»Also mir hat Nandalee nie etwas getan«, beharrte der zweite Kobold und glitt dabei auf seinen Handbürsten über den Steinboden wie ein Eisschuhläufer. »Sie hat mir sogar einmal einen Apfel geschenkt.«
»Da steckte doch bestimmt ein Wurm drin.«
»Na und? Ich mag Äpfel, wenn sie ein bisschen mürbe sind und ein, zwei Bewohner haben. Ich finde, die schmecken besser.«
Der dicke Kobold blickte noch immer zur Galerie hinauf. Bidayn hielt den Atem an. Sah er sie? Oder hatte er nur ein Geräusch gehört? »Macht hin, ihr beiden«, murrte er, ohne sich nach seinen Kameraden umzusehen. Dann sagte er noch etwas, aber so leise, dass Bidayn es nicht verstand.
Die Kobolde beeilten sich nun sichtlich fertig zu werden. Ob der Dicke sie erkannt hatte? Würden sie einen der Meister rufen? Seit dem Zwischenfall in der Bibliothek, bei dem Nandalee durch das verwunschene Buntglasfenster gezogen worden war, war es Novizen bei Strafe verboten, nachts umherzuschleichen.
Die drei Kobolde packten ihre Lappen, Eimer und Bürsten und zogen schweigend weiter. Warteten sie darauf, dass sie herunterkam? Bidayn verhielt sich still. Sie zählte stumm bis fünfhundert. Als dann immer noch nichts zu hören war, wagte sie sich die Treppe hinab.
Am ersten Absatz verharrte sie erneut und lauschte. Alles blieb still. Sie wagte sich weiter und durchquerte fliegenden Schrittes die Halle. Die Tür nach draußen war gut geölt. Sie öffnete sich ohne Laut. Voller Sorge blickte sie zum Himmel hinauf. Der Mond stand schon tief. Sie hatte Nandalee versprochen, eine Stunde vor Morgengrauen beim Albenstern zu sein, und es lag noch ein weiter Weg vor ihr.
Nur wenige Wolken zogen über den Himmel. Es war zu hell, dachte Bidayn verzweifelt. Sollte einer der Meister schlaflos am Fenster seines Zimmers stehen, war sie unmöglich zu übersehen. Vor der Weißen Halle lag eine Parklandschaft aus Hecken, Blumenbeeten und weiten Wiesen.
Bidayn hielt sich dicht an der Mauer des Hauses, hastete über ein schmales Wiesenstück und kauerte sich in den Schatten einer alten Buchsbaumhecke. Ein kleiner Vogel zwitscherte erschrocken irgendwo im dichten Geäst. Bidayn blickte zu den Fenstern auf. Das Mondlicht spiegelte sich darauf, so dass sie nicht ausmachen konnte, ob es vielleicht irgendwo einen Beobachter gab.
Sie hielt sich weiter im Schatten und folgte dem Labyrinth der Hecken, bis sie zu dem von Rosen überwachsenen Gang gelangte, der zum Pavillon am Rand des Parks führte. Die Luft hier war schwer vom Blütenduft. Zum ersten Mal, seit sie ihr Zimmer verlassen hatte, fühlte sie sich halbwegs sicher.
Als sie den Pavillon erreichte, war sie fast fünfhundert Schritt von der Weißen Halle entfernt. Sie blickte versonnen über die mondhelle Wiese zur schwarzen Wand des Waldes. Nebel zog unter den Bäumen hindurch. Es war totenstill.
Bidayn entschied sich, einen Zauber zu wagen. Sie war weit genug von der Weißen Halle entfernt, hoffte sie. Leise sprach sie ein Wort der Macht und rief den Nebel vom Waldrand herbei. Wie von einer leichten Brise getrieben, streckte er seine bleichen Arme über die Lichtung aus. Auch aus dem hohen Gras erhob sich nun Nebel. Geduldig wartete Bidayn, bis der Nebel Lichtung und Pavillon umfing, dann lief sie los. Bald war ihr Kleid bis über die Knie vom taufeuchten Gras durchnässt.
Als sie den Waldrand erreichte, kniete sie nieder und zog die Stiefel an. Sie hatte es geschafft! Jetzt war es egal, ob Steine unter den dicken Sohlen knirschten oder dünne Äste knackten. Erleichtert ging sie in den Wald hinein. Der Nebel verbarg zwar den Weg vor ihr, doch sie wusste, wo sie langgehen musste. Sie spürte die pulsierende Macht eines Albenpfades ganz nah. Er würde sie zu dem Albenstern führen, durch den Nandalee gen Norden flüchten wollte.
Nicht fern rief ein Käuzchen ihr einen nächtlichen Gruß zu. Verglichen mit den wilden Wäldern Nangogs war dieser Wald die reinste Idylle. Nahe der Weißen Halle gab es nur wenig Unterholz, denn die Kobolde rodeten das Buschwerk, um es in der Küche zu verfeuern.
Bidayn kam gut voran. Sie mochte fast eine Meile gegangen sein, als hinter ihr eine wohlvertraute Stimme erklang.
»Ein ungewöhnlicher Ort für einen Spaziergang zu so früher Stunde, nicht wahr?«
Kein Freundschaftsdienst
Lyvianne amüsierte es zu sehen, wie Bidayn zusammenzuckte, als sie die Novizin ansprach. Beinahe hätte sie die junge Elfe verfehlt. Die Nacht war wie geschaffen, um sich davonzuschleichen. Hell genug, dass man nicht die Orientierung verlor, aber dunkel genug, um sich zu verbergen. Hätte Bidayn nicht den Nebel über die Wiese gerufen, sie wäre ihr entschlüpft. Lyvianne hatte an der falschen Stelle auf sie gewartet.
»Ich hoffe, du beleidigst nicht unser beider Intellekt, indem du mir irgendeine haarsträubende Geschichte erzählst, warum ich dich zu dieser Stunde im Wald antreffe.«
Bidayn hatte sich erstaunlich schnell gefasst. Sie erwiderte ruhig ihren Blick. Ihre Zeit auf Nangog und die Schlacht in der Tiefen Stadt hatten die junge Elfe verändert. Sie war härter geworden. Und mit dem Netzwerk aus feinen Narben auf ihrem Gesicht sah sie irritierend aus. Fremd. Fast zum Fürchten, würde sie Bidayn nicht gut kennen. Eines Tages würde sie eine machtvolle Zauberweberin sein.
»Ich bin um eines Freundschaftsdienstes willen hier.«
»Ich muss sagen, Nandalee hat mich auch beeindruckt, als sie vor den Meistern sprach. Sie hat Visionen, die weit über die üblichen Ziele einer Novizin hinausreichen. Sie hatte den Mut, offen von einer Zeit zu sprechen, in der die Elfen den Drachen nicht mehr untertan sind. Sie genießt meinen Respekt. Wäre sie nur nicht so ärgerlich impulsiv. Zum Königsstein zu gehen ist eine außerordentliche Dummheit. Dieser Weg bringt sie im günstigsten Fall in die Verbannung. Willst du etwa mit ihr gehen, Bidayn?«
»Das war ursprünglich nicht meine Absicht.«
»Was veranlasst dich dazu, diesen Unsinn nun doch in Erwägung zu ziehen?« Lyvianne legte einen harschen Ton in ihre Stimme, obwohl sie innerlich jubilierte. Bidayn reagierte ganz so, wie sie es sich erhofft hatte.
»Nun, Meisterin. Da offenbar wurde, dass ich entgegen dem Gebot der Meister der Weißen Halle Nandalee geholfen habe, bin ich wohl von Stund an keine Novizin der Weißen Halle mehr. Dann kann ich auch mit Nandalee gehen.«
Lyvianne schüttelte den Kopf. »Du verhandelst erst gar nicht?«
»Ich bettele nicht. Ich bin aus freien Stücken hier und war mir des Risikos bewusst, das ich eingehe.«
»Hast du in deine Überlegungen auch einbezogen, dass ich dich vielleicht nicht als Schülerin verlieren möchte?«
Bidayn hob überrascht die Brauen. »Ihr würdet für mich lügen?«
»Wenn zu schweigen schon zu lügen bedeutet?« Sie sah die aufkeimende Hoffnung im Blick Bidayns. »Du versprichst mir, dass du nicht mit Nandalee gehst, und ich verspreche dir, dass die Meister der Weißen Halle nichts von deinem Ausflug erfahren werden.«
»Aber warum seid Ihr hier?«
Lyvianne lächelte, obwohl Bidayns Misstrauen sie ärgerte. »Um sicherzugehen, dass du keine Dummheit machst und dich aus falsch verstandener Freundschaft zusammen mit Nandalee ins Unglück stürzt.«
»Das würde ich nicht tun. Ich … Es bedeutet mir viel, auserwählt zu sein, eine Drachenelfe zu werden. Ich würde diese Gunst nicht so leicht aufgeben wie Nandalee.«
»Das beruhigt mich zu hören. Wohin wird Nandalee gehen? Es gibt einen Albenstern inmitten des Königssteins, doch er liegt hoch in einer Höhle. Wer ihn benutzt und nicht zu fliegen vermag, der wird sich zu Tode stürzen.«
»Sie will zum Albenhaupt. Warum sie ihre Reise so weit entfernt vom Königsstein beginnt, hat sie mir nicht gesagt.«
Lyvianne war überrascht. Verfolgte Nandalee heimlich ganz andere Ziele, als sie alle hatte glauben machen wollen? War sie vielleicht erneut auf einer Mission für den Erstgeschlüpften?
»Du gehst nicht mit ihr, und du sprichst zu niemandem von unserem Treffen, auch nicht zu Nandalee. Sollte herauskommen, dass ich deinen Ausflug gedeckt habe, würde selbst ich in Schwierigkeiten geraten. Darüber hinaus schuldest du mir einen Gefallen.«