Bidayn nickte dankbar.
»Und nun beeile dich. Ich bin sicher, Nandalee wartet schon voller Ungeduld auf dich.«
»Danke, das werde ich Euch nicht vergessen.«
Lyvianne lächelte freundlich. »Wenn dir das ernst ist, solltest du weniger förmlich mit mir reden, wenn wir allein sind. Du hast mich jetzt in der Hand. Ich habe mich mit dir gegen die Meister der Weißen Halle verschworen.«
Bidayn wirkte unglaublich erleichtert. Sie bedankte sich noch einmal überschwänglich und eilte dann davon. Sie war immer noch erstaunlich naiv, dachte Lyvianne. Ohne sich dessen bewusst zu werden, hatte sie ihre beste Freundin verraten.
Die Meisterin ging nachdenklich zur Weißen Halle zurück. Nun würde sie das Vertrauen von Bidayn verraten. Ob ihre Novizin es jemals erfahren würde? Wohl kaum. Dass Nandalee ihre Reise überlebte, war mehr als unwahrscheinlich. Und nicht die Trolle waren die größte Gefahr, die sie in der Snaiwamark erwartete.
In der Weißen Halle angelangt, stieg sie hinab in die große Bibliothek, die so wenig genutzt wurde. Lyvianne mochte die staubige Stille hier unten, den Geruch der Ledereinbände und des Pergaments. Nur sehr wenige Lampen brannten. Aus den Augenwinkeln sah sie den Schatten eines Kobolds davonhuschen. Sie hüteten den Wissensschatz der Weißen Halle und sorgten dafür, dass immer Lichter brannten. Ob sie wohl manchmal in den Schriften lasen?
Eiligen Schrittes durchmaß die Elfe die Büchersäle, bis sie zu jener verbotenen Kammer kam, die zu betreten den Novizen streng untersagt war. Der Raum war kühler als die übrigen Säle. Es gab hier weniger Regale. Hier wurden Folianten und Schriftrollen über die dunkleren Spielarten der Magie verwahrt. Staub lag auf dem Lesetisch. Auch die Kobolde betraten diesen Raum nur, wenn es ihnen befohlen wurde.
Lyvianne blickte zu dem großen, runden Buntglasfenster, das fast eine ganze Wand einnahm. Mattes Licht fiel durch die tausend Glasfacetten, obwohl die Bibliothek unter der Erde lag und es hinter dem Fenster kein weiteres Zimmer gab. Lyvianne war immer wieder aufs Neue von dem Fenster fasziniert. Es gab keine zwei Glasstücke darin, die von derselben Farbe waren. Sie waren in einem unregelmäßigen Muster arrangiert, und wenn sie sie länger betrachtete, ergriff sie ein Schwindelgefühl.
Ein leises Knirschen ließ Lyvianne aufschrecken. Das Buntglasfenster war von Drachenmagie durchdrungen, und wie alles, was die Himmelsschlangen erschufen, haftete ihm etwas Dunkles an. Es schien lebendig zu sein, ja einen eigenen Willen zu haben. Wer mutig und erfahren genug war, konnte es auf vielfältige Weise nutzen. Dachte man zum Beispiel an einen Ort, den man einmal gesehen hatte, und sprach laut ein Wort der Macht, so konnte man beobachten, was dort vor sich ging.
Wieder knirschte es. Lyvianne konnte sehen, wie sich eine der goldenen Fassungen verzog. Ein Glassplitter veränderte seine Form, wurde länglicher. Es wurde schlagartig kälter. Lyvianne stand nun der Atem vor dem Mund. Bidayn hatte sie hier vor etlichen Monden gefunden. Damals hatte sie das Wiegenlied für ihre Kinder gesungen. Auch ihm haftete ein Zauber an. Sang sie das Lied vor dem Fenster, konnte der Goldene sie hören, ganz gleich wo er sich gerade aufhielt. Er wollte wissen, wann Nandalee die Weiße Halle verließ. Er hatte vorhergesehen, dass sie nicht lange bleiben würde.
»Es ist nicht klug, eine Himmelsschlange herauszufordern, Nandalee«, sagte sie tief in Gedanken. Sie mochte die junge Elfe. Doch das war kein Grund, sie zu schonen. Lyvianne hatte sich dem Goldenen verschworen. Sie war seine erste Drachenelfe. Dieser Bund war für die Ewigkeit geschlossen, und ihre Sympathie für Nandalee endete, wo sie in Konflikt mit ihrer Loyalität zum Goldenen geriet.
Leise begann Lyvianne zu singen, während das Buntglasfenster sich weiter verzog. Schneller und schneller wanderten die Glassplitter und wellten sich die Fassungen, bis das Fenster schließlich zu einem Kreis aus wirbelndem Licht zerschmolz und Lyviannes Lied fast im Kreischen des mahlenden Glases unterging.
Wallbrecher
Kurunta versuchte seine fleischige Hand unter seiner Achsel durch einen Spalt in seinen Leinenpanzer zu schieben. Es juckte dort grässlich. Eine Folge der Verbrennungen, die er im Kampf mit Aarons Hofmeister Datames erlitten hatte.
Eben erst war er durch das Magische Tor auf die Ebene von Kush getreten. Die trockene Hitze sprang ihn an wie ein Tier, obwohl es Nacht war. Schweiß rann ihm unter den Achseln und den Rücken hinab und peinigte ihn. Es war erstaunlich dunkel hier. Keine Fackel erleuchtete die Nacht. Nur einige wenige Öllämpchen brannten entlang des Weges und bildeten einen Lichterpfad, der zum Feldlager des Unsterblichen Muwatta führte. Kommandos wurden nicht gerufen. Es wurde nur geflüstert. Und die Menschenmengen, die durch das Tor geschritten kamen, bewegten sich stockend vorwärts.
Kurunta war lediglich mit einer kleinen Gruppe von Leibwächtern gereist. Er hatte eine weite Strecke durch die Steppe zurückgelegt, weil er nicht durch eines der magischen Portale der Ischkuzaia schreiten wollte. Er traute diesen verdammten, nach Pferdescheiße stinkenden Bastarden nicht. Das Brautgeld einfach zu verdoppeln! Das war selbst für stinkende Barbaren eine außergewöhnliche Frechheit.
»Aus dem Weg, dreckiger Abschaum! Macht Platz für den Hüter der Goldenen Gewölbe!« Der Befehlshaber seiner Leibwache stieß einen Lastenträger, der vor ihnen in die Hocke gegangen war, zu Boden und hob drohend seinen schweren Eichenstab, um auf den nächsten einzudreschen.
»Lass sie, Labarna. Wir haben Zeit.« Kurunta kam es gelegen, wenn es sich noch etwas verzögerte, bis er vor seinen Hochkönig trat. Er wusste immer noch nicht, wie er Muwatta die Frechheit der Barbaren beibringen sollte. Auch das war ein Grund, warum er es auf seiner Reise nicht eilig gehabt hatte.
Labarna stieß ärgerlich seinen Stab in den Staub. Der Hauptmann war ein Baum von einem Kerl. Er überragte alle anderen in seiner Leibwache um mehr als Haupteslänge, und Kurunta wählte für seine Eskorte nur großgewachsene Männer. Labarna nahm seinen Helm ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Schädel war kahl geschoren, bis auf zwei lange Haarsträhnen, die von seinen Schläfen hingen.
»Nicht mehr lange, und du kannst wie der Blitz in die Schlachtreihen Arams niederfahren«, beschwichtigte Kurunta. »Diese Lastenträger sind deines Zornes nicht würdig.«
»Ich habe Išta geschworen, dass ich zu ihren Ehren drei Dutzend Feinde erschlagen werde«, erklärte er feierlich.
Kurunta betrachtete seinen Hauptmann wohlwollend. Er könnte es schaffen. Labarna zog mit einer gewaltigen Keule in die Schlacht, deren wuchtige Hiebe alles zerschmetterten. Schilde, Knochen, selbst Eberzahnhelme. Nichts war der urwüchsigen Gewalt seiner Angriffe gewachsen.
»Ich werde an deiner Seite sein und die Erschlagenen mit dir zusammen zählen«, erklärte Kurunta lächelnd. »Und wenn du deinen Schwur wahr machst, werde ich dafür sorgen, dass du der lebenden Göttin selbst begegnest. Ich werde ihr deinen Namen nennen, und sie wird von deinem Mut und deiner Kühnheit erfahren.«
Labarnas Augen weiteten sich. Kurunta las Begeisterung, aber auch eine Spur von Furcht im Antlitz seines Hauptmanns. Labarna kniete nieder. »Ich bin nur ein unwürdiger Wurm. Ich habe nicht verdient …«
»Du bist ein Held Luwiens.« Kurunta erhob seine Stimme, sodass alle in weitem Umkreis ihn hören konnten. »Wenn der Tag der Schlacht vorüber ist, werden wir drei Meilen weit über die Körper der erschlagenen Feinde schreiten, ohne dass unser Fuß nur ein einziges Mal staubigen Boden berührt.« Leiser fügte er hinzu: »Und wenn du mir den Kopf des Hofmeisters Datames bringst, Labarna, dann werde ich dir als Belohnung meinen Stadtpalast in Isatami schenken.« Er hatte die Stadt seit dem Tag, an dem er dort verstümmelt worden war, ohnehin nicht mehr betreten. Kurunta stellte sich vor, wie er den Schädel des bartlosen Hofmeisters in Gold einfassen lassen würde, um ihn künftig als Tafelschmuck bei seinen Festen zu verwenden. Er lächelte bei dem Gedanken, wie er den Schädel vor jenen Gästen aufstellen lassen würde, denen er eine Warnung zukommen lassen wollte.