»Hilfst du mir, meine Rüstung anzulegen?«
Eurylochos wirkte eher misstrauisch als erfreut. Er trat an seine Seite und zurrte die Lederbänder an den Seiten der Rüstung fest.
»So schnell kann man ein reicher Mann werden, wenn man mit mir zieht. Und ich sage dir, es gibt viel mehr Gold für uns in Nangog. Wenn ich zurückkehre, werde ich dir zeigen, wo man danach suchen muss.« Kolja schlang den Schwertgurt um seine Hüften. Er konnte Eurylochos ansehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Gier war ein überaus erfreulicher Charakterzug, dachte der Drusnier zufrieden. Sie machte Männer berechenbar. Jetzt war er sich sicher, dass der Steuermann ihr Geschäft gut führen würde und er nicht mit unangenehmen Überraschungen rechnen musste, wenn er aus Kush zurückkehrte.
Von Maulwürfen
Nandalee wurde es immer noch leicht schwindelig. Drei Tage lang hatte sie geruht und doch nur wenige Stunden Schlaf gefunden. Es war falsch, hier zu sein! Das Versprechen, das sie Duadan gegeben hatte, ging ihr nicht aus dem Sinn. Sie musste zum Königsstein, um die Letzten ihrer Sippe zu retten. In einem Bett zu liegen und darauf zu warten, dass ihre Kräfte zurückkehrten, das war nicht sie! Sie musste hinaus. Musste zu Ende bringen, was sie an jenem Tag begonnen hatte, an dem sie auf den Troll geschossen hatte, der ihre Jagdbeute gestohlen hatte.
Nervös blickte sie zu der dunklen Tür. Drei Meister der Weißen Halle würden sie in der Kammer, die hinter der Tür lag, empfangen und über ihre Bitte entscheiden. Sie wusste, dass die Trolle die gefangenen Elfen nicht freiwillig herausgeben würden. Und allein würde sie es nicht schaffen, die letzten Überlebenden zu befreien. Möglichst unauffällig in die Höhlen der Trolle einzudringen und mit dem geringstmöglichen Waffeneinsatz die Gefangenen zu befreien war eine Mission für Drachenelfen.
»Du kannst dich auch setzen«, sagte Gonvalon freundlich. »Stehen musst du erst, wenn du vor die Meister berufen wirst.«
»Ich kann nicht.« Sie war viel zu nervös, um still zu sitzen. Wäre sie besser bei Kräften, würde sie jetzt den weiß getünchten Gang auf und ab marschieren.
Gonvalon stand auf und nahm ihre Hand. Sie war ihm dankbar, dass er nichts sagte. Obwohl sie nur so wenig Zeit miteinander gehabt hatten, kannte er sie besser als jeder andere. Zumindest seit Duadan tot war, dachte sie bitter. Selbst die mächtigen Himmelsschlangen konnten nicht in ihren Gedanken lesen. Aber Gonvalon musste sie nur ansehen und wusste, was in ihr vorging. Wusste, wann sein Schweigen besser half als alle Worte.
Sie drückte seine Hand. Sie war warm und schwielig. Eine starke Hand, die alles für sie tun würde. Sie dachte daran, wie er sich dem Goldenen entgegengestellt hatte. Nichts als den Tod hatte er in diesem Augenblick erwarten können. Er hatte seine Liebe zu ihr über seine Loyalität zu den Himmelsschlangen gestellt und war um ihretwillen zum Ausgestoßenen geworden. Noch wurde er in der Weißen Halle geduldet, aber alle Drachenelfen hatten gesehen, dass er seine Tätowierung verloren hatte, die Siegel des Bundes zwischen ihm und dem Goldenen gewesen war. Und nun, da sie die Loyalitäten der Drachenelfen herausforderte, war er erneut an ihrer Seite. Sie lehnte sich an ihn, erlaubte sich einen Augenblick der Schwäche. Mit ihm an ihrer Seite würde sie die ganze Welt herausfordern, dachte sie.
Die Tür öffnete sich, und Lyvianne trat aus der Kammer hinaus auf den Flur. Sie trug ihr Haar straff zurückgebunden und wirkte unnahbarer denn je. »Wir sind nun bereit, dich anzuhören«, sagte sie und deutete mit einer Geste vollkommener Eleganz auf die offene Tür.
Nandalee drückte noch einmal Gonvalons Hand. Dorthin würde er sie nicht begleiten. Sie musste für sich allein einstehen. Doch obwohl ihr Ansinnen – in ihren Augen – uneigennützig war und von edler Gesinnung zeugte, fühlte sie sich, als würde sie vor ein Tribunal gebeten.
Lyvianne schloss hinter ihr die Tür und nahm an dem rotbraunen Tisch Platz, an dem die beiden anderen Meister, die sie anhören sollten, bereits saßen. Es waren die zierliche Ailyn, die fast von den Trollen getötet worden wäre, als sie gemeinsam mit Gonvalon gekommen war, um sie unter die Novizen der Drachenelfen zu erwählen, und der bleiche Dylan, der aussah, als sei er allein aus Licht und Nebel erschaffen. Seine Augen mit der eigentümlichen, silberfarbenen Iris schienen sie zu durchdringen.
»Nandalee, schildere uns, was dein Begehr ist«, eröffnete Dylan förmlich das Gespräch.
Nandalee erzählte davon, wie sie Duadan in der Tiefen Stadt als Gefangenen der Zwerge vorgefunden hatte, mied es dabei aber zu erwähnen, unter welchen Umständen sie dorthin gelangt war. Sie erzählte von ihrer Kindheit, davon, wie Duadan ihr Mentor und Beschützer gewesen war und wie gnadenlos das Leben in der Eiswüste Carandamon war. Sie wollte, dass den Meistern klar war, dass eine Sippe nur überleben konnte, weil jeder bedingungslos für jeden einstand. Hoffentlich würden sie begreifen, dass das Schicksal eines jeden Einzelnen untrennbar mit dem aller anderen verbunden war. Sie erzählte von langen Jagden und der Bedrohung durch die Trolle – und dann kam sie zu dem Teil, von dem zu sprechen ihr am schwersten fiel. Zu ihrer Schuld.
Sie berichtete davon, wie sie den weißen Sechzehnender aufgespürt hatte und ihm tagelang gefolgt war. Wie der Troll das stolze Tier mit seiner Keule zermalmte und sie auf den Frevler geschossen hatte. Eigentlich vermochte ein einzelner Pfeil einen Troll nicht zu töten. Schon gar nicht, wenn er quer über eine weite Lichtung geschossen wurde. Doch sie hatte ihn ins Auge getroffen. Er war auf der Stelle tot gewesen. Sie erzählte, wie die Trolle sie gehetzt hatten, denn es war der älteste Sohn ihres Königs gewesen, den sie getötet hatte. Als sie dem Tode nahe gewesen war und alle Spuren getilgt hatte, die Rückschlüsse darauf zuließen, zu welcher Sippe sie gehörte, hatten Gonvalon und Ailyn sie gerettet.
An dieser Stelle unterbrach Nandalee ihren Bericht und blickte die zierliche Elfe an, die in der Mitte der drei saß. Doch statt etwas zu sagen, gab die Waffenmeisterin ihr nur ein Zeichen fortzufahren. Nandalee senkte den Blick. Sie vermochte nicht von ihrer Schuld zu sprechen und die Meister dabei anzusehen.
»Ich weiß nicht, ob ich einen Pfeil verloren habe oder mein Bogen im Feuer nicht verbrannte. Etwas muss jedoch geblieben sein, das das Bild des Hirsches trug. Er ist das Totem meiner Sippe, der Windgänger. Er nährt uns und ist unser Vorbild in Stolz und Erhabenheit. Es war meine Tat, die die Trolle zu den Windgängern führte.«
Sie erzählte, wie es misslungen war, Duadan und Fenella zu retten.
»Doch noch leben einige der Meinen. Gefangen im Königsstein. Ohne jede Hoffnung. Sie zu retten ist mein Anliegen. Und um dies zu tun, erbitte ich eure Hilfe.«
Es kostete Nandalee Überwindung, nun aufzusehen und sich den Blicken der drei zu stellen.
»Höre ich aus deinen Worten eine Anklage heraus, Nandalee?«, fragte Dylan mit dunkler, wohlklingender Stimme. »Wie du sehr wohl weißt, war ich es, der die Weißen Schlangen rief und den Angriff durch die Flüsse im Fels führte.«
»Es geht mir nicht darum, Anklage zu erheben«, entgegnete sie hastig und erschrocken, dass sie so sehr missverstanden worden war. »Wisst ihr, was die Trolle mit den Gefangenen tun werden?«
»Sie werden sie fressen.« Nun sprach Lyvianne. »Nur Teile von ihnen. Von den Tapferen begehren sie das Herz, von den Klugen das Hirn. Ein schneller Läufer wird seiner Schenkel beraubt werden. Es ist ein Ritual. Und soweit ich gehört habe, können die Opfer dabei zusehen, wenn ihnen nicht Wunden beigebracht werden, die tödlich sind.«
Die kalte, sachliche Art, in der Lyvianne dies schilderte, trieb Nandalee Zornesröte ins Gesicht. »Du sprichst von Elfen, die dieses Schicksal erwartet. Von meiner Sippe. Von Gefährten, mit denen ich den größten Teil meines Lebens verbrachte.«