»Gefährten?« Lyvianne sah sie herausfordernd an. »Du hast keine Sippe mehr, Nandalee. Als du in die Weiße Halle kamst, um eine von uns zu werden, hast du jegliche Bande durchtrennt. Du willst unsere Leben riskieren, um jene zu retten, die du längst hinter dir gelassen haben solltest.«
»Aber stehen wir denn nicht für Gerechtigkeit? Sind wir nicht die Hoffnung der Schwachen und der Schrecken all jener, die ihre Macht willkürlich ausüben?«, entgegnete Nandalee aufgebracht. »Welchen Wert haben unsere Taten, wenn wir jegliches Mitgefühl aufgeben?«
»Du wirst unsachlich, Nandalee«, ermahnte Ailyn sie. »Wenn ich deine Geschichte nicht falsch deute, so haben die Trolle sehr wohl Anlass, deiner Sippe zu zürnen. Was sie tun, geschieht, um den Tod ihres Thronfolgers zu rächen. Nicht Willkür regiert ihre Taten. Damit erheben sie sich über dich, Nandalee. Du warst es, die willkürlich mordete, als dir ein Troll bei der Jagd zuvorkam.«
»Dann bringt mich zu ihnen und tauscht mich gegen die Gefangenen aus.«
Lyvianne sah sie mit ihren unergründlichen grünen Augen an. Erwog sie den Austausch?
»Du gehörst nun zu uns«, sagte Ailyn. »Wir werden dich nicht preisgeben. Wir werden aber auch nicht zu Handlangern in einer Fehde, die mit uns nichts zu tun hat.«
»Sie werden unseresgleichen töten«, beharrte Nandalee verzweifelt. »Was könnte mehr mit uns zu tun haben? Wir können sie retten. Wir haben die Macht dazu!«
»Du verkennst, was wir sind, Nandalee. Die Schwerter der Himmelsschlangen.« Dylan verschränkte die Hände ineinander und sah zu ihr auf. »Ein Schwert muss gezogen werden, es fährt nicht von allein aus der Scheide. Und weil es so ist, sind wir keine Mörder. Auch wenn es unter den Novizen einige geben mag, denen es schwerfällt, das zu akzeptieren. Was immer wir tun, es geschieht ohne Hass. Wir führen Befehle aus. Nicht wir entscheiden über Leben und Tod. Wir vollstrecken. Damit sind wir lediglich Instrumente der Macht, der wir uns unterworfen haben.«
Nandalee sah voller Verachtung auf ihn herab. Er sah so edel aus. So unnahbar. Fast schon dieser Welt entrückt. Und doch war all dies nur Blendwerk. »So beruhigst du dein Gewissen, Meister Dylan? Lässt dich das die toten Kinder der Tiefen Stadt vergessen?«
»Wir sind nur die Schwerter der Himmelsschlangen. Uns steht es nicht zu zu urteilen. Wir können die Gerechtigkeit der Alben und ihrer Statthalter nicht ermessen. Oder maßt du dir an, ihnen gleich zu sein, Nandalee?«
»Ich bin nur eine Novizin, Meister. Und doch bin ich so viel mehr als ein kaltes Stück Stahl. Ich werde nie wieder tun, wofür ich nicht selbst einstehen kann. Ich will nicht lernen, ein Geschöpf ohne eigene Werte zu werden. Ist es das, was die Weiße Halle aus uns Elfen machen will? Gewissenlose Kreaturen?«
Dylan bedachte sie mit einem schmallippigen Lächeln. »Was wir wollen, ist, uns über unseren beschränkten Horizont zu erheben. Und dazu musst du zuallererst lernen, dein selbstsüchtiges Bild von der Welt abzulegen. Glaubst du, das Maß aller Dinge zu sein, Nandalee?«
»Es gibt Werte, die nicht zur Diskussion stehen«, entgegnete sie aufgebracht.
»Warum? Wer stellt diese Werte auf? Dein Gewissen? Und wenn es so ist, wer formte dein Gewissen? Wem vertraust du mehr als den Statthaltern der Alben? Wer ist es, der dir die Arroganz gab, entscheiden zu können, was gut und was böse ist?«
»Ist es nicht unsere Aufgabe, jede unserer Taten zu hinterfragen und einen Weg zu suchen, der aus der Dunkelheit ins Licht führt?«
»Große Worte, Nandalee. Du erinnerst mich an einen Maulwurf, der in mondloser Nacht zum ersten Mal dem Dunkel der Erde entkommt, einige Sterne am Himmel sieht und behauptet, er habe eine lichtdurchflutete Welt gefunden.«
»Lieber bin ich dieser Maulwurf, der wenigstens einen Funken sah, Meister Dylan, als ein Maulwurf, der ein Leben lang im Finsteren verharrt und Tunneln folgt, die andere gegraben haben.«
»Meine Liebe, diesen Disput werden wir ein anderes Mal weiterführen. Kommen wir zum eigentlichen Thema zurück. Wir Drachenelfen stehen nicht zur Verfügung, um Fehden auszutragen, die zwischen den Kindern Albenmarks bestehen. Wir stehen über solchen Dingen. Wer ohne Befehl der Himmelsschlangen sein Schwert zieht, Nandalee, der gehört nicht länger zu unserer Gemeinschaft. Solltest du dich also entscheiden, zum Königstein zu gehen, bist du hier nicht mehr willkommen.«
Sie wollte etwas erwidern, doch Lyvianne gebot ihr mit einer Geste zu schweigen. »Urteile nicht vorschnell. Wäge die Worte Dylans ab. Ziehe in Erwägung, dass darin mehr Weisheit liegen könnte, als du mit deinem aufgewühlten Herzen in diesem Augenblick zu erfassen vermagst. Du darfst nun gehen. Es ist alles gesagt, was zu sagen war.«
Sie maß die drei mit Blicken und wusste nicht, ob sie Verachtung oder Mitleid für sie empfinden sollte. Schließlich verbeugte sie sich formvollendet, ging zur Tür und verließ das Zimmer.
Gonvalon erhob sich, kaum dass sie auf den Flur hinaustrat. »Wie ist es gelaufen?«
Sie atmete schwer aus, bemüht, ihrem Ärger nicht freien Lauf zu lassen. »Ich weiß nun, dass ich eine andere Sorte Maulwurf bin als Meister Dylan.«
Der Mann in der Truhe
Eurylochos lauschte auf den Klang der Hämmer und Hacken. Selbst durch das verschlossene Fenster am Ende des Flurs war der Lärm deutlich zu hören. Seine Henker legten sich ins Zeug.
Er öffnete die rote Tür, hinter der sein Zimmer lag. Vor ein paar Stunden noch hatte er es großartig gefunden. Jetzt kam es ihm nur lächerlich klein vor.
Der Steuermann trat ans Fenster und schloss die Läden. Seine Kammer lag im Erdgeschoss. Von hier aus konnte er das Wasserreservoir nicht sehen. Sein Blick war durch eine Mauer aus Trockenziegeln versperrt, von der der Putz abbröckelte.
All das war nun Vergangenheit! Kolja war fort. Vorher noch hatte er den Männern eine pathetische Rede gehalten, dass er in Kush kämpfen müsse, um ihr kleines Imperium aus Freudenhäusern zu verteidigen, und er im Herbst zurückkehren würde. Dann hatte er erklärt, dass bis zu diesem Zeitpunkt er, Eurylochos, das Kommando führen würde. Der Steuermann konnte sein Glück immer noch nicht fassen. Aber er war sich bewusst, dass er noch in dieser Stunde etwas zu tun hatte, um es zu festigen.
Er entzündete eine Öllampe, setzte sich auf sein Bett und lauschte. Selbst durch die Wände war der Lärm der Hacken zu hören. Eurylochos schloss die Augen. Sein Atem ging ruhig. Irgendwo im Zimmer summte eine Biene. Dann herrschte Stille. Nichts wies auf sein Geheimnis hin.
Er blickte auf die große Holztruhe neben dem Fenster. Sie war mit einem breiten Riegel verschlossen. Die Kanten waren mit verschrammten Bronzebeschlägen eingefasst. Viele Jahre lang begleitete sie ihn schon.
Er kniete davor nieder, zog seinen Dolch und legte ihn neben der Truhe auf den Boden, dann schob er den Riegel zurück. Zwei schwarze Augen starrten ihn, ohne zu blinzeln, an. In der Truhe lag ein beleibter Mann mit schütterem Haar und einem Bärtchen über der Oberlippe. Stoppeln wucherten auf seinen Wangen. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Um den linken Arm war ein blutdurchtränktes Tuch gewickelt. Seine himmelblaue Tunika war über der Brust zerschnitten. Die Haut darunter war weiß wie ein Fischbauch.
»Du kommst spät«, murrte Leon in einem Tonfall, als habe er hier etwas zu sagen.
Eurylochos griff nach dem Dolch neben der Truhe. Er hatte den Kerl nie gemocht. Dass er ihn am Ende der Kämpfe heimlich hierhergebracht hatte, lag einzig und allein daran, dass er sich von Leon ein fürstliches Lösegeld erhofft hatte. Und tatsächlich hatte der Trurier ihm versprochen, er würde die Truhe, in der er lag, mit Silber füllen.
»Ich glaube, unsere Geschäftsvereinbarung hat sich … überlebt.«
Leon wollte sich aufrichten, doch Eurylochos packte ihn bei der Kehle und drückte ihn in die Truhe zurück. Er hob seinen Dolch, bereit zuzustoßen.
»Ich habe mehr Silber …«, keuchte Leon. Er warf den Kopf hin und her und versuchte sich dem Würgegriff zu entwinden.
»Ich benötige dein Silber nicht mehr.« Er ließ den Dolch sinken, bis dessen Spitze wenig mehr als zwei Zoll über Leons linkem Auge schwebte. »Da ich in aufgeräumter Stimmung bin, gebe ich dir Gelegenheit, dich mit einem letzten Wort zu verabschieden. Ein Wort nur! Erringst du damit mein Interesse, magst du ein wenig länger leben.«
Der Trurier hörte auf, gegen den Würgegriff anzukämpfen. Er starrte ihn an. Der Blick störte Eurylochos. Er wollte, dass es vorüber war. Nun sah er ganz klar, was für eine überaus einfältige Idee es gewesen war, den Trurier leben zu lassen. Leon würde nichts als Ärger machen.
Eurylochos ließ den Dolch langsam tiefer sinken. Mut hatte Leon. Er starrte, ohne zu blinzeln. Erst als die Spitze des Dolches seinen Augapfel berührte, flatterten seine Lider. »Eisenzunge«, sagte er.
»Was interessiert mich ein toter Pirat?« Der Steuermann verstärkte den Druck. Das Auge wurde in die Augenhöhle gepresst. Er zog die Klinge ein wenig zur Seite, ohne mit dem Druck nachzulassen. Leon stieß ein scharfes Zischen aus. Blut füllte das Weiß des Augapfels.
»Er lebt. Tarkon ist nicht tot. Ich habe einen Mann getroffen, der ihm begegnet ist. Tarkon ist ein Unsterblicher geworden. Er wird der künftige Herrscher Nangogs sein, und wer nicht mit ihm geht, den wird er von dieser Welt hinfortfegen, wie der Herbstwind welke Blätter vor sich hertreibt.«
Eurylochos schob die Spitze des Dolches in den Augenwinkel und versuchte mit ihr unter den Augapfel zu gelangen, um ihn aus der Höhle zu drücken.
Leon stöhnte auf. Seine Hände krallten sich um die Truhenränder. »Bitte … Du musst ….«
»Was sollte ich von einem Mann wollen, den ich sterben gesehen habe? Du musst mich für sehr einfältig halten, Trurier.«
»Und wenn ich nicht lüge?« Die Stimme war vor Schmerz zu einem heiseren Zischen geworden. »Ich bringe dich zu einem Mann, der das Geheimnis entdeckt hat, von den Toten wiederzukehren. Ich weiß, dass König Geisterschwert ihn erschlagen hat. Aber ich vertraue auch dem Mann, der ihm begegnet ist. Tarkon Eisenzunge lebt. Er ist zum Unsterblichen von Nangog aufgestiegen. Ganz ohne einen Devanthar. Ich glaube denen, die sagen, dass er einst der Herrscher dieser Welt sein wird.«
Eurylochos zog den Dolch zurück und wischte die Klinge an der Tunika des Truriers sauber. »Und du kennst Tarkon und bist einer seiner Freunde?«
Leon nickte. Ein wenig zu hastig. Eurylochos glaubte ihm nicht. Er betrachtete das zerstörte Auge des Truriers. Es würde nicht mehr heilen. Leon würde es herausnehmen lassen müssen. Der Zuhälter würde sich jeden Augenblick in seinem Leben daran erinnern, wie er ihn gefoltert hatte.
»Wie kommt es, dass du Verbindungen zu diesem Rebellen hast?«
Der Trurier rang sich trotz der Schmerzen, die ihm sein Auge bereiten musste, ein Lächeln ab. »Ich habe, was er braucht. Ihr seid nicht als Einziger auf die Idee gekommen, Sklavinnen hierherzubringen. Tarkon kauft Weiber und Waffen aus Eisen. Er bezahlt mit Klumpen aus gediegenem Gold. Sehr großzügig. Die Hurenhäuser sind nur ein kleiner Teil meines Geschäftes. Lass uns zusammen reich werden.«
Eurylochos betrachtete nachdenklich die Spitze seines Dolches. Vielleicht hätte er nicht so vorschnell sein sollen. »Er belohnt seine Männer also mit Weibern …«
»Nicht nur das. Er hat ganz andere Pläne. Die Frauen bekommen Kinder. Er züchtet sich sein eigenes Volk.«
Noch so eine Lüge, dachte Eurylochos ärgerlich. Wenn ein Weib auf Nangog ein Kind empfing, grenzte das an ein Wunder. Frauen und Männer wurden hier unfruchtbar. Leon hatte keinen Wert für ihn. Durch die Folter hatte er ihn sich für immer zum unversöhnlichen Feind gemacht. Sollte er tatsächlich Verbindungen zu Tarkon haben und sollte der Himmelspirat noch leben, würde ihm daraus nur Ärger erwachsen.
Eurylochos rammte seinen Dolch mit aller Kraft in das gesunde Auge Leons. Mit einem Knacken durchdrang es den dünnen Knochen hinter dem Augapfel und drang tief in den Schädel des Zuhälters. »Du hast deine Nützlichkeit überlebt.« Er säuberte die Klinge ein zweites Mal und lauschte. Draußen war der Lärm der Hacken verstummt. Das Reservoir war also aufgebrochen.
Der Widerstand war gebrochen. Die Hurenhäuser der Goldenen Stadt gehörten ihm. Er würde reicher werden, als er sich das je erträumt hatte. Und das war erst der Anfang. Sollte Tarkon tatsächlich noch leben, würden sich seine Männer bei ihm melden, sobald er neue Mädchen brauchte.
Überaus zufrieden klappte Eurylochos den Deckel seiner alten Truhe zu. Er würde sie zum Stadtpalast Leons bringen lassen, damit am Ende nicht auch über den Zuhälter Geschichten verbreitet wurden, dass er von den Toten zurückgekehrt war.