»Und was veranlasst dich dazu zu glauben, dass ich dich auch nur anhören werde?«
»Du meinst neben der Tatsache, dass du vor mir stehst?« Kolja löste eine lange, blonde Haarsträhne von seinem Gürtel und reichte sie dem Priester.
Der Zapote strich sanft über das Haar. »Wie viele?«
»Siebzehn. Allesamt kräftige Männer. Sechs von ihnen sind verwundet. Aber das ist nichts Ernstes. Die erholen sich schon wieder.«
Der Priester wand die Haarsträhne um seinen Arm. »Du weißt, dass sie freiwillig das weiße Tor durchschreiten müssen. So verlangen es unsere Gesetze.«
»Das bekomme ich hin. Keine Sorge. Sie werden mit Freuden zu euch kommen. Es hat sich ja noch nicht allgemein herumgesprochen, dass ihr …« Kolja stockte. Eigentlich hätte er es gerne ganz direkt angesprochen. Er mochte es nicht, wenn man die Dinge nicht beim Namen nannte. Aber die Zapote waren da erstaunlich zimperlich. » … dass ihr blonden Männern und Frauen eine ganz besondere Gastfreundschaft angedeihen lasst.«
»Sie treten unseren Göttern gegenüber. Das ist die höchste aller Ehren«, sagte der Priester in einem Tonfall, als würde er gerne mit ihnen tauschen wollen.
Verlogener Bastard, dachte Kolja und lächelte. »Denkst du, dass wir ins Geschäft kommen?«
»Das hängt davon ab, was du möchtest.«
Kolja schilderte es ihm. Diesmal ganz direkt und ohne Ausflüchte.
Der Königsmörder
Barnaba war in Schweiß gebadet. Die Sonne brannte gnadenlos auf die Felsen. Seine wunden Fingerkuppen drängten in einen Felsspalt. Sie würden das ganze Gewicht seines Körpers halten müssen. Einen Herzschlag lang nur, aber er war erschöpft.
Vorsichtig hob er den rechten Fuß. Er kam nicht hoch genug, um den nächsten sicheren Tritt zu erreichen. Nur die Kraft seiner Arme konnte noch helfen. Er keuchte. Presste sich an den heißen Fels. Spannte die Armmuskeln mit aller Kraft. Endlich fanden seine Zehen einen Halt. Wieder nur ein schmaler Spalt, aber das musste genügen. Er schob den rechten Arm vor, schaffte es, über den Grat eines Felssimses zu greifen, und fand diesmal einen guten Halt. Mit letzter Kraft zog er sich hoch.
Keuchend lag er ausgestreckt auf dem Geröll, das sich auf dem Sims gesammelt hatte. »Wir sind verrückt«, sagte der Priester leise und blickte zur Sonne hinauf, die wie eine gelbweiße Wunde im stahlblauen Himmel prangte.
Er hatte es mit Beten versucht. Hatte versucht, sich tief in Meditation zu versenken und den Göttern nahe zu sein. Doch ihm blieb stets nur er selbst. Seine aufgewühlten Gefühle. Der Zorn über die Priestermorde Aarons und dass der Löwenhäuptige so gleichmütig darauf reagierte, dass man seine treusten Diener ermordet hatte. Was für Götter waren die Devanthar? War es zu viel verlangt, von ihnen Anteilnahme zu erwarten und Schutz? Waren solche Gedanken Göttern fremd?
»Lass uns ehrlich sein. Es sind nicht die Götter allein.« Er drehte sich um und blickte ins Tal hinab. Da war niemand. Natürlich nicht! So war es immer. Und doch … Er hätte jeden Eid geschworen, dass ihn etwas beobachtete.
»Ja, etwas! Aus Fleisch und Blut ist es nicht! Es ist unsichtbar. Aber es ist hier! Die ganze Zeit über.«
Vielleicht gab es ja doch Geister? Er hatte so lange mit Steinen auf die Augen in seiner Höhle eingeschlagen, bis sie spurlos vom Fels verschwunden waren. Diese unheimlich grünen Augen. Aber nichts war besser geworden. Manchmal ließ das Gefühl, beobachtet zu werden, für Stunden oder sogar einen ganzen Tag nach. Dann war es wieder da. Vor allem, wenn er versuchte zu meditieren. Vielleicht waren seine Sinne dann empfänglicher für das Verborgene. Wenn er auf seinem Lieblingsfelsen saß und ganz in sich selbst versunken nach einem Band zu den Göttern suchte, war das Gefühl, angestarrt zu werden, am stärksten. Wenn er sich hingegen die steilen Felsen hinaufkämpfte, dem Tod ins Antlitz lachte, indem er gefährlichere Aufstiege suchte und bis zur völligen Erschöpfung mit den Steilwänden rang, fand er endlich seinen Frieden und war allein mit sich.
Vielleicht war das ja die Antwort der Götter? Keine Flammenschrift auf einer Wand, keine Stimmen im Dunkel, kein Devanthar, der in seiner übermenschlichen Pracht vor ihm erschien. Einfach nur die Tatsache, dass er allein beim Klettern Frieden fand, das war die Botschaft. Und jener Gedanke, der ihn seit Tagen umtrieb. Er könnte an Aaron herankommen, wenn er es über die westliche Palastmauer versuchte. Sie war zwar sehr hoch, aber nicht gut in Schuss. Der Putz war von den Lehmziegeln abgebröckelt. Man könnte im Winkel zwischen einem der Wachtürme und der Mauer hinaufsteigen, wenn man mutig war und die Kraft und das Geschick hatte, mit Fingern und Zehen allein in den Fugen Halt zu finden. Von dort war es nicht weit zur westlichen Palastterrasse, an der die Gemächer des Unsterblichen Aaron lagen. Im Schlafgemach musste Aarons Schwert sein. Eine Waffe, dazu geschaffen, selbst das Leben eines Unsterblichen zu beenden.
»Wir sind hier, um zu üben«, murmelte Barnaba und setzte sich. »Das ist das ganze Geheimnis. Dieses Tal ist dafür ideal. Wenn wir diese Felswände erklimmen können, wird der Aufstieg an der Palastmauer ein Leichtes sein.« Er war dazu geboren, ein Königsmörder zu sein! Und dieses Tal würde ihm die Fähigkeiten schenken, die er brauchte, den Mord zu begehen.
Barnaba betrachtete den nächsten Abschnitt der Felswand. Es gab hier weniger Griffe, dafür war die Wand leicht geneigt. Er würde sich gut an sie drücken können. Der Priester ballte seine Hände zu Fäusten und streckte die Finger dann, bis die Gelenke knackten. Dieses Stück noch, dann würde er sich einen leichten Abstieg suchen und ein kühles Bad unter dem Wasserfall nehmen. Er hatte sich an das eisige Wasser gewöhnt. Er war härter geworden und entfernte sich immer weiter von seinem alten Dasein als Priester.
Barnaba streckte sich der Wand entgegen. Seine Linke ertastete einen Spalt. Einen guten Griff. Er stieß sich ab, zog sich mit Schwung hoch. Sein rechter Fuß fand einen kleinen Vorsprung. Der linke Arm schnellte vor. Seine Finger schlossen sich um eine kugelige Felsnase. Es war fast zu leicht. Schnell arbeitete er sich weiter. Doch plötzlich gab es keinen Griff mehr. Er blickte zurück und stellte fest, dass er in seinem Eifer von der Route abgewichen war, die er geplant hatte.
Ein Stück über seinem Kopf gab es eine Delle im Fels. Nicht ideal, aber besser als nichts. Es reichte, wenn er einen Wimpernschlag lang genug Halt fand, um sich höherzustemmen. Links über ihm gab es eine Bruchkante im Gestein. Dort würde er sich hochziehen.
Barnaba blickte zurück. Abwärtszuklettern fand er stets schwieriger. Ihm wurde bewusst, dass er in seinen Tagträumen immer nur so weit geplant hatte, bis er Aaron das Schwert in die Brust stieß. Eine Flucht war nie vorgekommen. Er kümmerte sich nicht gut genug um das Zurück.
»Das erledigen wir später. Was zählt, ist die Tat. Wenn sie uns danach entdecken, was bedeutet das schon.«
Er stieß sich ab. Schnellte hoch und rammte seinen linken Handballen in die Delle im Fels, um sich sofort ein zweites Mal abzustoßen. Sein rechter Arm schnellte hoch, griff nach der Bruchkante. Wind und Eis hatten die Delle glatt geschliffen. Seine verschwitzte Hand rutschte aus der flachen Höhlung, bevor er mit der rechten sicheren Halt fand.
Er schlug mit der Brust vor den Fels, schlitterte eng an die Wand gepresst abwärts. Er versuchte irgendwo Halt zu finden, fluchte. Jetzt rutschte er schneller. Ein kleiner Vorsprung rammte seinen Rippenbogen. Er drehte sich ein Stück zur Seite.
Vielleicht fünf Schritt unter ihm war das Sims, auf dem er eben gerastet hatte. Dort würde er sicher landen … Redete er sich ein. Feine Furchen zwischen den Gesteinsschichten schmirgelten seine Haut fort. Sein ganzer Brustkorb war ein brennender Schmerz. Immer noch versuchte er verzweifelt, mit Händen und Füßen einen Halt zu finden. Aus den Augenwinkeln sah er die rote Schleifspur, die er auf der Felswand zurückließ.