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Nandalee kämpfte gegen Tränen. Was hatte sie getan! Sie presste die Linke auf ihren Bauch. Warmes Blut rann zu ihren Schenkeln herab. Nandalee suchte nach dem Wort der Macht, das ihre Wunde schließen konnte. Haut und durchtrennte Muskeln wieder zusammenwachsen ließ. Doch sie vermochte sich nicht auf das eine Wort zu besinnen. Sie musste ihre Wunden heilen, oder sie würde hier zwischen den Zwergen sterben. Der Tod war nahe.

Stattdessen starrte sie das Kind an. Es hatte große, graue Augen, ganz wie der Zwerg, der eben mit so verzweifelter Wut versucht hatte, sie zu töten.

Das Kind lächelte sie an. Sie, die Mörderin seiner Eltern! Ein leiser, unartikulierter Laut kam über seine Lippen. Heiße Tränen rannen Nandalee über die Wangen. Was hatte sie getan? Was geschah hier? War denn die ganze Welt verrückt geworden? Wo waren die Alben! Warum hatten sie die Himmelsschlangen nicht von diesem mörderischen Gemetzel abgehalten?

Sie sah sich um. Fast nur Frauen und Kinder lagen auf den Kais von Amalaswinthas verborgenem Hafen. Zerpflückte Blüten trieben auf dem Wasser, das nun still lag. Eine nasse, zerzauste Amsel hockte auf einem Holzpfahl, von dem ein zerrissenes Seil hing, und zwitscherte ihren Unmut in die stille Höhle hinein.

Nandalee sackte der Kopf auf die Brust. Ihr Blick verengte sich. Die Welt wich zurück, bis sie nur noch aus grauen Kinderaugen bestand. Die Drachen würden den Jungen töten, wenn sie hierherkamen. Auch die Drachenelfen. Sie mordeten nicht eine ganze Stadt, um dann ein kleines Kind entkommen zu lassen. Für ein Zwergenbaby war kein Platz in der Weißen Halle. Sie konnte es regelrecht vor sich sehen. Wahrscheinlich würde es einer ihrer Meister tun. Ein Dolchstoß, ohne Hass, ins Herz des Kindes. Es war genug unschuldiges Blut vergossen worden! Das durfte nicht auch noch geschehen!

Mit ihrer Verzweiflung kam die Erinnerung zurück. Das Wort der Macht fand von allein auf ihre Lippen. Wärme durchlief sie, versiegelte ihre Wunden. Doch all das verlorene Blut konnte sie nicht ersetzen. Sie war schwach. Noch einen Kampf könnte sie nicht mehr bestehen.

Sie schnallte einem der toten Zwerge den Waffengurt ab und warf ihn sich samt des kurzen Schwertes daran über die Schulter. Dann hob sie das Bündel auf und drückte das Kind an sich. Ein kurzer, glucksender Laut war ihr Lohn.

Beklommen sah sie sich um. Jetzt war sie auf der anderen Seite. Sie mochte noch im Körper einer Elfe stecken, aber sie würde kein Zwergenblut mehr vergießen. Zumindest nicht in dieser Nacht. Sie musste das Kind in Sicherheit bringen. Aber wo? Welchen Ort würden ihre Gefährten aus der Weißen Halle nicht finden?

Sie schlich sich fort vom Wasser. Suchte die Schatten. Nandalee dachte an das Gebilde aus Drähten in Amalaswinthas Studierzimmer. Da war ein Platz … Doch wenn sie diesen Ort aufsuchte, würde sie mit den Drachenelfen brechen. Dort würden sie sie nicht finden!

Sie blickte in die großen, grauen Augen und fluchte. Das war nicht der Weg, den sie gehen wollte. Aber sie würde kein Kind töten! Und auch dabei zusehen, wie es getötet wurde, würde sie nicht. Das hatte mit dem Auftrag Nachtatems nichts mehr zu tun. Dass alle Bewohner der Tiefen Stadt, auch die Frauen und Kinder, getötet wurden, hatte nichts mehr mit gerechtem Zorn zu tun. Das war Tyrannei!

Elfenblut

Ailyn kniete neben der Toten nieder. Zärtlich strich sie das blonde, blutverklebte Haar aus dem Gesicht. Ailyn hatte schon viel gesehen, doch der Anblick ihrer Schülerin schockierte sie. Ihr Rumpf war auf Brusthöhe durchtrennt, beide Arme abgehackt. Was war ihr widerfahren? Höchstens ein Jahr noch, und sie wäre zur Drachenelfe aufgestiegen.

Mit einem Seufzer stand die Meisterin auf und blickte zu den übrigen Toten. Drei weitere Schüler hatten sie bereits hierher in die weite, rußverschmierte Höhle gebracht. Decke und Wände waren über und über mit Amethysten bedeckt. Ein fettiger, schwarzer Schleier lag über den meisten Steinen. Es waren wohl viele Zwerge in dieser Halle gewesen, als die Flammenstrahlen durch die Luftschächte hinabgefahren waren. Ruß auf Edelsteinen war alles, was von ihnen geblieben war.

Ailyn ballte wütend die Fäuste. Sie hatten den Angriff schlecht vorbereitet. Von überall kamen Meldungen über Widerstand und Tote. Es waren viel mehr Zwerge in der Tiefen Stadt gewesen, als sie erwartet hatten. Und obwohl die Zwerge überrascht worden waren und wissen mussten, dass sie auf verlorenem Posten kämpften, leisteten sie überraschend hartnäckigen Widerstand. Es war ein Fehler gewesen, keine Gefangenen zu machen. Die Zwerge wussten darum! Kein Einziger hatte sich bislang ergeben. Sie kämpften wild und erbarmungslos wie eine verwundete Bärin, die ihr Junges gegen ein Rudel Wölfe verteidigt.

Dylan betrat die weite Höhle. Er trug einen weiteren Toten auf den Armen. Durell!

Schweigend brachte der Meister den Leichnam in die Mitte der Halle und legte ihn vorsichtig zu Boden. »Er wurde in den Rücken geschossen«, sagte Dylan mit tonloser Stimme. Nicht anklagend, eher resigniert. Sie alle wussten, dass ihr Angriff auf die Tiefe Stadt noch weit heimtückischer als ein Schuss in den Rücken gewesen war.

»Wo?«

Dylan blickte zu ihr auf. Seine Augen hatten eine silberfarbene Iris mit himmelblauen Einsprengseln. Ailyn hatte seinen Blick immer schon beunruhigend gefunden. Er war kein Mann des Schwertes, sondern ein Zauberweber, der sich ganz und gar den verborgenen Mächten verschrieben hatte. Eine Hingabe, die seinen Körper verändert hatte. Er war totenbleich und sein weißes Haar fein wie Spinnweben.

»Durell lag auf einem Saumpfad an der großen Kluft, die das Herz des Berges zerteilt. Etwa eine Meile von hier. Er hat einen guten Kampf geliefert. Ich habe ihn umringt von toten Zwergen gefunden.«

Ailyn nickte. Nicht gut genug, dachte sie. Sie waren in der Weißen Halle zu Meuchlern ausgebildet worden, doch das hier wuchs sich zu einer regelrechten Schlacht aus. Sie hätten ihre Kräfte nicht derart aufsplittern dürfen. Die Zwerge waren nicht in Panik geraten, wie sie erwartet hatten.

»Wie steht der Kampf um die Häfen?«

Dylans Blick wurde hart. »Es sind uns zwei oder drei Aale entkommen, fürchte ich. Aber alle Häfen sind nun besetzt, und die Weißen Schlangen verfolgen die Flüchtigen. Meine Schüler haben sich gut geschlagen. Insbesondere Eleborn.«

Ailyn nickte und blickte wieder zu den Toten. Nein, sie hatten sich nicht gut geschlagen, dachte sie und kämpfte gegen den Zorn an, der in ihr aufzuwallen drohte. Sie hatten die Leben ihrer Schüler unnötig in Gefahr gebracht. Der Angriff war schlecht durchdacht! Nie zuvor hatten die Himmelsschlangen ihnen befohlen, in eine solche Schlacht zu ziehen. Und nie zuvor hatte Ailyn so deutlich gesehen, wie wenig ihre Leben den großen Drachen bedeuteten.

Gonvalon betrat die Amethysthalle. Er sah die Toten und beschleunigte seine Schritte. Sie ahnte, wen er zu sehen fürchtete.

»Nandalee ist nicht bei ihnen.« Er wirkte nicht erleichtert, dachte Ailyn.

»Wundert dich das, Ailyn? Gonvalons Schülerin hat doch gar nicht an dem Angriff teilgenommen.« Eine Andeutung von Geringschätzigkeit schwang in Dylans Stimme mit.

»Sie ist hier«, widersprach Ailyn. »Der Goldene sucht ebenfalls nach ihr.«

»Der Goldene?« Gonvalon lächelte eigenartig. »Wann war er hier? Und in welche Richtung ist er gegangen?«

Sie deutete zu einem der Ausgänge, über dem ein Wappen mit einem schweren Hammer prangte. »Nach Westen. Dort, wo die Höhlen der Grobschmiede und Gerber liegen. Er ist noch nicht lange fort.« Ailyn war es ein Rätsel, warum die beiden nach Nandalee suchten, solange der letzte Widerstand der Zwerge noch nicht gebrochen war. Wenn eine der Schülerinnen der Weißen Halle ganz gewiss auf sich alleine aufpassen konnte, war es Nandalee.

»Die Schlacht um die Tiefe Stadt ist noch nicht entschieden, Gonvalon. In den Palästen bei der großen Kluft wird noch gekämpft. Wir können dort jeden erfahrenen Krieger gebrauchen.«