Nabor machte eine vage Geste. »Eigentlich nur eine von vielen Legenden hier. Manche nennen sie auch Walhirten oder Seeherrscher. Welcher Name ihnen gerecht wird, vermag ich nicht zu ermessen. Der, den ich gesehen habe, stieg im Delta des Sepano aus den Fluten, und ich war froh, dass wir mehr als tausend Schritt hoch geflogen sind. Er war riesig. Halb ein Krake und halb … Er hat zwei Beine, groß wie Türme. Seine untere Körperhälfte hat etwas entfernt Menschliches … Aber darüber sieht er einfach nur monströs aus. Manchmal sehe ich ihn in meinen Träumen. Ich bin froh, dass ich nicht am Meer lebe, sondern die meiste Zeit hoch am Himmel verbringe. Dabei sind die Ozeane manchmal sehr schön. Es gibt Nächte, da kann man meilenlange Prozessionen von Lichtern unter dem Wasser beobachten. Als gäbe es ein Volk, das am Grunde des Meeres lebt.«
Volodi überlegte, dass man so einen Meerwanderer von Bord eines Wolkenschiffes vermutlich gefahrlos bekämpfen könnte, aber er hütete sich, diese Gedanken mit Nabor zu teilen. Der alte Lotse lebte schon zu lange auf Nangog. Er hatte verlernt, dass man sich Gefahren stellen musste, anstatt darauf zu hoffen, dass sie vorüberzogen oder dass das Unglück immer die anderen traf.
»Du redest mit dem Unsterblichen?«
Volodi hob seine Hand, als wolle er einen Eid schwören. »Ich versprechen dich!«
Nabor schmunzelte. »Eigentlich wollte ich nicht mit Aaron vermählt werden.«
Der Krieger überging das. Er mochte es nicht, veralbert zu werden. Volodi löste einen Lederbeutel von seinem Gürtel und drückte ihn dem Lotsen in die Hand.
»Was soll ich damit?«
»Ist sich für Negoshka. Für schöne Kleider.«
Nabor schüttelte den Kopf. »Sie wird kein Geld von dir haben wollen.«
Volodi lächelte verschmitzt. »Deshalb ist sich dein Gold jetzt. Wirst du wissen, wenn sie braucht etwas, und helfen.«
Der Lotse schob die Börse hinter den breiten Ledergürtel, der seinen Wickelrock hielt. »Du hast ein weiches Herz für einen Krieger. Gib auf dich acht, Volodi.«
Der Alte drückte ihm die Hand. »Vor dem Morgengrauen wird der Wind auf Süd drehen, und ich muss meinen Kurs noch mit zwei anderen Lotsen besprechen, die mit mir im Konvoi fliegen werden. Ich wünsche dir eine gute Reise, Volodi. Komm aus Kush zurück, Junge. Diese Wüste ist es nicht wert, dort zu sterben.«
»Ist sich nicht leicht, mich tot machen.«
Ersatz
Volodi war in gereizter Stimmung, als er sich auf den Weg zu Koljas Freudenhaus machte. Die letzten Tage hatte er den Umgang mit seinem Kameraden gemieden und sich darum gekümmert, dass diejenigen der Zinnernen, die er im Palast angetroffen hatte, sich abmarschbereit machten. Die Stimmung unter den Söldnern war schlecht. Sie alle wussten, was sie auf der Ebene von Kush erwartete. Keiner wollte dieses Schlachtfeld mit dem bequemen Quartier im Palast tauschen. Er hatte sie zusammen mit einem Großteil der regulären Palastwachen abgezogen und nach seinem Treffen mit Kolja persönlich bis zur Goldenen Pforte begleitet. Seit heute war er nicht mehr ihr Held. Und bei Kolja würde es schlimmer werden. Etwa hundert Männer fehlten noch. Er wusste, es würde Ärger geben. Kolja würde sein Geschäft nicht aufgeben, und er würde seinen Eid nicht brechen. Er hatte geschworen, ihm so viele erfahrene Krieger wie möglich zu bringen. Der Palast des Unsterblichen wurde jetzt nur noch von Alten und Kranken gehütet und von einer Hundertschaft Diener, die er in den letzten Tagen darin unterrichtet hatte, sich wie erfahrene Kämpfer in einer Rüstung zu bewegen. Ihnen den Schwertkampf oder den Umgang mit Speeren beizubringen, hatte er gar nicht erst versucht.
Volodi war überrascht zu sehen, wie gründlich die Spuren des Kampfes vor Koljas Freudenhaus getilgt worden waren. Selbst die massive Holztür war bereits ersetzt.
Noch bevor er den Türklopfer berühren konnte, wurde ihm geöffnet. Kolja stand im Eingang, die Arme vor der Brust verschränkt. »Du bist spät!«, sagte er mürrisch.
»Ich wollte euch genügend Zeit lassen, bereit zu sein. Wo sind die Männer?«
Kolja bat ihn mit übertriebener Geste einzutreten. Ein seltsamer Geruch lag in der Luft. Nach Fellen und Gewürz und kaltem Rauch. Etwas daran kam Volodi vertraut vor, ohne dass er im Augenblick zu benennen vermochte, warum. Weder Mädchen noch Gäste waren im Haus zu sehen.
»Ich habe dich um hundert Männer gebeten, um unser aller Zukunft zu sichern«, sagte Kolja herausfordernd. »Ich biete dir zwei erfahrene Krieger als Ersatz für jeden, den ich behalte. Alle machen ein Geschäft, wenn du zustimmst.«
»Was nutzen Söldner, deren Loyalität fraglich ist?«, entgegnete Volodi verärgert. »Der Unsterbliche wird so einen Handel nicht anerkennen.«
»Warte doch erst einmal, bis du sie gesehen hast. Ich verspreche dir, dass ihre Treue über jeden Zweifel erhaben ist. Die Männer, die ich ausgesucht habe, werden niemals zum Unsterblichen Muwatta überlaufen. Im Gegenteil! Allein ihr Anblick wird Entsetzen in die Herzen unserer Feinde säen.« Kolja war vor einem Vorhang stehen geblieben, hinter dem, wie Volodi wusste, der Durchgang zum Innenhof des Hauses lag. »Sie erwarten dich. Lass erst einmal ihren Anblick auf dich wirken. Das ist das Einzige, worum ich dich bitte. Und wenn du ehrlich glaubst, dass hundert unserer Männer es mit ihnen aufnehmen könnten …«, er lächelte verschlagen, » …werde ich mich fügen, und wir alle werden dir nach Kush folgen.« Mit diesen Worten zog er den blutroten Vorhang zurück, und Volodi verschlug es tatsächlich die Sprache, ja, er wich einen Schritt zurück bei dem Anblick, der sich ihm bot.
Der Hof, die umlaufende Galerie und alle Durchgänge zu den angrenzenden Räumen standen gedrängt voller Jaguarmänner, jener unheimlichen Schattenkrieger, die sie auf dem weißen Platz vor dem Statthalterpalast Zapotes angegriffen hatten. Die Krieger weiter hinten schienen mit dem Dunkel zu verschwimmen. Nur die Vordersten waren deutlich zu erkennen. Sie waren in ein Gewand aus schwarzem Fell gekleidet, das nur Hände und Füße unbedeckt ließ. Ihr Gesicht ragte aus dem Maul eines Jaguarkopfes, der täuschend echt nachgebildet war. Gelbliche Raubtierfänge in den aufgerissenen Kiefern verbargen zum Teil ihr Antlitz, das sie ebenso wie ihre Hände und Füße mit schwarzer Farbe eingeschmiert hatten. Die einzigen Farbtupfer ihrer merkwürdigen Rüstung waren die bernsteinfarbenen Augen im Jaguarkopf. Selbst ihre Waffen, kurze Speere und Keulen, die mit messerscharfen Obsidiansplittern besetzt waren, hatten sie schwarz gefärbt.
»Sind sie nicht furchteinflößend?«, fragte Kolja mit hämischem Unterton.
»Das geht nicht …«, stammelte Volodi, noch immer überwältigt vom Anblick der fremdartigen Krieger.
»Warum? Würdest du dich einen Feigling nennen? Sicherlich nicht, aber sie machen dir Angst, nicht wahr? Genauso wird es unseren Feinden ergehen. Diese Krieger hier sind viel besser als alles, was wir aufbieten können. Und du hast gesehen, wie sie sich im Kampf bewegen. Sie verstehen sich mindestens genauso gut auf das Geschäft des Halsabschneidens, wie wir es tun! Es waren diese Männer, die Atmos aus seiner Kammer holten, während dort noch drei andere Männer schliefen, die nichts von seiner Entführung mitbekommen haben.«
Das war es ja gerade, überlegte Volodi. Er erinnerte sich nur zu gut, wie knapp sie diesen unheimlichen Halsabschneidern auf dem Platz vor ihrer Tempelstadt einst entkommen waren. Ausgerechnet sie sollten jetzt die Seiten wechseln? Warum?
»Das geht nicht«, wiederholte Volodi. »Der Unsterbliche wird das nicht akzeptieren.«
»Ich denke, er befindet sich in einer Lage, in der er jeden erfahrenen Krieger mit Freuden in seinem Heer aufnehmen wird.«
Das ließ sich nicht von der Hand weisen. Volodi vermochte den Blick nicht von den schattenhaften Gestalten abwenden. Vielleicht würden sie helfen, die Moral ihrer Bauernarmee zu heben? Muwatta verfügte über viele kampferfahrene Einheiten, von denen manche wahrlich ungewöhnlich waren. Aber nun hätten auch sie Krieger, die ihresgleichen suchten. Allerdings wollte er das nicht alleine verantworten. Wenn Kolja ein krummes Ding drehte, sollte er gefälligst auch seinen Kopf dafür hinhalten. »Gut, ich akzeptiere deinen Vorschlag, allerdings unter einer Bedingung. Und ich warne dich, die ist nicht verhandelbar.«