Endlich bewegte sich die Marschkolonne. Die Träger wurden zur Seite gewunken und in einen weiter südlich gelegenen Teil des riesigen Heerlagers geleitet. Kurunta war überrascht, sich schon bald zwischen den Reihen lagernder Krieger wiederzufinden. Nirgends brannten Feuer. Was war hier los? Deutlich konnte er am Horizont den orangeroten Lichtschein über dem Heerlager Arams erkennen, das sich über Meilen entlang des ausgetrockneten Flussbetts erstreckte. Aber hier bei den Luwiern war alles dunkel. Warum?
Es ging jetzt zügig voran. Voraus erkannte er die Schatten riesiger Zelte. Größer als selbst das Zelt des Unsterblichen Muwatta.
»Zu welcher Satrapie gehört ihr?«, wurden sie von einem Wachposten scharf angerufen.
»Vor dir steht der Hüter der Goldenen Gewölbe!«, kam es ärgerlich von Labarna. »Und wie heißt du, dass du es wagst, dich der rechten Hand des Unsterblichen Muwatta in den Weg zu stellen, wenn er eilt, seinem Herrn zu begegnen?«
Das Schweigen im Dunkel ließ Kurunta schmunzeln. Er überlegte, ob er auch die Strafe des Vierteilens einführen sollte. Bislang war diese Art der Hinrichtung in Luwien nicht verbreitet.
»Bitte verzeiht, dass ich Euch bei dieser Finsternis nicht erkannte. Es ist zu viel Bewegung im Heerlager in dieser Nacht, und dieser Weg hier steht nur jenen frei, die zum unmittelbaren Gefolge des Unsterblichen gehören. Der Unsterbliche Muwatta weilt bei den …« Der Wächter stockte erneut, ganz so, als habe er einen weiteren Fehler gemacht. »Der Erzkönig besichtigt die neuen Truppen. Ich werde Euch zu ihm bringen lassen.«
Zwei Krieger mit den hohen Rosshaarkämmen der königlichen Leibwache traten aus dem Dunkel. Schweigend winkten sie Labarna, ihnen zu folgen. Sie passierten eine Brücke aus dicken Stämmen, die über einen Graben führte, hinter dem eine hohe Erdschanze aufgeschüttet worden war. Dieser Teil des Lagers war ganz neu. Überall standen Wachen.
Kurunta sah sich neugierig um, konnte aber nicht entdecken, was hier so schwer bewacht wurde. Es standen ausschließlich Krieger aus Muwattas Leibgarde auf Posten.
Sie wurden zwischen einigen der riesigen Zelte hindurchgeleitet bis zu einer Palisade aus hohem Bambusrohr, hinter der Licht brannte. Ein seltsamer Geruch lag in der Luft. Nach Tierkot. Kurunta konnte ihn nicht zuordnen. Pferdemist war es jedenfalls nicht.
»Taubenflug!«, rief einer ihrer beiden Führer, als sie ein Tor in der Bambuswand erreichten.
Kurunta hatte noch nie erlebt, dass an einem Ort, den die Leibwache des Erzkönigs so streng kontrollierte, Passwörter benutzt wurden.
Die Wachen winkten sie hindurch. Unmittelbar hinter dem Tor stand Muwatta. Er betrachtete einen Elefanten, dem gerade eine Beinpanzerung aus breiten Lederlamellen angelegt wurde. Das große, graue Ungetüm war mit einer schweren Decke gepanzert, auf die Hunderte von schimmernden Bronzescheiben aufgenäht waren. Auch sein Rüssel wurde von einem Lamellenpanzer geschützt, und eine wuchtige Bronzemaske, die von einem Kamm langer, roter Federn geschmückt wurde, schützte den Kopf des Elefanten. Auf seine Stoßzähne waren eiserne Klingen aufgesteckt, deren leicht geschwungene Form an Sicheln erinnerte.
Der Koloss stampfte unruhig mit den Füßen. Es war offensichtlich, dass ihm diese Lasten unangenehm waren. Über seinem Rücken schwebte an Seilen ein Konstrukt, das wie ein kleiner, hölzerner Turm aussah. Breite Lederriemen hingen von ihm herab. Ein Trupp von Kriegern stand an einer Seilwinde und ließ den Turm langsam herabsinken, während ein dunkelhäutiger Kerl, der nur mit einem Lendenschurz bekleidet war, beruhigend auf den Elefanten einredete.
»Kurunta!« Der Erzkönig hatte ihn bemerkt und kam ihm mit offenen Armen entgegen. »Gut, dass du endlich zurückkommst. Bringst du Nachricht von meiner Braut?«
Das war der Augenblick, vor dem er sich seit Tagen gefürchtet hatte. »Ich … Wir sollten unter vier Augen sprechen.«
Muwatta trug seinen Maskenhelm. Seine Augen waren schwarze Abgründe in einem Gesicht aus spiegelndem Silber. Auf dem Helm war ein Löwenfell befestigt, sodass die silberne Stirn von gelblichen Fangzähnen gerahmt wurde. Der Unsterbliche trug einen silbernen Glockenpanzer, über den ein breiter, rotgoldener Schwertgurt lief. Ein purpurner Wickelrock war um seine Hüften geschlungen. In all dieser Pracht sah er mehr wie ein Gott denn wie ein Mensch aus.
»Die Barbaren machen also Ärger …« Dem Tonfall seiner Stimme war nicht zu entnehmen, ob er verärgert war. Einen Augenblick lang herrschte beklemmendes Schweigen, dann endlich deutete der Unsterbliche mit großer Geste auf den Elefanten. »Was hältst du davon, Kurunta?«
»Er sieht überaus eindrucksvoll aus, mein Gebieter.« Kurunta bemühte sich enthusiastisch, aber nicht unterwürfig zu klingen.
»Wir haben vierzig davon. Sie alle werden Rüstungen bekommen. Wir müssen sie allerdings noch daran gewöhnen.«
Kurunta betrachtete den Elefanten mit einiger Skepsis. Noch nie hatte jemand diese Ungeheuer in einer Schlacht eingesetzt. Jedenfalls nicht in halbwegs zivilisierten Gegenden. Er kannte Muwattas Elefanten aus Isatami, der bei den feierlichen Prozessionen der Heiligen Hochzeit durch die Straßen der Tempelstadt geführt wurde. Das Vieh galt als ausgesprochen launisch. Die Stallburschen, die sich um ihn kümmern mussten, hatten eine Heidenangst vor dem Elefanten. Er hatte schon mehrere von ihnen umgebracht.
»Was für eine Schlachtlinie würdest du aufstellen, wenn du wie Aaron ein Heer aus Bauern in den Kampf führen müsstest?«, fragte ihn Muwatta.
Kurunta spürte, wie ihm der Schweiß den Rücken hinabrann. Er kämpfte gegen den Reflex, sich zu kratzen. Nicht in Anwesenheit des Unsterblichen! »Ich würde einen Schildwall bilden, mit möglichst hohen Schilden. Meine erfahrensten Krieger würde ich in die vorderste Reihe stellen und die Bauern mit langen Speeren ausrüsten, damit möglichst viele von ihnen den Kampf um den Schildwall mit Speerstößen unterstützen können.«
Muwatta deutete ein Nicken an. »Aaron hat kaum eine andere Wahl. Meine Elefanten werden wie Rammböcke durch seine Wälle brechen. Eine einfache Linie erfahrener Kämpfer wird nie und nimmer ausreichen, sie aufzuhalten. Sie werden wie wandernde Festungstürme sein. Auf ihren Rücken werden Bogenschützen und Männer mit langen Speeren stehen. Und hinter den Elefanten folgen in Gruppen zu jeweils hundert meine besten Krieger, um durch die Lücken zu stoßen, die von den Elefanten geschlagen wurden. Das wird keine Schlacht, das wird ein Massaker. Das Ganze wird in weniger als einer Stunde vorüber sein. Die meiste Arbeit wird es machen, die Flüchtenden niederzustechen und danach Hügel aus ihren Köpfen zu schichten. Ich will einen zehn Schritt hohen Hügel, und auf seiner Spitze soll der Kopf Aarons liegen.«
Kurunta fröstelte es. Es war verboten, einen Unsterblichen zu töten. Nicht einmal Aaron hatte es gewagt. Er hatte Muwatta in ihrem Duell einen Stich tief in den Unterleib versetzt. Es gab sogar Gerüchte, dass der Erzkönig bei dem Zweikampf in Nangog kastriert worden war. Aus der Heiligen Hochzeit war im letzten Jahr kein Kind erwachsen. Das hatte die Gerüchte zusätzlich angefacht. Wenn Muwatta Aarons Kopf wollte, dann würde er am Tag der Schlacht enttäuscht werden, ganz gleich, wie glorreich ihr Sieg sein mochte. Kurunta entschied, dass er sich nach der Schlacht nicht in die Nähe seines Herrschers begeben würde. Wenn Muwatta zornig wurde, war er unberechenbar.
»Du siehst besorgt aus, mein Freund.«
Kurunta fluchte stumm und setzte ein Lächeln auf. »Ich traue den Elefanten nicht. Das sind störrische Biester. Ich hoffe, sie werden am Tag der Schlacht dahin laufen, wo wir sie haben wollen.«