Sein linker Fuß landete auf dem Sims. Geröll rutschte zur Seite und stürzte klackernd in die Tiefe. Sein Fuß knickte um. Mit rechts fand er auch keinen Griff. Er rutschte mit den Gesteinstrümmern. Glitt vom Sims, drehte sich ein wenig und stürzte rückwärts, ohne dass er noch Gelegenheit fand, nach einem Halt zu greifen.
Er schlug mit der Schulter gegen die Felswand. Drehte sich ein Stück, blickte nach hinten. Er war fast … Der Aufprall presste ihm die Luft aus den Lungen. Er versuchte zu atmen, doch sein Körper verweigerte sich ihm. Er japste. Die Luft wollte nicht in seine Lungen! Es war, als wolle er schlucken, doch der Bissen saß unverrückbar im Hals.
Dann kam der Schmerz. Ein bohrender Schmerz, als fahre eine heiße Klinge durch seinen ganzen Leib. Nie zuvor hatte er etwas gefühlt, was diesem Schmerz auch nur entfernt ähnlich gewesen wäre. Er bäumte sich in seiner Pein auf und sah sein Bein. Zwei blutige Knochen ragten aus seinem Fleisch, wo sein Schienbein hätte sein sollen.
Er schrie. Schrie, dass sein Schmerz bis in den letzten Winkel des Tals hallte. Und mit den Schreien kam der Atem zurück. Keuchend. Blut und Geifer rannen ihm über die Lippen. Heiße Tränen benetzten seine Wangen. Er versuchte sich herumzudrehen. Sein ganzer Körper schien in Flammen zu stehen, so marterte ihn die Pein der geschundenen Glieder. Und alle Kraft hatte ihn verlassen. Er konnte sich nicht hochstemmen. Seine Gelenke waren gestaucht, sein rechter Ellenbogen ausgekugelt, sodass sein Unterarm in einem unnatürlichen Winkel verdreht war. Die Götter hatten ihn zerbrochen. Nein … Er wusste es besser. Sein eigener Hochmut hatte ihn zu Fall gebracht. Er würde hier zwischen den Felsen liegen und sterben. Niemand würde ihn je finden. Die Sonne würde seine Knochen bleichen. Und wenn er nicht verblutete, würde sie das Leben aus ihm herausbrennen.
Er drehte den Kopf zur Seite. Zwanzig Schritte wären es bis zum Teich. So wenig … Erneut versuchte er sich hochzustemmen. Er spürte im linken Arm, auf dem er sich aufstützte, zwei Knochen gegeneinanderreiben, und sackte zurück. Er musste es schaffen. Am Wasser würde er überleben! Bestimmt! Und die Wilden aus den Bergen würden ihn suchen kommen. Er hatte nächste Woche ein Treffen in einem tiefer gelegenen Tal vereinbart. Sie brachten ihm ihre Kranken, und sie lauschten gerne seinen Worten über Russa, den Herren der Blitze und Stürme. Sie würden ihn suchen, wenn er nicht kam … Nein, er wusste es besser. Sie würden es nicht wagen, ihn in der Einsamkeit dieses Tals zu stören. Für sie war dies ein verfluchter Ort. Er musste zum Wasser kommen, seine Wunden kühlen … Er musste es aus eigener Kraft schaffen! Er versuchte sich hochzustemmen. Erneut schrammten die gesplitterten Knochenenden übereinander. Er stieß ein schrilles, tierhaftes Kreischen aus und sackte in sich zusammen. Tränen standen ihm in den Augen. Er atmete flach und hechelnd, betete, dass die Pein endlich enden möge.
Doch der Schmerz hielt an, obwohl er den Arm nicht mehr belastete. Rollte wie eine Woge durch ihn, ertränkte sein Bewusstsein und riss ihn hinab in die Dunkelheit.
Schuld
Volodi blickte zurück zu der breiten Straße, die ihn zum Ankerplatz der Lotsen gebracht hatte. Es war früher Abend, erste Lichter wurden entzündet. Überall waren Menschen. Nacktrattenfänger, die ihre Beute auf langen Ruten zur Schau stellten und an die Dienerinnen reicher Damen verkauften, die damit die verwöhnten Hauskatzen und Hunde fütterten. Wasserhändler und Brotbäcker, die ihre Sesamkringel auf Holzgerüsten auf dem Rücken trugen. Abwasser in schillernden Regenbogenfarben umfloss Volodis Füße. Weiter oben an der Straße hatten sich Färber niedergelassen, die ihre bunten Leintücher in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne zum Trocknen aufgespannt hatten.
Volodi konnte nichts Verdächtiges entdecken, und doch hatte er das Gefühl, verfolgt zu werden. Dass man ihn zusammen mit Kolja beim Kampf gegen die Luden gesehen hatte, mochte reichen, um ihm die Aufmerksamkeit von Meuchlern einzubringen. Heute Nacht lief die Frist für seinen Freund ab. Dann würde er bei ihm die Zinnernen einfordern. Noch vor dem Morgengrauen wollte er die Goldene Pforte passieren und zum Heerlager des Unsterblichen Aaron auf die Ebene Kush zurückkehren.
Nangog war ihm unheimlich. Er hatte im Palast davon gehört, dass die Grünen Geister mit verzweifeltem Zorn die magischen Wälle der Goldenen Stadt bestürmten. Es hatte in den Provinzen mehrere schwere Erdbeben gegeben, und eine Sturmflut hatte die Küste im Norden verheert. Auch waren in den letzten Monden drei Wolkenschiffe verschwunden. Dies war ein Grund, warum er den Lotsen Nabor aufsuchen wollte, bevor er die Stadt verließ. Es ging etwas vor sich. Volodi konnte das mit jeder Faser seines Leibes spüren. Eine Spannung lag in der Luft, die er nicht empfunden hatte, als er Nangog verlassen hatte.
Er trat vor das einzige Tor in der hohen Mauer, die den Lagerplatz der Freihändler abschirmte. Aus schweren Eichenbohlen gezimmert und mit Nägeln zusammengefügt, deren faustgroße Bronzeköpfe schimmernd aus dem dunklen Holz ragten, war es abweisend und eindrucksvoll zugleich. Mit Speeren bewaffnete Krieger standen im Schatten des Tores. Sie strahlten die Gelassenheit jener aus, die seit Langem den Tod zum Geschäft hatten und niemanden mehr mit ihrem Auftreten beeindrucken wollten.
Volodi ging geradewegs auf sie zu. Blicke taxierten ihn. Er war bewaffnet, trug einen Bronzekürass und einen federgeschmückten Helm unter den Arm geklemmt. Um seine Hüften war ein Leopardenfell geschlungen, seine Sandalen waren mit dem Schleim der Purpurschnecken gefärbt. Sein Bart und sein goldenes Haar waren frisch gestutzt. Er hatte sogar Duftwasser aufgelegt. All dies folgte einzig dem Zweck, dass sich das Eichentor für ihn öffnen sollte, denn üblicherweise wurden nur Lotsen zur Schwebenden Halle vorgelassen.
Eine der Torwachen, ein stämmiger, in die Jahre gekommener Krieger mit schütterem Silberhaar und den Narben vieler Kämpfe auf den bloßen Armen, trat ihm entgegen. »Wohin führt Euer Weg, Herr?«, fragte ihn der Hauptmann in der Sprache Arams.
»Bin mich Volodi, Hauptmann von Palastwache von Unsterblichen Aaron. Will ich sehen Lotsen Nabor. Ist sich in Schwebender Halle, ich weiß!« Wie er es hasste, sich in dieser fremden Sprache die Zunge zu verbiegen!
»Ich werde dem Lotsen diese Nachricht überbringen lassen. Er wird sich sicherlich schon morgen im Palast Arams einfinden.«
»Muss ich sprechen ihn sofort! Ist sich Wunsch von Unsterblichen. Duldet das keinen Einschub!«
»Da Ihr meines Wissens nicht zur Zunft der Lotsen gehört, ist es mir nicht gestattet, Euch zur Schwebenden Halle vorzulassen.«
Volodi musterte den alten Krieger vom Scheitel bis zur Sohle. »Wie lautet sich sein Name? Muss ich wissen, Namen von Mann, der Wunsch von Unsterblichem Aaron tritt sich mit Füßen.«
Der Krieger gab sich Mühe, unbeeindruckt zu wirken. »Ich kann einen Boten schicken. Sollen die Lotsen entscheiden, ob sie Euch Eintritt gewähren wollen. Es liegt mir fern, den Unsterblichen Aaron verärgern zu wollen, doch bin ich durch Eid gebunden, nur Lotsen und von ihnen geladene Gäste dieses Tor passieren zu lassen.«
»Dann mach er sich schnell. Ist mich Zeit nicht ganze Nacht.«
Der Kommandant der Wache presste die Lippen zusammen. Er drehte sich auf dem Absatz um und ging zum Tor, in dem kurz eine Mannpforte geöffnet wurde, eine kleine Tür innerhalb des Tores, durch die eine der Wachen davoneilte.
Volodi konnte sich gut vorstellen, was die Männer von ihm hielten. Er hatte sich wie ein ausgemachter Mistkerl aufgeführt. Sich hinter dem Namen des Unsterblichen versteckt. Aber er wollte Nabor sehen. Eine Sache musste er wissen, bevor er nach Nangog zurückkehrte. Was aus Mitjas Tochter geworden war. Der Tochter des Übersetzers vom Platz der tausend Zungen, dem er so viel Unheil gebracht hatte.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich die Mannpforte wieder öffnete. Eine Zeit eisigen Schweigens.