Die Angst gab ihm das Gefühl, dass sich sein Blut langsam in Eiswasser verwandelte. Es begann bei seinen Füßen, die sich anfühlten, als sei er barfuß durch ein Schneefeld gelaufen. Dann sprang die Kälte über in seine Wirbelsäule und breitete sich über seine Rippen aus, bis jeder Atemzug wie eisige Dolche in seine Lungen stach.
Oben war es still geworden. Ob die Kreatur die Werkstatt verlassen hatte? Oder kauerte sie inmitten der Trümmer und lauschte ihrerseits? Warum kam niemand, um die Bestie zu bekämpfen? Man musste sie doch weithin im Berg gehört haben. Von hier aus konnten sie nichts unternehmen. Wer über die Sprossen aus dem Brunnen stieg, war hilflos ausgeliefert. Man müsste Galars Höhle durch den engen Stollen stürmen, der vom Hauptgang abzweigte. Das war freilich auch ein Unternehmen, das Todesmut verlangte.
»Ich glaube, es ist fort.« Die Stimme der Elfe war nur ein leises Wispern. Es schien, als habe sie sich nicht von der Stelle bewegt.
»Was war das?«, fragte Nyr.
»Vielleicht ein Tatzelwurm … Ich weiß es nicht. Ich habe gehört, dass sich Tatzelwürmer am Angriff auf die Tiefe Stadt beteiligt haben.«
Hornbori traute seinen Ohren nicht. Ein Angriff auf die Tiefe Stadt? Was für eine Mär war das denn? Mit wachsendem Unglauben lauschte er der verworrenen Geschichte der Elfe.
»Ihr, die ihr die Mörder des Schwebenden Meisters seid, und dieses unschuldige Kind seid die einzigen Überlebenden in den Tunneln der Tiefen Stadt«, schloss sie ihre Geschichte.
»Glaubst du ihr, Nyr?«
»Ich weiß nicht …« Die Stimme des Richtschützen klang heiser. »Ich … Das kann doch nicht sein. Oder?«
»Glaubst du, sie würden alle umbringen, um ausgerechnet uns am Leben zu lassen? Das ergibt doch keinen Sinn! Das ist eine ganz und gar unglaubwürdige Geschichte. Sie ist nichts als eine freche Lügnerin.«
»Was würde ich mit dieser Lüge erreichen?« Die Stimme der Elfe klang schwach und gebrochen. Vielleicht war das der Grund, warum er die Lichter hatte löschen sollen. Er sollte nicht sehen, wie schwer verletzt sie war und wie ihre Kraft sie verließ. Sie waren zu dritt, sie allein und geschwächt. Sollten sie es wagen, sie anzugreifen?
»Du lügst, weil du Gefallen daran findest, uns zu quälen, bevor du uns tötest. So wie du Galar den Dolch durch die Kehle gestoßen hast, ohne ihn umzubringen. Wozu lernt man so etwas? Um seine Gegner zu quälen und zu demütigen. Du bist eine Drachenelfe, und du glaubst, wir hätten einen Drachen getötet. Welche Gnade hätten wir von dir zu erwarten? Nicht einmal einen schnellen Tod.«
Ein plötzliches Geräusch ließ Hornbori zusammenzucken. Eine Hand legte sich um seine Kehle. »Nyr! Sie ist bei …« Der Druck kräftiger Finger brachte ihn zum Verstummen.
»Du willst mir nicht glauben … Gut. Das ist deine Entscheidung, Hornbori. Aber halte mich nicht für dumm.« Sie griff unter sein Wams. Ihre Hände waren eiskalt.
Mit einem Ruck zerriss sie das Lederband, an dem das Amulett hing, das er bei dem weißen Drachen gefunden hatte.
»Das hier gehört mir. Der Schwebende Meister hat es mir einst abgenommen. Wenn du es trägst, musst du ihm wohl begegnet sein.«
Er wollte leugnen, doch sie drückte ihm noch immer die Kehle zu. »Spar dir deinen Atem, Zwerg. Ich weiß, was geschehen ist. Und ich gebe euch einen Rat. Verhaltet euch ruhig. Verlasst die nächsten zwei oder drei Tage diese Höhle nicht. Hier seid ihr sicher. Ich werde euch nicht verraten. Wenn diese Frist verstrichen ist, dann flieht, so weit euch eure kurzen Beine tragen. Und wagt euch nicht aus euren Höhlen heraus. Nehmt einen eurer Aale, denn oben auf dem Berg werden sicher noch Drachen lauern. Ihr schuldet mir vier Leben. Vielleicht werde ich eines Tages wiederkehren, um diese Schuld einzutreiben. Und versucht nie wieder einen Drachen zu töten. Wenn ihr aus diesem Loch kriecht, dann seht euch gut um in eurer Stadt und überlegt, ob das Gold für Drachenschuppen und Drachenblut diesen Preis wert gewesen ist.«
Sie ließ ihn los. Die Eindringlichkeit, mit der sie gesprochen hatte, ließ Hornbori zweifeln. Konnte es stimmen, was sie behauptete?
»Warum lässt du uns leben?«
»Meine Sippe ist fast ausgelöscht. Die Letzten von ihnen sind in einer Höhle gefangen, so wie ihr es seid. Vielleicht hoffe ich darauf, dass das Schicksal auch ihnen gnädig ist, wenn ich nicht das Blut Wehrloser vergieße.«
Das klingt ganz schön bescheuert, dachte Hornbori. Wahrscheinlich hatte Galars Axthieb mehr Schaden angerichtet, als er anfangs gedacht hatte. Aber er würde sich hüten, das laut auszusprechen.
»Wir sind nicht wehrlos, Elfe«, röchelte Galar. »Ich sitze hier und halte einen Dolch in der Hand. Und der wird gleich in deiner Kehle stecken. Mach Licht, Schisser, damit ich das Luder sehen kann.«
Hornbori tastete nach seinem Gürtel. In einem Lederbeutel verwahrte er Feuerstein, Stahl und Zunder. Bald hatte er einen Holzspan entzündet und damit wiederum den Docht einer Öllampe.
Die Elfe war verschwunden. Kleine Wellen schwappten über den Rand des Loches, das zum Brunnenschacht führte.
»Hah, verpisst hat die sich. Wusste wohl, dass jetzt Schluss mit lustig ist.« Galar hielt den Dolch in seiner Rechten. Die Linke presste er auf seine Kehle. »Die hätte ich fertiggemacht.«
»Glaubst du, es stimmt, was sie gesagt hat?«, fragte Nyr beklommen.
»War nicht ganz bei mir«, krächzte Galar. »Sie hat was gesagt? Elfen lügen, wenn sie das Maul aufmachen. Das ist die einzige Wahrheit, an die man sich bei ihnen halten kann.«
Gefunden
Mit letzter Kraft zog sich Nandalee über den Brunnenrand und ließ sich zu Boden fallen. Sie war froh, den Zwergen entkommen zu sein. Sie fühlte sich schwindelig, und mit ihren Augen stimmte etwas nicht. Sie hatte das Gefühl, zwei Bilder zu sehen statt einem. Beide überlagerten einander. Das machte sie ganz verrückt! Immer wieder kniff sie die Augen zusammen und blinzelte, aber es wurde nicht besser.
Sie tastete nach dem Brunnenrand und zog sich hoch. Verdammte Zwerge! Sie hatte den Axthieb zu spät kommen sehen. Ohne das Kind auf dem Arm wäre ihr das nicht passiert. Wer griff eine Frau mit … Sie! Unvermittelt schossen ihr Tränen in die Augen. Heute war ihre Welt aus den Angeln geraten. Der Angriff auf die Tiefe Stadt war barbarisch gewesen. Ein Verbrechen. Und ganz gleich, wie sehr sie über die Zwerge fluchen mochte, nicht sie waren es, die dieses Verbrechen begangen hatten. Die Himmelsschlangen hatten jedes Maß verloren. Wie hatten seine Nestbrüder Nachtatem nur die Zustimmung zu diesem Massaker abringen können?
Schwankend kämpfte sie sich dem Tunnel entgegen. Alles, was in der Werkstatt nicht verbrannt war, war zerschmettert worden. Der Boden war mit Glas und zersplittertem Holz bedeckt.
Es wurde schlimmer mit ihren Augen. Sie sah alles doppelt. Nichts fügte sich mehr zusammen. Die Welt war zerbrochen in jene, die sie kannte, und eine neue, dunklere Welt, die heute geboren worden war.
Nandalee war froh, als sie den Tunneleingang erreichte und sich an der Wand entlangtasten konnte. Sie schloss die Augen. Stechende Schmerzen peinigten sie. Es fühlte sich an, als sei ein Stück der Zwergenaxt abgesplittert und stecke mitten in ihrem Kopf.
Sie versuchte sich gegen alles zu verschließen und dachte an die Nächte im Wald mit Gonvalon. Daran, wie sie sich auf dem Lager aus Moos geliebt hatten, und an seine Küsse auf ihrer Haut. Sie erinnerte sich, wie oft sie mit den Fingern über die große Tätowierung auf seinem Rücken gestrichen hatte. Das Bild des Goldenen, der sich um ein Schwert wand. Warum hatte sich Gonvalon ausgerechnet ihm verschrieben?
Sie schob den Gedanken von sich. Ihr Körper war ihr Last genug, sie musste sich nicht auch noch mit Fragen quälen, die sie nicht beantworten konnte. Sie ließ sich treiben. Wie eine Schlafwandlerin irrte sie durch die Tunnel, hatte jedes Gefühl für Raum und Zeit verloren.
Plötzlich fühlte sie sich leicht. Die Erinnerung an die Schrecken war in weite Ferne gerückt. Heute war ein Tag, an dem sich Albenmark für immer verändert hatte. Und sie hatte einen Anteil daran gehabt. Die Herrschaft der Drachen war gefestigt. Das war gut so!