Nandalee schlug die Augen auf. Helles Licht blendete sie. Sie befand sich in einer weiten Halle, deren Decke von mit Wappen geschmückten Säulen getragen wurde. Nur ein paar Schritt vor ihr stand ein hochgewachsener Elf mit langem Haar, golden wie die Sommersonne.
Mir scheint, die Zwerge haben Euch übel mitgespielt, Dame Nandalee.
Sie blinzelte heftig und versuchte die beiden Bilder, die ihre Augen ihr vorgaukelten, zu einem werden zu lassen. Vergebens.
Es war nicht Nachtatem, der zu ihr sprach. Ihr Gegenüber unterschied sich vom Erstgeschlüpften wie der Tag von der Nacht. Seine Stimme war Verheißung. Er würde den Schmerz von ihr nehmen. Allein ihn anzublicken linderte ihre Schmerzen. Wer ihn sah, wusste, die Zukunft war ein Land von Milch und Honig, wenn man mit ihm ging. Und Nandalee wurde klar, wer dort in Elfengestalt vor ihr stand.
Ihr seid eine Gefahr für meinen ältesten Bruder, meine Dame. Vielleicht liegt es an Eurem bewundernswerten Willen weiterzukämpfen, wo jeder andere sich längst in seine Niederlage gefügt hätte. Wie mir scheint, habt Ihr dies auch heute getan.
Sein Zweifel an ihr brach ihr Herz und machte seine Worte zu einem schleichenden Gift. »Ich war Nachtatem immer treu«, sagte sie mit einer Inbrunst, die ihrer völligen Erschöpfung Hohn sprach.
Ihr werdet ihn in Zukunft hintergehen, Nandalee. Seinen Glauben an Euch auf die niederträchtigste Weise zerstören. Ihr könntet natürlich auch mich erwählen. Das würde meinen Bruder retten, und uns wäre eine ganz andere Zukunft bestimmt. Kommt mir einen einzigen Schritt entgegen, und unser Pakt ist besiegelt.
Alles würde sich zum Besten auflösen, wenn sie ihm folgte. Sie musste ihn nur ansehen, um das zu wissen. Ansehen … Nandalee schloss die Augen. Sie konnte Nachtatem doch nicht einfach so hintergehen! Er hatte sie erwählt. Er wollte sie unter seinen Drachenelfen aufnehmen, das wusste sie ohne jeden Zweifel. Und sie würde ihm immer treu sein! Der Goldene wollte sie versuchen. Sie würde Nachtatem niemals hintergehen. »Wie könntest du mir jemals trauen, wenn unser Bündnis mit einem Verrat beginnen würde?«
Wie könnte ich Euch nicht vertrauen, wenn Ihr mir durch Euren Schritt beweist, dass Ihr für mich bereit seid aufzugeben, was Euch am meisten bedeutet, Dame Nandalee?
Nie hatte sie in Gegenwart Nachtatems so empfunden wie jetzt. Sie wollte sich unterwerfen. Dem Goldenen zu folgen würde sie glücklich machen! Oder wob er einen Zauber? Nein, wie konnte sie das unterstellen!
Was ist Eure Überzeugung? Wofür sollte eine Drachenelfe einstehen, Dame Nandalee?
»Für eine Welt, in der es Tage wie diesen nicht geben darf«, antwortete sie, ohne zu zögern.
Ihr meint eine Welt, in der Mörder nicht fürchten müssen, dass ihre Taten bestraft werden?
»Heute sind Hunderte Unschuldige gestorben. Ist das die Gerechtigkeit der Himmelsschlangen?«
Wie lange währt Euer Leben bereits? Dreißig Winter? Oder sollten es gar fünfzig sein? Ich lebe seit mehr als dreißig Jahrhunderten. Und Ihr wollt mich lehren, was Gerechtigkeit ist? Er lachte. Ein perlender Schauer, der ihr durch die Glieder tanzte. Liegt der Widerspruch in diesem Unterfangen nicht auf der Hand?
»Nur wenn man nach dreißig Jahrhunderten aufgegeben hat, noch Neues lernen zu wollen.«
Es ist die Arroganz der Jugend zu glauben, dass es Neues in der Welt gibt, Dame Nandalee. Das Alter wird Euch lehren, wie grundlegend Ihr Euch irrt.
Sie war überrascht, wie gelassen er ihre Vorwürfe aufnahm. Ja, in seinen Gedanken lag nun eine Melancholie, die ihr Herz berührte. Doch wie konnte ihn das Massaker kaltlassen? »Welchen Nutzen hatte dieser Tag? Ist eine Welt, in der die Furcht regiert, das Ziel, für das wir streiten?«
Fürchtet Ihr das Feuer?
Die Frage brachte sie durcheinander. »Nein«, antwortete sie zögerlich.
Und doch würdet Ihr nicht hineingreifen, weil Ihr wisst, dass Ihr Euch verbrennen würdet. Das ist das Bild unserer Herrschaft, meine Dame. Wir schenken denen, die uns folgen, Licht und Wärme. Eine sichere Welt mit festen Regeln, in der jeder auf unseren Schutz vertrauen darf, der sich an diese Regeln hält. Seht mich an. Bin ich ein Tyrann? Auch ich bedauere, was heute geschehen musste.
Nandalee wusste, sie würde aufhören seine Gedanken zu hinterfragen, wenn sie ihn noch einmal ansah. Sein Glanz würde sie blenden. Wie konnte ein so wundervolles Geschöpf, wie er es war, irren? Ein Wächter, dem die Alben ihre Welt anvertraut hatten! Wenn er irrte, hatten dann nicht auch die Schöpfer Albenmarks einen Fehler begangen, indem sie es ihm überließen zu entscheiden, was Recht und was Unrecht war? War das möglich?
»Ist nicht das Ende aller Freiheit erreicht, wenn jeder, der Euch zu nahe tritt, verbrennen muss?«
Was für ein Unsinn!
Sein Zorn traf sie wie ein sengender Blitzschlag. Sie taumelte zurück, brach in die Knie.
Freiheit! Das ist nichts als eine absurde Idee von Schöngeistern. Was die Kinder Albenmarks wirklich wollen, ist Sicherheit. Und das bedeutet, sich in Regeln zu fügen. Die Zwerge haben sich die Freiheit genommen, den Schwebenden Meister zu töten. Jenen Drachen, dem Ihr Euer erstes Verständnis um die Magie in dieser Welt verdankt. Er war eines der ältesten Geschöpfe dieser Welt. Er war weise. Einzigartig. Wie steht es um seine Freiheit zu leben, Dame Nandalee? Haben die Zwerge ihm dieses Recht zugestanden? Haben sie durch ihren feigen Mord nicht all ihre Rechte verwirkt?
Sein Zorn umhüllte sie wie Flammen, gegen die kein Schutzzauber half.
Ihr stellt Euch auf Seiten dieser Mörder, Dame Nandalee? Ihr, die Ihr einmal eine Drachenelfe sein wollt! Ihr seid eine Enttäuschung. Ich begreife nicht, was mein Nestbruder in Euch sieht. Für mich seid Ihr eine Verräterin.
Es war mehr das Gefühl, das die Worte begleitete, als deren Inhalt, das Nandalee in einen Abgrund der Verzweiflung stürzte. Was hatte sie getan? Wie hatte sie es wagen können, sich gegen die Himmelsschlangen aufzulehnen? Seine Abneigung und Enttäuschung zu spüren nahm ihrem Leben jeglichen Sinn. Alle Kraft, mit der sie sich während der Kämpfe in der Tiefen Stadt gegen den Tod aufgebäumt hatte, wich von ihr. Sie sank gänzlich in sich zusammen. Als sie Schritte hinter sich vernahm, brachte sie nicht einmal mehr den Willen auf, sich umzusehen.
»Ich grüße Euch, Schwertmeister. Ihr habt ein unvergleichliches Gespür für den Auftritt im rechten Augenblick. Nun könnt Ihr den Auftrag, den ich Euch erteilte, gleich unter meinen Augen erfüllen.« Der Goldene hatte in die Sprache der Elfen gewechselt. Seine Stimme war volltönend und weich.
»Eure Wünsche sind mein Leben, Meister«, hörte sie Gonvalon ohne jede Emotion antworten. Sie brauchte sich nicht umzusehen, um zu wissen, dass er jetzt sein Schwert hob. Er würde nur einen Hieb benötigen. Sie würde es kaum spüren.
Am Ende des Weges
Gonvalon hob die Klinge, bereit zum Schlag. Er nahm den tiefen Stand des erfahrenen Schwertkämpfers ein, leicht in den Knien federnd. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Schützend stellte er sich vor Nandalee. »Diesen einen Befehl muss ich verweigern, Meister. Ich weiß, dass Nandalee sich nicht gegen die Himmelsschlangen gestellt hat. Sie ist eine Novizin der Weißen Halle, und ich bin ihr Meister. Ich bin verpflichtet, sie zu schützen. Und ich liebe sie. Eher richte ich mein Schwert gegen mich als gegen sie. Denn wenn sie stirbt, wird auch mein Leben zu Asche geworden sein.«
Er sah den Goldenen herausfordernd an, wohl wissend, dass seine Macht im Vergleich zu der des Drachens der eines welken Blattes gleichkam, das sich entschlossen hatte, den Stürmen des Herbstes zu trotzen.