»Kommst du?«, rief Hazrat. Der Vogelrufer war schon ein Stück vorausgegangen. Den Leichnam Masuds hatte er sich über die Schultern geworfen.
Der Aufstieg zur Tafel des Himmels war steil und mühsam. Ein schmaler Saumpfad wand sich seitlich der Steilwand hin zur abgeflachten Spitze. Hier und dort waren Stufen in den Fels geschlagen worden, um den Weg zu erleichtern. Die Tafel des Himmels war eine knapp zwanzig Schritt hohe Säule, die seitlich aus der geröllbedeckten Flanke des Mulawa, des höchsten Gipfels weit und breit, aufragte.
Endlich erreichten sie das Plateau. Es war über und über mit Knochen bedeckt. Menschenknochen. Hazrat legte behutsam den Leichnam Masuds auf den Fels und schlug die Decken zurück. Bamiyan blickte ein letztes Mal in das schmale, ausgezehrte Antlitz seines Bruders. »Schlafe wohl, großer Jäger. Möge deine Seele zu den Göttern fliegen«, sagte er feierlich.
Hazrat reichte ihm die Decken und nahm die schwere Axt. »Noch etwas?«
Bamiyan sah zum Himmel hinauf, wo der Geier kreiste. »Ich wünschte, ein Adler würde ihn holen.«
»Dabei kann ich vielleicht helfen.« Der Vogelmann rieb Daumen und Zeigefinger aneinander.
»Ich habe ein Schneeleopardenfell. Wenn ein Adler kommt, ist es dein.«
Hazrat hob die Brauen. »Ein fürstlicher Lohn.«
»Du kriegst es nur, wenn ein Adler kommt.« Bamiyan wollte es nicht verkaufen, und behalten wollte er das Fell auch nicht. Nach dem Tod seines Bruders war er in die Berge gestiegen und erst zurückgekehrt, nachdem er den Leoparden erlegt hatte, der Masud getötet hatte.
»Geh nun besser.« Hazrat spuckte sich in die Handflächen und verrieb den Speichel. Dann hob er die Axt.
Bamiyan beeilte sich. Noch bevor er den Abstieg erreichte, hörte er den ersten dumpfen Schlag, begleitet von einem grässlichen Knacken. Mein Bruder ist nur noch totes Fleisch, sagte er sich stumm und dachte an Masud, wie er stets lachend von der Jagd heimgekommen war. Das da oben hatte nichts mehr mit ihm zu tun!
In den Bergen war es schwer, einen geeigneten Platz für ein Gräberfeld zu finden. Die Orte, an denen man tiefer als einen halben Fuß graben konnte, waren rar. Nicht so wie auf den Hochebenen, wo die Bauern den Toten richtige Lehmhäuser errichteten. Auch Holz gab es zu wenig, um die Leichen zu verbrennen. Also trug man sie in den Himmel hinauf, zu besonderen Felsnestern, wo nur die Adler und die großen Geier sie finden konnten. So hatte ihr Fleisch einen Nutzen. Die blanken Knochen brachte der Vogelrufer vor Einbruch des Winters in eine geheime Höhle.
Wieder hallte ein dumpfer Axthieb vom Hochplateau. Bamiyan kauerte sich auf eine der Treppenstufen, die aus dem Fels geschlagen waren, und blickte auf das weite, von rotbraunen Bergen gesäumte Tal. Im Westen wand sich ein schmaler, silberner Strom durch das Geröll. Nur dort gab es ein wenig Grün. Es war ein trockener Frühling gewesen, und die Alten waren sich sicher, dass ein heißer Sommer folgen würde. Ein schlechtes Jahr für die Herden.
Er dachte an die großen Heere, die sich drei Tagesreisen entfernt auf der Hochebene von Kush versammelten. Es wurde viel darüber gesprochen. Einige Jäger hatten die fremden Krieger von ferne beobachtet. Niemand verstand, warum sich die Unsterblichen von Luwien und Aram ausgerechnet hier eine Schlacht liefern wollten. Sie würden das trockene Land mit Strömen von Blut tränken. Das war gut. Die Götter mochten es, wenn Blut vergossen wurde. Bamiyan hoffte, dass Russa dann endlich die Wolken zusammentreiben und einen langen Regen schicken würde.
Laute Schreie schreckten Bamiyan aus seinen Gedanken auf. Der Geier über ihm am Himmel krächzte ärgerlich. Dann tauchte er über den linken Flügel ab und schoss keine zehn Schritt von Bamiyan entfernt dem weiten Tal entgegen.
Schwere Schritte kamen den Saumpfad hinab. Hazrat. Schweiß glänzte auf der Stirn des Vogelrufers. Die blutige Schneide der Axt ragte hoch über seiner Schulter auf. Bamiyan versuchte nicht hinzublicken.
»Der Geier ist fort.« Hazrat ließ sich mit einem Seufzer auf dem Saumpfad nieder. »Musste ihn mit Steinwürfen vertreiben. Die Götter mögen es nicht, wenn wir Menschen uns in dieses Geschäft einmischen.«
Bamiyan schwieg. Die, die ein Adler holte, würden mit Russa eine Nacht lang über den Himmel stürmen und im gleißenden Licht von Blitzen auf den Winden reiten. Diejenigen aber, an denen zunächst Geier nagten, waren ein Nichts. Auf sie würde der Gott der Berge niemals hinabblicken.
Hazrat holte eine weiße Flöte unter seinem speckigen Lederwams hervor. Seine Hände waren voller Blut.
»Es ist nicht, was du denkst …«
Es waren diese Worte, die Bamiyan genauer hinsehen ließen. Die Flöte war aus einem Oberschenkelknochen gefertigt! Einem Menschenknochen.
»Du hast …«
»Nein«, grunzte Hazrat. »Ich sagte doch, es ist nicht, was du denkst. Das stammt von irgendeinem Fremden. Ich hab seine Leiche im letzten Sommer dort unten bei dem kleinen Wäldchen an der weiten Flussschleife gefunden. Er war keiner von hier. Vielleicht ein verirrter Händler. Hatte allerdings kein Lasttier bei sich. Natürlich auch kein Wolfsfell. Ich hab ihn nach hier oben auf die Tafel des Himmels gebracht.« Hazrat klopfte sich mit der Knochenflöte auf den Oberschenkel. »Das hier war sein Lohn für meine Mühen. Ein Fremder wäre ohnehin niemals mit Russa über den Himmel geritten. Es macht nichts, wenn ihm ein Knochen fehlt.«
Bamiyan nickte. Was Hazrat sagte, stimmte. Fremde würde Russa nicht an seiner Seite dulden. Er ritt allein mit den Jägern und Hirten der Berge. Selbst die Bauern auf den Hochebenen verachtete er.
Nicht weit entfernt segelte der Geier in weiten Kreisen über dem Tal. Bamiyan beobachtete den Vogel. Wollte er zurückkehren?
»Sind klug, diese Geier«, sagte Hazrat und strich über die Knochenflöte. »Er weiß, dass ich ihn jetzt nicht hier haben will. Er will keinen Ärger mit mir. Ist ein guter Fressplatz.« Er setzte die Flöte an die Lippen und brachte ein paar schrille Töne hervor. Ärgerlich runzelte er die Stirn und murmelte etwas, um den Geist des toten Reisenden zu besänftigen. »Sind viele gestorben in diesem Frühjahr«, sagte der Vogelrufer unvermittelt. »Der Wunderheiler fehlt … Was wohl aus ihm geworden ist?«
Erneut setzte er die Flöte an. Vorsichtig blies er sie an. Diesmal klang es besser. Er lockte eine Reihe aufsteigender Töne aus dem Beinknochen, dann begann er eine melancholische Weise zu spielen.
Bamiyan saß auf der steinernen Stufe, starrte auf die Berge auf der anderen Seite des Tals. Er dachte an seinen Bruder. An all die wunderbaren Augenblicke, die sie miteinander geteilt hatten. Obwohl das Lied sein Herz berührte, half es ihm, die Erinnerung zu ertragen. Und die Gewissheit, dass sie nie wieder miteinander lachen würden.
Die Sonne stand als flammend rote Kugel über den Bergen im Westen, als ein Steinadler kam. Der Geier drehte ab, als er den König des Himmels bemerkte.
Hazrat spielte weiter, ohne Unterlass, und der Adler landete über ihnen auf der Tafel des Himmels. Bamiyan konnte hören, wie sich der große Vogel zwischen den bleichen Knochen bewegte. Erleichtert stand der junge Jäger auf. Masud würde in der nächsten Gewitternacht mit Russa über den Himmel reiten. Sein Bruder würde glücklich sein.
Langsam stieg Bamiyan den steilen Pfad hinab. Vor dem schwarzen Zelt angekommen, nahm er das Schneeleopardenfell aus dem Tuchbeutel und legte es in den Eingang. Hazrat hatte es sich verdient!
Der Jäger strich seiner Stute über die Stirn und blickte ihr in die großen, dunklen Augen. »Du musst mich zum verfluchten Tal tragen. Ich werde herausfinden, was mit dem Wunderheiler geschehen ist.«
Füchse und Wölfe
Artax hatte eine einfache Tunika angelegt. Freilich, sie war aus gutem Tuch gefertigt, doch wies nichts an ihm darauf hin, dass er der Hochkönig Arams war. Gut, wenn man die Leibwache zu übersehen vermochte, die ihm mit zwei Schritt Abstand folgte. Aber für einen Unsterblichen waren sie eine ungewöhnliche Garde. Der einarmige Kolja, Volodi, der Träumer, und all die anderen zwielichtigen Gestalten. Sie trugen Bronzerüstungen und Helme mit prächtigen Rosshaarschweifen, aber all der Prunk vermochte nicht darüber hinwegzutäuschen, was sie einmal gewesen waren. Piraten, Halsabschneider, Söldner. Königliche Leibwachen steckten sich nicht den Gürtel voller Dolche, trugen zwei Schwerter auf den Rücken geschnallt oder tauschten ihre Speerspitzen gegen Stichblätter aus, lang wie Kurzschwerter. Artax musste grinsen. Und dann noch die Jaguarmänner und Adlerritter aus Zapote, die jenseits der Hügel außer Sichtweite des Heeres lagerten. Das war wahrlich keine Truppe, wie man sie in zivilisierten Ländern auf ein Schlachtfeld führte. Mit diesen Männern könnte er siegen, auch wenn seine Feinde nicht daran glaubten.