhobenen Äxten. Aber all ihr trotziger Mut konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie dem Tod näher waren als dem Leben. Die Bärte versengt, die Gesichter von Verbrennungen entstellt, waren sie nur noch ein Schatten des stolzen Volkes aus der Tiefe. Die Hitze tötete sie. Bald bedurfte es keiner Schwerter mehr, um den Sieg der Drachen und Elfen zu besiegeln.
Ihr Anführer, ein Kerl mit goldenen Stierhörnern am Helm, rief ihm eine Herausforderung entgegen und stürmte los. Gonvalon hob sein Schwert zum Gruß und trat dem Zwerg entgegen. Er würde ihm einen schnellen Tod schenken.
Er passierte eine Tunnelöffnung und trat mit einem großen Schritt über einen Zwerg hinweg, der noch im Tod seine goldene Kette auf der Brust umklammert hielt.
Gonvalon wich einem Axthieb aus. Der Angriff war mit mehr Wut als Geschick ausgeführt. Ein Tritt gegen die Brust des Zwergs ließ ihn gegen die Krieger taumeln, die ihm folgten. Gonvalon setzte nach. Seine Klinge durchdrang klirrend das Kettenhemd des Axtkämpfers und grub sich durch dessen Brust ins Herz. Ein Ruck zur Seite und der Körper des Sterbenden blockierte den Angriff des Kriegers, der hinter ihm stand. Auf dem engen Saumpfad nutzte den Zwergen ihre Übermacht nichts.
Ein dumpfer Schlag traf seinen linken Arm. Die Wucht des Treffers ließ ihn nach vorne taumeln und brachte ihn in gefährliche Nähe einer vorschnellenden Axt. Ein kurzer entschlossener Hieb ließ den Schaft der Axt zersplittern. Gonvalon riss die Klinge hoch, traf seinen Gegner am Kinn, sodass dessen Kopf in den Nacken geworfen wurde. Der Elf ließ sein Gewicht in das Schwert fallen und trieb den Stahl tief in die Kehle seines Gegners. Der Zorn in dessen Augen wich. Er wirkte nur noch erschöpft.
Gonvalon machte einen raschen Schritt zurück. Ein Armbrustbolzen prallte dicht neben ihm gegen die Felswand. Er war auf dem Weg zu exponiert. Die Schützen auf den Terrassen schreckten nicht davor zurück, mit ihren Bolzen womöglich ihre Kameraden zu treffen. So musste Durell gestorben sein.