Barnaba stieß ein halb ersticktes Lachen aus. Was war das für ein verrückter Traum? Da begegnete er der schönsten Frau, die er je erblickt hatte, und sie erzählte ihm solchen Unsinn. Er war frei zu tun, was immer er wollte. Warum genoss er es nicht? Er brauchte nicht auf irgendwelche Anstandsregeln zu achten. Es gab keinen Grund, vor Verlegenheit zu stammeln.
»Du bist unbeschreiblich schön. Ich bin nicht in Gefahr durch irgendwelche Wunden. Aber mein Herz wird brechen, wenn du mir keinen Kuss schenkst.«
Sie runzelte die Stirn. »Du hast Fieber.«
Er grinste. »Ja, ich verbrenne vor Sehnsucht nach dir.« Er zog sie zu sich herab und küsste sie. Es war leicht, im Traum ein leidenschaftlicher Liebhaber zu sein.
Einen Herzschlag lang ließ sie ihn gewähren, dann machte sie sich los. Sie war stärker als er! Dabei sah sie so zierlich und zerbrechlich aus.
»Du bist nicht ganz bei dir.« Ihre Stimme klang sehr ernüchternd, sachlich, obwohl er kurz das Gefühl gehabt hatte, dass sie seinen Kuss erwiderte.
»Für so etwas ist keine Zeit«, fuhr sie noch sachlicher fort. »Die Flamme deines Lebens wird umso schneller verlöschen, wenn du dich deiner Leidenschaft hingibst. Ich kann keine großen Zauber weben, damit wäre unser beider Leben verwirkt … Aber es gibt da etwas.«
»Du bist eine Zauberweberin?« Das klang etwas spöttischer, als er es beabsichtigt hatte.
»Was glaubst du, warum du mich in all den Monden in diesem Tal nicht zu sehen bekommen hast? Für Menschenkinder bin ich nur einen einzigen Tag im Jahr sichtbar.« Sie lächelte. »Und ausgerechnet an jenem Frühlingstag warst du nicht hier.«
»Menschenkinder?« Er legte den Kopf schief und musterte sie eindringlich. »Wie meinst du das?«
»Ich bin eine Xana. Ich stamme nicht aus deiner Welt. Ich …«
Er lachte auf. Natürlich, eine Xana. Jetzt fügte sich alles. Die Geschichte, die ihm der Steuermann in seiner Kindheit erzählt hatte. So viele Jahre spukte sie ihm schon durch den Kopf. Er war in der irrigen Hoffnung hierhergekommen, eine Xana in dem einsamen Quellteich zu finden. Da war es nur folgerichtig, dass er irgendwann von der Quellnymphe träumte.
»Ich heiße Barnaba, meine Schöne. Es freut mich …«
»Bitte, Barnaba, hör mir zu. Es ist ein Zauber, der mich in deine Träume getragen hat. In der wirklichen Welt liegst du in meinen Armen, und dein Herzschlag wird immer schwächer. Obwohl ich dich auf den kühlen Grund des Sees geholt habe, glühst du noch immer vor Fieber.«
»Bitte nenn mir deinen Namen. Ich möchte eine Ode auf deine Schönheit verfassen, mein Augenstern.«
»Du wirst …«
»Mir deinen Namen nicht zu nennen ist so, als würdest du einem Verdurstenden das Wasser verweigern. Ich werde nicht …«
»Ikuška.«
»Ikuška?« Es würde nicht leicht werden, darauf Reime zu finden, dachte er. »Klingt ein wenig wie Kush. Das Hochtal … Stammst du von dort?«
»Den ersten Menschenkindern, die mich entdeckten, habe ich meinen Namen genannt. Sie haben mich wie eine Göttin verehrt. Aber sie hatten immer auch Angst vor mir. Sie haben meinen Namen falsch ausgesprochen und ihn hinausgetragen in die Welt. Nicht ich heiße nach dem Tal. Sie haben es nach mir benannt.«
Barnaba musste lächeln. »Natürlich.«
»Dein Herzschlag wird schwächer, Barnaba. Es gibt nur eines, was ich noch tun kann. Ich muss mein Fleisch mit dem deinen verbinden. Ein Zauber, den ich vor langer Zeit von einer Apsara, einer Nymphe aus der Lotussee tief im Süden Albenmarks, erlernt habe. Wenn ich dies tue, werde ich all deine Geheimnisse kennen. Unsere Seelen werden sich vereinen. Du wirst auf immer ein Teil von mir. Und ich ein Teil von dir.«
Sie sprach wie eine Dichterin. Ihr Fleisch mit dem seinen verbinden … Dass Frauen so offen darüber redeten, was sie wollten, hatte er noch nie erlebt. Er betrachtete sie, streckte die Hand aus und strich über ihr seidenweiches Haar. »Ja, ich will. Lass uns unser Fleisch miteinander verbinden.«
Die Tafel des Himmels
Bamiyan schwang sich vom Pferderücken. Ein Schauder überlief ihm beim Anblick des Schwarzen Zeltes. Es lag im Schatten einer Steilwand aus rotem Sandstein. Zwei Ziegen waren neben dem Zelt angepflockt, und ein alter, brauner Hund hob mürrisch den Kopf und blinzelte Bamiyan entgegen. Leichter, süßlicher Verwesungsgeruch hing in der Luft. Der Jäger blickte die Steilwand zur Tafel des Himmels hinauf. Ein einzelner Geier kreiste über dem abgeflachten Felsen.
Hazrat trat aus dem Zelt und stützte sich auf seine große Axt. Der Vogelrufer war ein kleiner Mann mit Schultern wie ein Bär. Und haarig wie ein Bär war er auch. Er roch nach Verwesung, so wie alles rings um die Tafel des Himmels.
»Wen bringst du?«, fragte der Vogelrufer.
»Masud, meinen Bruder.«
Der kleine Mann nickte. »Ein guter Jäger.«
Bamiyan sagte nichts. Seine Stimme hätte seine Gefühle verraten, und er wollte nicht wie ein weinerliches Weib wirken. Masud war sein größerer Bruder gewesen. Sie beide waren die einzigen der acht Jungen ihrer Mutter, die überlebt hatten. Das Leben war hart in den Bergen Garagums. Nur wenige Kinder vollendeten das erste Jahr.
»Kommst du mit?«
Bamiyan schüttelte den Kopf. Er wollte es nicht sehen. Das war nicht mehr sein Bruder, was der Vogelrufer zur Tafel des Himmels hinauftragen würde. Masud war voller Kraft gewesen und immer zu einem Scherz aufgelegt. Solange Bamiyan sich erinnern konnte, hatte er zu seinem Bruder aufgeblickt, ihn bewundert. Masud war ein kluger und ausdauernder Jäger gewesen. Er konnte saufen wie ein Loch, drei Tage im Sattel sitzen, ohne einmal zu schwanken, und er war ein erfolgreicher Räuber und Türkissucher gewesen. Wann immer er zum Lager heimkehrte, folgten ihm die Blicke der Weiber. Masud war ihm in allem überlegen gewesen, bis ihn das Blutfieber gepackt hatte.
Masud hatte einen Schneeleoparden hoch in den Bergen entdeckt und versucht, die Raubkatze lebend zu fangen. Lebend wäre das Tier sein Gewicht in Gold wert gewesen. Der Leopard war ihm in eine Schlinge gegangen. Aber als Masud sich ihm näherte, hatte ihm das Mistvieh einen Prankenhieb versetzt und sich anschließend auch noch befreit. Masud hatte über die Schrammen und sein Missgeschick gelacht und war ins Lager tief im Tal zurückgekehrt. Bei seiner Ankunft hatte er schon Fieber gehabt.
In der Nacht war Masud aus dem Zelt gelaufen, hatte Wasser über sich geschüttet und laut geschrien, dass er verbrennen würde. Als Bamiyan ihn ins Zelt zurückholte, hatte er die Schrammen am Arm bemerkt und die beiden dunkelroten Linien, die von dort den Arm hinaufgekrochen waren, bis fast zu Masuds Achselhöhle.
Sie hatten alles versucht. Hatten sein Fieber mit kalten Tüchern bekämpft. Ihn bluten lassen, damit das Gift aus seinem Körper floss. Den Gott des Windes angerufen und die Mutter der Erde. Doch alles hatte nicht geholfen. Sein Bruder war von innen heraus verbrannt.
Hazrat hob den in Tücher geschlagenen Leichnam vom Pferd.
So leicht war sein Bruder zuletzt gewesen, dachte Bamiyan. Das Fieber hatte sein Fleisch und sein Fett zerschmelzen lassen. Er blickte zum Himmel hinauf, wo noch immer der Geier kreiste.
»Trage mir die Axt hinauf«, befahl Hazrat schroff. »Ich möchte nicht zwei Mal gehen. Und ich hoffe, du hast das Wolfsfell dabei.«
Bamiyan holte das Fell aus dem Tuchsack, der von seinem Sattel hing. Er rollte es auf und hielt es dem Vogelrufer hin. Es war ein gutes Fell. Dicht und von schöner, graubrauner Farbe. Masud hatte den Wolf zu Beginn des letzten Winters erlegt.
»Gut«, sagte Hazrat. »Leg es vor mein Zelt und nimm die Axt.«
Voller Widerwillen betrachtete Bamiyan die Axt. Ihr Schaft reichte ihm bis zur Brust. Das Holz war dunkel und von den Händen des Vogelrufers glatt poliert. Um einen Türkis, groß wie ein Kinderkopf, krümmte sich eine halbmondförmige, handbreite Sichelklinge aus Bronze. In die Bronze waren Figuren graviert. Deutlich erkannte Bamiyan Russa, den Blitzschützen, inmitten einer Flügelsonne. Er trug den langen Bogen und hatte einen Köcher umgeschnallt. Mit einer Hand grüßte er eine Wolke, aus der ein Blitz herniederfuhr. Unter dem Gott waren Berge, ein Tempel und Ziegenherden abgebildet. Alle Figuren hoben sich deutlich hervor, denn die tiefen Linien, die einst ein Künstler in das Blatt der Axt geschlagen hatte, waren mit dunklem Blut verklebt.