»Was ist, wenn das Blut giftig ist!«, empörte sich Nyr.
»Wie sollte der Drache leben, wenn giftiges Blut durch seine Adern flösse?«, bemerkte Hornbori spitz und nahm das kleine Fläschchen.
»Ich probiere es zuerst!« Nyr hatte eine Eisenstange gepackt und hob sie drohend über den Kopf. »Her mit dem Drachenblut!«
Der Kleine hatte inzwischen begonnen lauthals zu schreien. Hornbori stopfte ihm seinen unverletzten Daumen in den Mund. »Du trinkst von deinem Drachenblut. Nicht von meinem Vorrat!«
»Wenn ich dir die Eisenstange über den Schädel ziehe, hast du es hinter dir. Das geht schneller, als sich für ein Kind aufzuopfern! Ist es das, was du erreichen willst?« Er winkte Galar mit der freien Hand. Mit der anderen hielt er weiterhin drohend die Eisenstange erhoben. »Gib mir das Fläschchen! Ich koste von dem Blut!«
Galar gehorchte.
Nyr entkorkte das Fläschchen und nahm hastig einen Schluck, ohne die drohend erhobene Eisenstange sinken zu lassen.
»Und, wie schmeckt es?«, fragte Galar in unverhohlener Neugier.
»Es prickelt auf der Zunge.« Nyr schluckte. »Es hat etwas Belebendes … Ist angenehm.«
»Fühlst du dich irgendwie verändert?«, setzte Galar nach.
Hornbori seufzte. »Glaubst du, man wird zum Zauberweber, nur weil man Drachenblut trinkt?«
»Wissen wir es?«, fuhr der Schmied ihn an. »Wer hat je Drachenblut gekostet?«
»Dann sichern wir unserem Kleinen womöglich eine große Zukunft.« Hornbori blickte zu Nyr. »Bist du davon überzeugt, dass ich den Jungen nicht vergiften werde, wenn ich ihm von meinem Drachenblut zu trinken gebe?«
Der Richtschütze ließ die Eisenstange sinken. »Ich musste es wissen«, sagte er trocken. Dann reichte er Hornbori die Phiole.
Der Kleine trank das Blut genauso gierig, wie er zuvor an Hornboris Daumen genuckelt hatte. Als die Phiole leer war, rülpste er zufrieden.
»Wir sollten es beim nächsten Mal anwärmen«, meinte Nyr. »Muttermilch ist auch warm. Das kann nicht gut für ihn sein, kaltes Zeug zu trinken.«
»Lässt du dir demnächst noch Brüste wachsen?«, fragte Galar. »Hornbori hat recht. Wir können hier nicht ewig bleiben. Hat einer von euch eine Vorstellung, wie lange wir schon hier unten sind? Drei Tage? Fünf? Vielleicht sogar zehn?«
»Hättest eine Sanduhr herunterbringen sollen.« Nyr nahm Hornbori das Kind aus den Armen und zog sich beleidigt zurück. Wobei zurückziehen in der engen Höhle bedeutete, dass er sich keine drei Schritt entfernt niederließ.
»Wir können nicht weiter hier unten bleiben«, stellte Hornbori fest. »Hier erwartet uns der sichere Tod.«
Er sah, wie es im Gesicht des Schmiedes arbeitete. Er war oben gewesen, eine Weile, nachdem die Elfe verschwunden war. Galar hatte ihr nicht geglaubt. Er war überzeugt, dass es nur einen Überfall auf seine Werkstatt gegeben hatte.
Als der Schmied zurückkehrte, war er nicht mehr derselbe gewesen. Galar war nicht lange fort gewesen. Zwei oder drei Stunden vielleicht. Das hatte ausgereicht, um ihn zu zerbrechen.
»Du weißt nicht, wie es oben ist. Der Gestank des Todes … Es ist alles wahr. Ich habe sogar einen Tatzelwurm gesehen, der von … der … der … gefressen hat.«
»Wir haben also die Wahl, hier unten zu bleiben und ganz sicher zu sterben oder eine Flucht zu wagen und wahrscheinlich zu sterben. Und die Entscheidung liegt allein bei dir. Ich kann nicht schwimmen. Nyr auch nicht. Ohne dich kommen wir nicht einmal lebend aus dem Brunnen heraus.«
»Was macht dich plötzlich so mutig, Schisser?« In den Augen Galars funkelte der Zorn. »Du hast das nicht gesehen. Das Grauen … die ganze Stadt. Sie alle sind tot. Unseretwegen! Verstehst du das? Wir sind es, die sie auf dem Gewissen haben.«
»Ich bin nicht mit blutigem Schwert in der Hand durch die Stadt gezogen, um Frauen und Kinder abzuschlachten!« Hornbori schaffte es nicht, ruhig zu antworten. Das Selbstmitleid des Schmiedes widerte ihn an. Da war ihm ja der alte Raufbold noch lieber gewesen. »Ja, wir haben den Drachen getötet. War das falsch? Haben wir nicht eine der Bestien erledigt, die das dort oben angerichtet haben? Willst du hier sitzen und jammernd und wehklagend verrecken? Oder willst du dir ein Herz fassen, hinausgehen und versuchen, den nächsten Drachen zu töten, bis irgendwann keiner von diesen tyrannischen Mordbrennern mehr übrig ist?«
»Nicht wir werden die Drachen besiegen«, sagte Nyr voller Inbrunst. »Wir sind nur die Hüter. Er wird es sein. Der Kleine. Seht ihr das nicht? Er hat das Massaker überlebt. Als Einziger von allen dort oben. Er wurde von einer von denen gerettet, die gekommen sind, um ihn zu töten. Und jetzt säugen wir ihn mit Drachenblut. Er wird es sein, der die Drachen vom Himmel vertreibt.«
Was für ein pathetischer Unsinn, dachte Hornbori. Aber nützlicher Unsinn. »Da ist etwas dran. Er ist vom Schicksal auserwählt. Und wir drei sind seine Hüter.«
»Dem Alten in der Tiefe ist ein Sohn geboren worden«, fuhr Nyr fort, und seine Augen strahlten, während er sprach. »Bestimmt ist es der Kleine hier. Ein Kind von königlichem Geblüt. Der künftige Herrscher aller Zwerge.«
»Geht es euch beiden noch gut?«, empörte sich Galar. »Der Kleine ist irgendein namenloser Wicht. Seht euch doch die Sachen an, in denen uns die Elfe ihn gebracht hat. Billiges Leinen. Ich habe seine verschissenen Windeln gewaschen. Da war nirgendwo eine Krone eingestickt.«
Nyr runzelte die Stirn. Hornbori wusste, er würde den Richtschützen jeden Augenblick verlieren. »Der vergisst, wer ihn uns gebracht hat. Eine intrigante Elfe. Bestimmt hat sie die Sachen vertauscht. Sie will nicht, dass wir wissen, dass er der Sohn des Alten aus der Tiefe ist. Elfen sind so.«
»Genau!«, bekräftigte Nyr.
»Sah die so aus, als sei sie auf Täuschung aus? Die war doch völlig fertig. Die hätte sich keine Zeit mehr genommen, irgendwelche Windeln zu wechseln, nur um uns zu täuschen.«
»Hast du sie dir so genau angesehen?«, konterte Hornbori. »Ich hatte den Eindruck, dass du den Blick kaum von dem Dolch abgewandt hast, der in deiner Kehle steckte.«
»Seid ihr völlig verrückt? Was soll dieser Unsinn? Ich kenne dich, Hornbori. Du glaubst doch selber nicht, was du da sagst. Und dir, Nyr, hat der Kleine den Verstand verdreht. Aber wenn wir hier lebend herauskommen wollen, dann brauchen wir vor allem eins – einen klaren Verstand.«
»Du hilfst uns also, durch den Brunnen zu kommen.«
»Ja, verdammt. Hier noch länger zu sitzen ist dumm. Wir gehen. Aber wir machen es so, wie ich sage. Vorsichtig! Mit einem hast du recht, Hornbori. Die Toten der Tiefen Stadt haben uns ein Vermächtnis hinterlassen. Wir müssen sie rächen!«
»Und den Jungen retten«, ergänzte Nyr.
Der Schmied seufzte. »Ja, das auch …«
»Wisst ihr, wie der Alte in der Tiefe seinen Sohn genannt hat?«
»Wir wissen doch gar nicht, ob er sein Sohn ist!«, begehrte Galar auf. »Könnt ihr mit diesem Unsinn aufhören?«
»Wir wissen auch nicht, dass er es nicht ist«, schmollte Nyr. »Ich bin davon überzeugt, dass die Elfe die Windeln und Tücher vertauscht hat, um uns hereinzulegen.«
»Ich glaube, der Alte aus der Tiefe hat noch kein Namensfest gefeiert. Dazu wäre ich bestimmt eingeladen gewesen«, sagte Hornbori. »Aber der Junge sollte trotzdem einen Namen haben.«
»Gute Idee!«, stimmte Nyr sofort zu.
Galar verdrehte nur die Augen.
»Wie wäre es mit Sindri?«, schlug Hornbori vor.
»Ich kannte mal einen Schmied, der so hieß«, brummte Galar. »Hat sehr besondere Ringe gemacht.«