Ihre Meisterin blies über ihre Hand, und der Bolzen flog davon, als sei er von einer unsichtbaren Armbrust abgeschossen worden. Sie hörte einen Schrei von jenseits der Felskluft.
Lyvianne nickte ernst. »Hass ist ein Gefühl, das sich gegen einen wenden kann.« Sie sah Bidayn an. »Such dir einen der Bolzen, die uns verfehlt haben, und tu es mir gleich. Aber webe deinen Zauber ohne jedes Gefühl. Weder Zorn noch Schadenfreude dürfen dich leiten, denn wie du gesehen hast, mag jede unserer Emotionen gegen uns verwandt werden.«
Bidayn wählte eines der Geschosse, die kaum beschädigt waren. Die steifen Lederflügel waren nur leicht verbogen. Die Eisenspitze ein wenig platt gedrückt, doch das Holz des dicken, kurzen Schafts nicht gesplittert. Dann suchte Bidayn nach der Verbindung zum Schützen. Nun, da sie wusste, worauf sie achten musste, fand sie die verblassende Kraftlinie schnell. Sie räusperte sich, konzentrierte sich ganz auf das Geschoss und stellte sich dabei vor, wie es entlang der Kraftlinie zum Schützen zurückflog. Leise murmelte sie das Wort der Macht. Es fühlte sich an, als ließe sie eine gespannte Bogensehne losschnellen. Der Bolzen schrammte mit den zähen Lederflügeln über ihre Hand und hinterließ eine blutige Furche. Die Dunkelheit verschlang das Geschoss. Im nächsten Augenblick erklang ein gellender Schrei.
Lyvianne legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Fast perfekt, meine Liebe.«
Gonvalon schwieg. Er wirkte bedrückt, als würde ihm der Kampf gegen die Zwerge nicht gefallen. Dabei waren sie doch Mörder. Sie waren es doch gewesen, die den Schwebenden Meister gemeuchelt und damit den Zorn der Himmelsschlangen heraufbeschworen hatten!
»Versuch es noch einmal, Bidayn.« Lyvianne drückte ihr einen weiteren Armbrustbolzen in die Hand. Sie selbst behielt drei Geschosse für sich, die sie nebeneinander auf ihre Hand legte und mit einem einzigen Befehl davonschnellen ließ.
»Das genügt!«, sagte Gonvalon harsch. Er stürmte dem Ausgang entgegen, während von der anderen Seite der Kluft Schmerzensschreie erklangen.
»Hoffentlich findet er Nandalee.« Bidayn packte ihr kurzes Schwert fester und wollte ihm folgen, doch Lyvianne hielt sie zurück.
»Wir helfen ihm am besten, wenn wir die Armbrustschützen beschäftigen.« Sie bückte sich, um nach weiteren Geschossen zu suchen.
»Aber Nandalee!«, begehrte Bidayn auf. »Wir haben versprochen, auch nach ihr zu suchen! Wir können doch nicht einfach …«
»Mit einem Armbrustbolzen in der Stirn hilfst du deiner Freundin nicht. Hast du vergessen, was ich gesagt habe? Zauberweber müssen kalten Herzens sein! Bekämpfe deine Gefühle. Wäre ich wie du, hätte uns das Klingengitter getötet.«
»Bedeutet es dir denn gar nichts, dass Nandalee gefunden wird?«
Lyvianne richtete sich auf und sah sie auf seltsame Art an. Die feinen, braunen Sprenkel in ihren grünen Augen schienen von innen heraus zu leuchten. »Du irrst, wenn du glaubst, dass mir Nandalees Schicksal gleichgültig ist. Es bedeutet mir sogar mehr, als du dir vorzustellen vermagst.«
Etwas an ihrem Tonfall jagte Bidayn einen eisigen Schauer über den Rücken. Da wusste sie, dass sie Gonvalon folgen musste. Sonst würde etwas Schreckliches geschehen. Ihr war klar, dass sie sich schon wieder von ihren Gefühlen leiten ließ. Sie eilte zum Tunnelausgang.
Die Zwerge, die den Saumpfad bewacht hatten, waren niedergemacht und Gonvalon im Dunkel verschwunden. Sie musste ihn einholen!
Wo die Amsel singt
Nandalees Erschöpfung war wie fortgewischt. Die Armbrust an ihrer Schläfe belebte noch einmal all ihre Kräfte. Sie ließ sich nach hinten fallen. Gleichzeitig schlug sie von unten gegen die Armbrust. Der metallische Klang, mit dem sich der Bogen entspannte, stach in ihre Ohren. Ein sengender Schmerz durchfuhr sie. Die Metallspitze des Bolzens pflügte durch ihr blondes Haar und riss es in Strähnen von ihrer Kopfhaut.
Nandalee hakte einen Fuß hinter die rechte Ferse des Zwergs. Mit dem freien Bein trat sie gegen sein Knie. Ein trockenes Knacken ertönte, als der Oberschenkelknochen aus dem Gelenk schnappte.
Die Elfe packte den Dolch eines der toten Zwerge am Kai und sah aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Sie schnellte herum und warf aus der Bewegung heraus den Dolch. Er fuhr einem großen, rotbärtigen Zwerg ins Auge. Neben ihm stürmte dessen Gefährte mit drohend erhobener Axt vor. Wie viele hatten sich nur tot gestellt? Nandalee sah vor ihrem geistigen Auge, wie sich alle Zwerge ringsherum erhoben und mit hasserfüllten Augen auf sie losgingen.
Sie versetzte dem Zwerg mit dem ausgekugelten Knie einen Hieb auf den Kehlkopf, der dessen Luftröhre zerquetschte. Sie durfte ihn nicht einfach hinter sich lassen. Selbst wenn er nicht mehr laufen konnte, hätte er immer noch seine Armbrust nachladen können. Tausendfach war ihr in der Weißen Halle eingeschärft worden, niemals einen Feind hinter sich zurückzulassen, von dem sie nicht ganz sicher wusste, dass er kampfunfähig war.
Ein Axthieb verfehlte sie knapp. Sie machte einen Satz zurück, trat auf einen Toten und geriet ins Straucheln. Sofort setzte der Zwerg nach. Hellgraue Augen strahlten hasserfüllt aus einem rot verbrannten Gesicht. Sein Bart war versengt und nur noch ein Schatten seiner einstigen Pracht. Ein Rückhandhieb der zweiblättrigen Axt schnitt über ihren Bauch. Es war keine tiefe Verletzung, aber eine deutliche Warnung, wie nahe sie dem Ende ihrer Kräfte war.
Nandalee wich weiter zurück, der Zwerg folgte ihr keuchend. »Dich weide ich aus, Kindsmörderin. Gewissenlose Drachenhure. Du Fehlgeburt einer räudigen Hündin.« Jeder Fluch wurde von einem Axtstreich begleitet.
Angst kroch ihr in die Glieder. Eigentlich war der Zwerg kein Gegner, den sie fürchten müsste, doch der Blutverlust schwächte sie. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie eine Gestalt versuchte, in ihren Rücken zu gelangen. Ein weiterer Zwergenkrieger!
Nandalee beugte sich vor. Mit einem verzweifelten Schrei riss sie einen toten Zwerg hoch und schleuderte ihn dem Angreifer entgegen. Der Axtkämpfer taumelte zurück und stürzte. Sein Helm fiel ihm vom Kopf und rollte klirrend über den Boden. Nandalee packte den eisernen Helm und schlug damit in das Gesicht ihres Gegners. Der erste Hieb verwandelte die Nase in eine unförmige, blutige Masse. Sie schlug weiter zu. Und weiter. Wie von Sinnen.
Ein gellender Schrei ertönte hinter ihr. Instinktiv duckte Nandalee sich, ließ den Helm fallen und griff nach der Axt des toten Zwergs. Sie warf sich zur Seite und schwang die Axt nach hinten. Sie spürte, wie sie etwas traf.
Mit einem Satz war Nandalee wieder auf den Füßen. Sie hob die Axt und drehte sich dabei. Hinter ihr stand eine Zwergenfrau mit einem Bündel auf dem Arm. In der Rechten hielt sie eine lange Haarnadel. Blut pulste aus einer klaffenden Wunde am Halsansatz, durchtränkte ihr schlichtes Leinenkleid und rann die speckige Lederschürze hinab, die sie um die Hüften trug. Mit weiten braunen Augen starrte sie Nandalee an. Voller Entsetzen. Die Haarnadel entglitt ihrer zitternden Hand. Ihr hochgesteckter Dutt aus schimmernd blondem Haar hatte sich halb aufgelöst und wurde nur noch von einer Haarnadel gehalten.
Die Zwergin ging in die Knie. Behutsam legte sie das Bündel vor sich auf den Boden. Die blaue, mit aufgestickten Äxten geschmückte Decke war voller Blut. Ein rosiges Gesicht, bedeckt mit zartem, schwarzem Flaum, lugte daraus hervor.
»Bitte …«, stammelte die Zwergin. »Bitte rette ihn …«
Nandalee fühlte sich, als bräche der Boden unter ihr ein. Sie hatte das Kind mit ihrem blinden Hieb nur knapp verfehlt. Fast wäre sie wirklich zur Kindsmörderin geworden.
Die Zwergin hob die Hände. Ihr Blick flackerte. »Hab Gnade …« Das Blut rann nur noch als dünnes Rinnsal aus der Wunde an ihrem Hals. Ihre Lippen bebten. Sie wollte sprechen, doch ihre Kraft reichte dazu nicht mehr aus. All die ungesagten Worte lagen in ihrem Blick, als ihre Augen glasig wurden und brachen.