»Seid der Albtraum Muwattas!«, rief Artax.
Jetzt waren es Tausende, die seinen Ruf aufnahmen. Er hatte es geschafft, die Angst aus den Herzen seiner Männer zu vertreiben. Für heute Nacht zumindest.
Artax schob sein Schwert zurück in die Scheide, während die Krieger noch immer die Schattenkrieger Zapotes hochleben ließen. »Bring sie nach dort hinten, hinter die Hügel. Mindestens eine Meile vom Lager fort und außer Sicht. Ich möchte nicht, dass meine Männer diese Daimonenbrut Tag für Tag vor ihren Augen haben und sich die Angst in ihre Herzen zurückschleicht.«
Von Schafen, Löwen und Lügnern
Datames hatte sich schlichter gekleidet, als es sonst üblich war. Auch wenn Aaron sich letzte Nacht ganz gut geschlagen hatte, war die Moral in seinem Heer eine Katastrophe. Die erfahrenen Krieger sahen auf die Bauern und Handwerker herab, die dem Ruf zu den Waffen gefolgt waren. Sie hielten sich getrennt von den anderen, statt ihnen zu helfen, zu richtigen Kämpfern zu werden. Die meisten Männer lungerten den ganzen Tag herum. Sie hatten nichts zu tun, außer sich auszumalen, wie schrecklich die Krieger Muwattas waren und dass sie alle hingemetzelt werden würden. Eine Stimmung ängstlicher Gereiztheit lag über dem riesigen Heerlager. Es kam ständig zu Schlägereien. Kaum ein Tag verstrich, ohne dass es Tote gab. Manchmal griffen die Satrapen ein. Alles, was ihnen einfiel, waren öffentliche Hinrichtungen. Das war kein Mittel, um Angst und Missmut zu bekämpfen. Bis zum Tag der Schlacht würde dieses Heer sich selbst besiegen, wenn er nichts unternahm.
Er zog ein Maultier hinter sich her, das mit Hacken beladen war. Der Blattrand der Hacken war mit Bronze verstärkt, damit das harte Holz nicht so schnell splitterte. Nach den Maßstäben von Elfen eher ein primitives Werkzeug, aber das Beste, was hier zu bekommen war.
Datames war sich der Aufmerksamkeit bewusst, die er auf sich zog. Selbst in schlichtem Gewand war er für einen Mann, der ein Maultier mit Werkzeug hinter sich herzog, viel zu gut gekleidet. Auch war er sich bewusst, dass er als der Bartlose mit dem goldenen Haar aus dem Gefolge des Unsterblichen vermutlich vielen schon aufgefallen war.
Er blieb stehen. Sah sich unter den Männern um, die ihn angafften. Einer, ein hagerer Kerl, sah besonders feindselig und verschlossen aus. »Du da!«
Ein kalter Blick war die einzige Antwort.
»Wie heißt du?«
»Wer bist du, dass dich das interessiert?« Der hagere Kerl kam auf ihn zu. Er war unrasiert. Das schwarze Haar strähnig. Ein überheblicher Drecksack. Genau der Richtige! Wenn er den herumbekam, würde er sehr schnell auch andere überzeugen.
»Ich bin Datames, der Hofmeister des Unsterblichen Aaron. Nun sag mir, wie du heißt, denn ich will einen reichen Mann aus dir machen.«
Ein spöttisches Lächeln war die einzige Antwort.
Datames wies zum Maultier. »Kannst du mit einer Hacke umgehen?«
Der Hagere verschränkte die Arme vor der Brust. »Für die Dauer des Feldzugs bin ich ein Krieger. Du kannst mir keine Fronarbeit befehlen. Zieh weiter, Hofmeister.«
Datames erinnerte sich an den Kerl. Er hatte ihn schon einmal gesehen, wusste aber nicht mehr, wann. Üblicherweise hatte er ein gutes Gedächtnis für Gesichter. Aber hier gab es einfach zu viele Menschenkinder.
»Sei doch nicht so unfreundlich, Ashot!« Ein kleiner, etwas pummeliger Mann mit freundlichem, rundem Gesicht gesellte sich zu dem Hageren. »Was können wir für Euch tun, Hofmeister Datames?«
»Wie heißt du?«
Der Kleine stellte sich in Positur, als sei er ein Schauspieler auf einer billigen Straßenbühne. »Ich bin Narek aus Belbek. Vater des Daron. Und mein Weib Rahel ist die hübscheste …«
»Quatsch ihn nicht voll«, grollte Ashot und bedachte Datames mit einem finsteren Blick. »Das interessiert diesen feinen Höfling, der sich in seinem ganzen Leben noch nicht die Hände schmutzig gemacht hat, einen Dreck. Er ist es nicht wert zu wissen, wie dein Sohn und dein Weib heißen. Und ich wette mit dir, von Belbek hat er in seinem ganzen Leben noch nicht gehört.«
»Belbek liegt in der Nähe der Mine Um el-Amad in der Satrapie Nari«, sagte Datames schmunzelnd. Er kümmerte sich schon so lange um die Geschäfte des Hofes, dass er wohl fast jedes Dorf des Reiches kannte. Zumindest dem Namen nach. »Eine gute Gegend für die Ziegenzucht. Weniger geeignet für Rinder und Schweine.«
Narek strahlte, wohingegen Ashot ein Gesicht machte, als habe er ihm ans Bein gepinkelt.
»Wir sind berühmt«, jubelte Narek. »Die kennen uns sogar bei Hof!«
»Nur der Kerl kennt unser Dorf«, murrte Ashot gallig. »Glaub nur nicht, dass irgendjemand anders es kennt. Ich habe dir gesagt, für die sind wir nur ein paar namenlose Weizenkörner. Ohne Bedeutung.«
»Aber er kennt Belbek«, beharrte Narek.
Jetzt erinnerte sich Datames, wo er den mürrischen Kerl schon einmal gesehen hatte. »Du warst bei dem Unfall mit den Streitwagen dabei. Du hast deinen Stock nicht fallen lassen, als andere fortgelaufen sind, Ashot. Du hast das Herz eines Kriegers, das hast du bewiesen.«
Deutlich sah Datames, wie sich Ashot bemühte, seine Überraschung hinter einer mürrischen Grimasse zu verbergen. »Du hast also ein gutes Gedächtnis, Hofmeister. Das beweist noch lange nicht, dass du dich wirklich für uns Bauern interessierst.«
Einige andere Bauern gesellten sich zu ihnen, neugierig zu sehen, was ein Höfling von ihnen wollte. Datames war zufrieden. Sein Plan schien aufzugehen. »Wer ist euer Anführer?«
Narek deutete auf Ashot.
Der Hofmeister lächelte. »Das hätte ich mir denken können.«
»Kommen wir zur Sache. Was willst du?« Als Sprecher für eine Gruppe trat Ashot noch grimmiger auf.
»Nun, wie ich schon sagte, möchte ich gerne reiche Männer aus euch machen. Wenn euch daran gelegen ist.« Jetzt hatte er die volle Aufmerksamkeit aller. Nur Ashot runzelte misstrauisch die Stirn.
»Was glaubt ihr, worum die Unsterblichen in dieser Schlacht kämpfen?«
»Um diese Satrapie«, sagte Narek eifrig.
»Genau. Um Land, denn Land ist Macht. Es ist ewig. Und worum kämpft ihr?«
»Wir bekommen Sold. Mehr, als wir bei der Feldarbeit verdienen«, antwortete einer aus der Gruppe.
»Und wie lange werden die Münzen reichen? Einen Winter? Zwei? Was macht ihr damit? Ein paar Ziegen kaufen? Etwas Hübsches für eure Frauen und Kinder?«
»Also ich werde Rahel eine Glasperlenkette schenken«, erklärte Narek. »Und dann werde ich …« Der Bauer sah überrascht seine Kameraden an. Alle anderen schwiegen.
»Ganz gleich, wie achtsam ihr mit eurem Sold auch umgeht«, fuhr Datames fort, wohl wissend, auf wie dünnem Eis er sich bewegte. Die Bauern argwöhnten, dass er sie verspotten wollte. »Von den Münzen wird in ein paar Jahren nichts mehr geblieben sein. Wem von euch gehört eigenes Land?«
»Mir«, sagte Narek stolz.
»Gibt es in euren Dörfern gutes Land, das nicht bestellt wird? Land, das den Reichen gehört und auf dem nur Ziegen weiden, obwohl es ein guter Acker sein könnte?«
Die meisten nickten grimmig.
Datames zog eine Tontafel aus dem breiten Tuch, das er als Gürtel um seine Hüften geschlungen hatte. Sie war eng mit keilförmigen Schriftzeichen bedeckt und am unteren Rand mit dem Rollsiegel des Unsterblichen Aaron gesiegelt. »Dies hier ist eine Kopie des Erlasses, der euch allen etwas geben wird, was Bestand für die Ewigkeit hat. Etwas, das euren Kindern und Kindeskindern noch Nutzen bringen wird. Die Tafel wurde erst gestern Nacht gebrannt, zusammen mit Dutzenden, auf denen derselbe Text steht. Er wird an alle Satrapen des Reiches geschickt werden.« Er reichte die Tontafel Narek.
Der Bauer nahm sie mit spitzen Fingern entgegen, als habe er Furcht, er könne sie zerbrechen. Datames beobachtete, wie die Männer das Schriftstück herumreichten. Wie sie über die Schriftzeichen strichen und das Siegel, das den Unsterblichen Aaron neben dem Löwenhäuptigen zeigte, bestaunten. Ganz offensichtlich konnte keiner von ihnen lesen. Darauf hatte er gehofft, denn was sie dort in Händen hielten, war nicht mehr als eine Liste mit Vorräten, die aus den königlichen Kornspeichern angefordert wurden. Aaron hatte ihn zwar beauftragt, eine Armee aufzubauen, die wusste, wofür sie kämpfte, aber er hatte sich seit Tagen nicht entschließen können, seinem Vorsatz Taten folgen zu lassen. Die Tafeln mit dem Erlass, der den Bauern Land versprach, hatte er bis heute nicht brennen lassen. Er fürchtete einen Aufstand der Satrapen und der Grundbesitzer. Vielleicht wurde er sogar von den Satrapen erpresst … Datames war lange genug Hofmeister, um zu wissen, wie unfrei selbst der Unsterbliche manchmal war. Aber den Bauern Land zu überlassen war die einzig richtige Entscheidung!