Der Schwertmeister wich einen weiteren Schritt zurück und flüchtete sich in den Tunnel, dessen Eingang er eben erst passiert hatte. Sollten die Zwerge ihm nur hierher folgen. Ohne ihre Armbrustschützen würde er einen nach dem anderen niederstrecken.
Die Zwergenkrieger folgten ihm nicht. Er wich mit ein paar schnellen Schritten weiter zurück, um aus dem Schussbereich der Schützen zu gelangen. Jetzt tastete er nach seinem Arm. Der Bolzen hatte ihn nur gestreift. Aber er musste die Wunde abbinden. Er blickte den Tunnel hinauf. Weiter vorne tanzte ein merkwürdig blasses Licht. Er sah zwei schattenhafte Gestalten. Für Zwerge waren sie zu groß. Es schienen Elfen zu sein. Er ging ihnen mit langen Schritten entgegen, als er ein seltsames, zischendes Geräusch hörte.
Unausgesprochenes
Das war der Tod! Bidayn wusste, dass es vor diesem Gitterwerk aus Klingen, das den Gang hinabglitt, kein Entkommen geben konnte.
Lyvianne rief ein Wort der Macht, düster und alt wie die Wurzeln der Welt. Unheilvoll, nicht für Elfenzungen geschaffen. Selbst im Angesicht des Todes bewahrte Lyvianne kalten Mut. Ihre Hand fuhr in anmutiger Geste über die Felswand zu ihrer Linken. Das Gestein zerfloss unter ihren Fingern, als sei es heißes Wachs.
Lyvianne trat einen Schritt zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete. Wie konnte ihre Meisterin nur so ruhig dem Tod ins Auge schauen?, dachte Bidayn.
Mit infernalischem Krachen kam das Klingengitter unmittelbar vor ihr zum Halt. Feine Metallsplitter prasselten in den Tunnel und stachen wie Nadeln nach Bidayn. »Bei den Alben …«, stammelte sie ungläubig. »Wir leben!«
Sie trat an die Felswand, um das Wunder, das sie gerettet hatte, genauer in Augenschein zu nehmen. Der geschmolzene Fels war in die Führungsrinnen des Gitters gelaufen.
»Wie konntest du wissen, dass das flüssige Gestein schnell genug wieder hart werden würde?«
»Ich wusste es nicht.«
Bidayn war fassungslos. »Aber wie konntest du dann so ruhig bleiben?«
»Wie hätte ich anders reagieren können?« Lyvianne wandte sich um. Feine Rinnsale aus Blut zerteilten ihr Gesicht in Streifen aus Rot und Weiß. Sie hatte dem Gitter viel näher gestanden und mehr Metallsplitter abbekommen. »Als Drachenelfe musst du akzeptieren, dass du eines Tages eines gewaltsamen Todes sterben wirst. Das ist unser Schicksal. Wir können ihm nicht entfliehen, aber wir haben die Wahl, wie wir ihm begegnen. Ich hätte diesen Klingen nicht davonlaufen können, und es ist nicht meine Art, vor Furcht zu erstarren. Dazu habe ich schon zu vieles gesehen. Um einen Zauber zu weben, der das magische Netzwerk stark verzerrt, blieb mir keine Zeit. Es musste einfach sein und schnell gehen. Nachdem diese Entscheidungen getroffen waren, blieb mir nur noch zu warten und mich dem möglichen Tod mit Würde zu stellen.«
Sie war ehrfurchtgebietend, dachte Bidayn. »Glaubst du, ich kann das auch?«
Ihre Meisterin lächelte, was bei ihrem blutüberströmten Gesicht schrecklich aussah. »Das entscheidest allein du. Aber ich werde dir helfen, diesen Weg zu beschreiten. Du wirst …« Sie kniff die Augen zusammen.
»Was werde ich?«
Lyvianne ging in den tiefen Stand der Schwertkämpferin, hob ihre Waffe jedoch noch nicht. »Da ist ein Schatten im Tunnel. Wir müssen …« Plötzlich lachte sie. »Gonvalon!«
Der Schwertmeister trat in das blasse, pulsierende Licht, das Lyviannes Zauber bewirkte. Sein linker Arm war blutüberströmt. Er blickte zu dem Klingengitter und nickte nur.
»Habt ihr Nandalee gesehen?«
Bidayn hatte das Gefühl, dass etwas Unausgesprochenes zwischen Gonvalon und Lyvianne schwang. Sie sahen einander auf eine seltsame Art an.
»Ich glaube, sie ist gar nicht hier unten«, sagte Bidayn. »Jedenfalls war sie nicht auf dem Kriegsrat. Ich habe sie schon seit Tagen nicht mehr gesehen.«
»Sie ist hier«, entgegnete Gonvalon mit einer Bestimmtheit, die keinen Widerspruch duldete. Gleichzeitig wirkte er seltsam gehetzt. Er blickte zum Tunnelausgang zurück.
Sie war wohl wieder auf einer ihrer geheimen Missionen, dachte Bidayn ein wenig eifersüchtig. Man könnte meinen, dass sie schon eine Drachenelfe sei, so oft, wie sie die Weiße Halle verließ. Gewiss hatte Nachtatem sie geschickt. »Wir könnten sie gemeinsam suchen«, schlug Bidayn vor.
»Die Aussichten, sie zu finden, sind doppelt so gut, wenn wir uns aufteilen«, entgegnete ihre Meisterin. »Ist es deine Mission oder deine Liebe, die dich treibt, Gonvalon?«
Wieder hatte Bidayn das Gefühl, dass in den Worten eine Botschaft mitschwang, die ihr verschlossen blieb.
»Ich folge dem Befehl des Goldenen«, entgegnete Gonvalon harsch.
»Dann werden wir dir helfen, deine Mission zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Darf ich deinen Arm einmal sehen?«
Gonvalon antwortete nicht, hielt aber still, als Lyvianne behutsam die Hand nach ihm ausstreckte und auf seine Wunde legte. Die Züge der Elfe wurden weicher, fast mütterlich. Sie schloss die Augen. Das Blut, das zwischen ihren Fingern hervorgequollen war, versiegte. Bidayn war versucht, ihr Verborgenes Auge zu öffnen und dabei zuzusehen, wie Lyvianne auf das magische Netz wirkte. Was sie tat, um zu heilen.
»Nun solltest du für jeden Kampf gewappnet sein.« Lyvianne zog ihre Hand zurück. Gonvalons Arm war mit Blut verschmiert, aber die Wunde war verschwunden.
Er sah Lyvianne eigenartig an und fand kein Wort des Dankes für sie.
Bidayn verstand nicht, was zwischen den beiden vor sich ging. Waren sie einmal ein Paar gewesen? So zahlreich die Geschichten über Gonvalons Affären auch waren, nie hatte sie davon gehört, dass auch Lyvianne seine Geliebte gewesen war. Aber da war ein Band zwischen beiden, das konnte sie deutlich spüren. Vielleicht hatte der Goldene sie gemeinsam auf Missionen geschickt? Der Meister des Schwertes und die Meisterin der dunkleren Spielarten der Magie. Wer könnte diesen beiden trotzen?
»Wir sollten jetzt gehen«, entschied Lyvianne.
»Aber die Armbrustschützen. Sie werden uns töten, sobald wir am Eingang des Tunnels erscheinen«, begehrte Bidayn auf.
»Die Hitze bringt sie langsam um. Bald werden sie nicht einmal mehr ihre Waffen halten können.« In Gonvalons Stimme schwangen Mitgefühl und zugleich Verachtung. Sein Antlitz aber blieb ohne jede Emotion. Ein Widerspruch, der Bidayn verwirrte. Sie sah zu Lyvianne, die kurz verärgert wirkte, sich aber nichts mehr anmerken ließ, als sie Bidayns Blick bemerkte.
»Die Zwerge helfen uns, ihnen den Untergang zu bereiten. Komm mit und lerne!« Mit festem Schritt ging sie voraus und winkte dabei das seltsame Licht zu sich, das sich nun vor ihnen dem Ausgang des Tunnels entgegenwand.
Ein paar Schritte vor dem Ausgang hielt Lyvianne inne und bückte sich. Als sie wieder aufstand, lag ein Armbrustbolzen auf ihrer flachen Hand. »Öffne dein Verborgenes Auge, Bidayn.«
Die junge Elfe gehorchte. Das Halbdunkel des Tunnels wich einem strahlenden Netzwerk aus Linien. Lyvianne aber war ein wahrer Hort des Lichtes. Sie anzusehen schmerzte. Am hellsten leuchteten ihr Kopf und die Hand, auf der der Armbrustbolzen lag.
»Siehst du das blasse, hellblaue Band? Es führt von meiner Hand durch den Tunnel über den breiten Felsspalt hinweg.«
Bidayn brauchte eine Weile, bis sie die Lichtspur entdeckte, die vor dem hellen Licht der anderen Kraftlinien fast unsichtbar war. »Was hat es damit auf sich?«
»Sie führt zu dem Zwerg, der diesen Bolzen auf uns abgeschossen hat. Er hat uns den Tod gewünscht. Starke Gefühle beeinflussen das magische Netzwerk. Und er hat den Bolzen eine Weile in seinem Köcher mit sich herumgetragen. Alle Dinge, die wir nahe bei unserem Körper tragen, werden ein wenig von unserer Magie durchdrungen. In ein oder zwei Stunden wird die blaue Linie ganz verschwunden sein, denn es wurde nicht bewusst ein Zauber gewoben. Es ist wie mit einer Spur im Wüstensand. Sie verändert die Wüste nicht in ihrem Wesen. Die Sanddünen, den unerbittlich blauen Himmel. Nach ein paar Stunden hat der Wind sie ausgelöscht, für immer. Doch nun wollen wir das blasse Band zu dem hasserfüllten Schützen nutzen.« Lyvianne sprach ein Wort der Macht, das Bidayn schon kannte. Man konnte Wind damit herbeirufen oder verbannen.