»Ich benötige dein Silber nicht mehr.« Er ließ den Dolch sinken, bis dessen Spitze wenig mehr als zwei Zoll über Leons linkem Auge schwebte. »Da ich in aufgeräumter Stimmung bin, gebe ich dir Gelegenheit, dich mit einem letzten Wort zu verabschieden. Ein Wort nur! Erringst du damit mein Interesse, magst du ein wenig länger leben.«
Der Trurier hörte auf, gegen den Würgegriff anzukämpfen. Er starrte ihn an. Der Blick störte Eurylochos. Er wollte, dass es vorüber war. Nun sah er ganz klar, was für eine überaus einfältige Idee es gewesen war, den Trurier leben zu lassen. Leon würde nichts als Ärger machen.
Eurylochos ließ den Dolch langsam tiefer sinken. Mut hatte Leon. Er starrte, ohne zu blinzeln. Erst als die Spitze des Dolches seinen Augapfel berührte, flatterten seine Lider. »Eisenzunge«, sagte er.
»Was interessiert mich ein toter Pirat?« Der Steuermann verstärkte den Druck. Das Auge wurde in die Augenhöhle gepresst. Er zog die Klinge ein wenig zur Seite, ohne mit dem Druck nachzulassen. Leon stieß ein scharfes Zischen aus. Blut füllte das Weiß des Augapfels.
»Er lebt. Tarkon ist nicht tot. Ich habe einen Mann getroffen, der ihm begegnet ist. Tarkon ist ein Unsterblicher geworden. Er wird der künftige Herrscher Nangogs sein, und wer nicht mit ihm geht, den wird er von dieser Welt hinfortfegen, wie der Herbstwind welke Blätter vor sich hertreibt.«
Eurylochos schob die Spitze des Dolches in den Augenwinkel und versuchte mit ihr unter den Augapfel zu gelangen, um ihn aus der Höhle zu drücken.
Leon stöhnte auf. Seine Hände krallten sich um die Truhenränder. »Bitte … Du musst ….«
»Was sollte ich von einem Mann wollen, den ich sterben gesehen habe? Du musst mich für sehr einfältig halten, Trurier.«
»Und wenn ich nicht lüge?« Die Stimme war vor Schmerz zu einem heiseren Zischen geworden. »Ich bringe dich zu einem Mann, der das Geheimnis entdeckt hat, von den Toten wiederzukehren. Ich weiß, dass König Geisterschwert ihn erschlagen hat. Aber ich vertraue auch dem Mann, der ihm begegnet ist. Tarkon Eisenzunge lebt. Er ist zum Unsterblichen von Nangog aufgestiegen. Ganz ohne einen Devanthar. Ich glaube denen, die sagen, dass er einst der Herrscher dieser Welt sein wird.«
Eurylochos zog den Dolch zurück und wischte die Klinge an der Tunika des Truriers sauber. »Und du kennst Tarkon und bist einer seiner Freunde?«
Leon nickte. Ein wenig zu hastig. Eurylochos glaubte ihm nicht. Er betrachtete das zerstörte Auge des Truriers. Es würde nicht mehr heilen. Leon würde es herausnehmen lassen müssen. Der Zuhälter würde sich jeden Augenblick in seinem Leben daran erinnern, wie er ihn gefoltert hatte.
»Wie kommt es, dass du Verbindungen zu diesem Rebellen hast?«
Der Trurier rang sich trotz der Schmerzen, die ihm sein Auge bereiten musste, ein Lächeln ab. »Ich habe, was er braucht. Ihr seid nicht als Einziger auf die Idee gekommen, Sklavinnen hierherzubringen. Tarkon kauft Weiber und Waffen aus Eisen. Er bezahlt mit Klumpen aus gediegenem Gold. Sehr großzügig. Die Hurenhäuser sind nur ein kleiner Teil meines Geschäftes. Lass uns zusammen reich werden.«
Eurylochos betrachtete nachdenklich die Spitze seines Dolches. Vielleicht hätte er nicht so vorschnell sein sollen. »Er belohnt seine Männer also mit Weibern …«
»Nicht nur das. Er hat ganz andere Pläne. Die Frauen bekommen Kinder. Er züchtet sich sein eigenes Volk.«
Noch so eine Lüge, dachte Eurylochos ärgerlich. Wenn ein Weib auf Nangog ein Kind empfing, grenzte das an ein Wunder. Frauen und Männer wurden hier unfruchtbar. Leon hatte keinen Wert für ihn. Durch die Folter hatte er ihn sich für immer zum unversöhnlichen Feind gemacht. Sollte er tatsächlich Verbindungen zu Tarkon haben und sollte der Himmelspirat noch leben, würde ihm daraus nur Ärger erwachsen.
Eurylochos rammte seinen Dolch mit aller Kraft in das gesunde Auge Leons. Mit einem Knacken durchdrang es den dünnen Knochen hinter dem Augapfel und drang tief in den Schädel des Zuhälters. »Du hast deine Nützlichkeit überlebt.« Er säuberte die Klinge ein zweites Mal und lauschte. Draußen war der Lärm der Hacken verstummt. Das Reservoir war also aufgebrochen.
Der Widerstand war gebrochen. Die Hurenhäuser der Goldenen Stadt gehörten ihm. Er würde reicher werden, als er sich das je erträumt hatte. Und das war erst der Anfang. Sollte Tarkon tatsächlich noch leben, würden sich seine Männer bei ihm melden, sobald er neue Mädchen brauchte.
Überaus zufrieden klappte Eurylochos den Deckel seiner alten Truhe zu. Er würde sie zum Stadtpalast Leons bringen lassen, damit am Ende nicht auch über den Zuhälter Geschichten verbreitet wurden, dass er von den Toten zurückgekehrt war.
Der Tröpfler
Nyr schob den Dolch zu ihm herüber. Hornbori schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht schon wieder.« Das Kind, das die Elfe ihnen gebracht hatte, quengelte.
»Du bist an der Reihe«, zischte Galar gereizt. »Du weißt, er wird nicht aufhören, bevor er getrunken hat. Er hat Hunger.«
»Ich auch!«, zischte Hornbori nicht weniger gereizt zurück. »Der kleine Hosenscheißer wird uns alle umbringen. Wir können so nicht weitermachen.«
»Du bist dran.« Galar hob den Dolch auf und trat vor ihn. »Lamentier nicht. Worte helfen dir jetzt nicht. Soll ich dir vielleicht helfen?«
Hornbori nahm den Dolch, setzte die Klinge auf seinen linken Daumen, der voller verkrusteter Schnitte war, und drückte zu. Sein Blut floss weit weniger stark als bei den ersten Schnitten. Nyr reichte ihm den Jungen, und er steckte dem Kleinen den Daumen in den Mund. Sofort begann das Kind heftig daran zu saugen.
»Es ist nicht gut, Kinder auf diese Art zu ernähren.«
»Ist mit deinem Blut was nicht in Ordnung?«, fragte Nyr besorgt.
»Kinder sollten Milch trinken, verdammt!«
»Dann mach mal einen Vorschlag, wo wir Milch herbekommen, du Pfeife.« Galar stand noch immer unmittelbar vor ihm. Der Schmied hatte Lust, sich zu prügeln, aber den Gefallen würde er ihm nicht tun.
»Nyr könnte es noch mal mit dem Käse versuchen.«
»Auf keinen Fall!«, protestierte der Richtschütze. »Beim letzten Mal hat der Kleine sich fast die Seele aus dem Leib gekotzt. Dieser Koboldkäse ist nichts für ihn. Du isst ihn doch auch nicht.«
»Ich leg mich auch nicht an eine Brust, um Milch zu trinken. Was ich mag und was der kleine Hosenscheißer da mag, das hat nichts miteinander zu tun.« Hornboris Daumen schmerzte. Der Kleine saugte immer heftiger daran. Offenbar genügte ihm das Blut nicht, das herauskam.
»Gib mir etwas von meinem Anteil am Drachenblut.« Er blickte zu Galar auf. »Soll er davon trinken.«
»Drachenblut? Wir sind fast verreckt, um es zu bekommen. Es ist das Hundertfache seines Gewichtes in Gold wert. Das willst du doch nicht diesem kleinen Stinker in den Rachen schütten! Was, wenn er das auch auskotzt?«
»Mein Blut verträgt er jedenfalls«, entgegnete Hornbori. »Und was nutzt mir das Versprechen, einmal reich zu werden, wenn der Kleine mich vorher aussaugt? Wie lange wollen wir noch hier unten bleiben? Wann gehst du nach oben, um nachzusehen, ob sie fort sind, Galar?«
»Geh doch selbst, Schisser.«
»Würde ich, wenn ich schwimmen könnte! Leider ersaufe ich, bevor ich die Sprossen an der Brunnenwand erreiche. Aber vielleicht ist das ja in Erwägung zu ziehen, wenn ich mich dafür nicht von dieser kleinen Laus hier aussaugen lassen muss.« Er zog dem Kind den Daumen aus dem Mund.
Der Kleine glotzte ihn mit seinen großen, blauen Augen überrascht an und schmatzte, um deutlich zu machen, dass er noch nicht satt war. »Schluss für heute. Von Onkel Hornbori gibt es kein Blut mehr.«
Der Junge ignorierte das und machte Saugbewegungen mit den Lippen. Als Hornbori darauf nicht einging, begann er zu weinen.
»Du bist genauso dran wie alle anderen auch, du Mistkerl«, empörte sich Nyr. »Er wird bei dir trinken, bis er genug hat. Gib ihm wieder deinen Daumen, oder ich werde dafür sorgen, dass dein Blut fließt.«
Galar stellte sich dem Richtschützen in den Weg. »Lass ihn. Soll er ihm von seinem Drachenblut geben. Und auch wenn er ein Drecksack ist, ganz unrecht hat er nicht. Wir können so nicht weitermachen. Wir haben nur Koboldkäse und Brunnenwasser. Unsere Kräfte lassen mit jedem Tag nach. Wenn wir ihm immer weiter von unserem Blut zu trinken geben, werden wir irgendwann sterben. Und wenn wir tot sind, wie lange wird der Kleine dann noch überleben?« Der Schmied ging zu dem großen Haufen an Gerümpel, das er aus seiner Höhle hier hinab in das geheime Versteck im Brunnen geschafft hatte. Er nahm eine der Phiolen mit Drachenblut und reichte sie Hornbori. »Versuch es. Wir haben mehr als sechzig.«