Eine Bö heulte durch die Klippen über ihm und riss einen Gischtgeist aus dem Wasserfall. Wie ein Leichentuch breitete sich die Wolke aus feinem Sprühwasser über ihm aus und senkte sich langsam herab. Er glaubte Gesichter in dem Dunst zu sehen, schreiende Fratzen. Bamiyan war unfähig, sich zu rühren. Er starrte nach oben.
Die Berührung war eisig. Die Kälte durchdrang seinen Körper und fraß sich bis tief in seine Knochen. Das war die letzte Warnung des Geistes, der über das Tal wachte. Bamiyan hatte verstanden. Er blickte zum Wasserfall. Hatte sich dort hinter dem Schleier aus Gischt etwas bewegt? Eine durchscheinende Gestalt, umflossen von langem Haar? Er blinzelte. Nein, da war nichts! Nur Wasser.
Der Jäger zog seinen Dolch. Nur drei Schritt trennten ihn noch vom Rand des Teichs. Er musste ins Wasser blicken. Das war er seiner Ehre schuldig. Dann konnte er fliehen. Und nie, nie wieder würde er an diesen verfluchten Ort zurückkehren.
Bamiyan machte drei hastige Schritte. Das Wasser des Teichs war aufgewühlt und voller weißer Gischt. Er konnte nur undeutlich sehen, doch der Wunderheiler lag nahe beim Ufer. Reglos, ganz und gar vom Wasser überspült. Etwas Längliches, Hautfarbenes wand sich über seinen Bauch. Eine Schlange? Fraß sie von seinem Kadaver?
Der Jäger wollte schon zurückweichen, als der Mann im Wasser unvermittelt die Augen aufschlug. Er sah zu ihm auf. Er lebte! Das war … der Geist des Tals. Er musste den heiligen Mann verhext haben. Bamiyan beugte sich vor, als das Wasser plötzlich zu brodeln begann. Er konnte nicht länger auf den flachen Grund des Sees hinabsehen. Etwas Durchscheinendes schnellte hoch.
Erschrocken wich Bamiyan zurück. Das Wasser schäumte auf. Eine Schreckensgestalt wuchs daraus empor. Der Geist eines Weibes, mit langem Haar. Das Gesicht vor Zorn verzerrt.
»Lauf um dein Leben, Jäger!« Die Stimme klang, als käme sie tief aus dem Wasser.
Eisige Kälte ließ das Wasser knistern. Eine dünne Haut aus Eis bildete sich über dem See und wurde vom stürzenden Wasser sofort wieder zerschlagen.
Bamiyan stand in dichten Wolken der Atem vor dem Mund. Er taumelte weiter zurück, stürzte fast.
Ein Wort, kalt und unmenschlich, drang aus den Tiefen des Teichs. Ein Wort, das nicht für Menschenzungen geschaffen war. Die drohend erhobenen Arme des Geistes zersplitterten, und Tausende messerscharfe Eisstücke stürmten Bamiyan entgegen.
Der Jäger riss schützend die Arme vor sein Gesicht, als ihn der Eissturm traf. Scharfe Kanten zerschnitten seine Haut und das Leder seiner Weste. Eissplitter fuhren durch sein Haar und schrammten über seinen Kopf. Warmes Blut rann ihm in die Augen. Sprachlos vor Entsetzen, wich er weiter zurück. Das Eis umtanzte ihn. Stieß immer wieder zu. Versuchte ihm die Augen aus den Höhlen zu schälen.
Geblendet von seinem Blut, fuhr Bamiyan herum. Immer noch schützend die Arme vor das Gesicht gehoben, rannte er los, wie er noch nie zuvor in seinem Leben gerannt war.
König Geisterschwert
Rauch brannte in Bamiyans Augen. Er hielt den Blick gesenkt, starrte in die Glut des Feuers. Der Steinrat hatte ihn gerufen. Es war eine seltene Ehre, dass ein so junger Jäger wie er vor die neun trat, die in ihrer Gemeinschaft die Nachfolger des Heiligen Zarud waren. Selbst sein Bruder Masud war nie vor den Steinrat berufen worden.
»Deine Geschichte, Bamiyan, erfüllt uns alle mit tiefer Sorge«, erklärte Gatha, ein zahnloser Schamane, dem das zottelige weiße Haar bis zu den Hüften hing. »Wir können diesen Geist nicht länger in unseren Bergen dulden. Der Heilige Mann muss aus dem See gerettet werden. Er ist zu uns gekommen, um uns in unserer Not zu helfen. Wir wären ohne Ehre, wenn wir ihn nun in seiner Not im Stich lassen würden.«
Die übrigen Mitglieder des Steinrates nickten zustimmend. Bamiyan sah es nur aus den Augenwinkeln. Er vermied es, sie direkt anzusehen. Vor allem den Schamanen Gatha. Es hieß, der Alte könne einem allein durch einen Blick seinen Willen aufzwingen. Und Bamiyan wollte nicht zurück ins Tal der Geister.
»Wie sollen wir gegen einen Geist kämpfen, Gatha?«, fragte ein rotbärtiger Jäger, den Bamiyan nicht mit Namen kannte. »Wir haben keine Waffen, um ihn zu besiegen. Und schau dir den Jungen an. Er hat Glück gehabt, dass er keines seiner Augen verloren hat.«
»Dass er lebend davongekommen ist, gilt mir als Beweis, dass der Geist schwach ist«, entgegnete Gatha ruhig. »Wir werden ihn überwinden.«
»Und, wirst du auch dabei sein?«, beharrte der Rotbart.
»Wir alle sollten mitgehen.« Gatha schob sein verfilztes Haar beiseite, sodass man den Messergriff sehen konnte, der aus seinem breiten Gürtel ragte. Er zog die Waffe und legte sie neben die Feuerstelle. Die breite Klinge des Dolches war grün angelaufen, der Knochengriff mit den Jahren gelb geworden.
»Erinnert ihr euch, warum wir diese Messer tragen?«, fragte Gatha. »Zeigt sie mir. Legt sie neben das Feuer. Und sollte einer unter euch nicht bereit sein, in das Tal der Geister zu gehen, dann möge er seinen Dolch liegen lassen und diesen Ort verlassen, denn er ist nicht würdig, dem Steinrat anzugehören, den der Heilige Zarud begründete.«
Acht weitere Dolche wurden neben die Feuerstelle gelegt. Und keiner der Männer erhob sich.
Ehrfürchtig betrachtete Bamiyan die Griffe. Sie alle waren aus den Knochen des Heiligen Zarud gefertigt. Einst war Zarud ein einfacher Jäger wie er gewesen. Aber dann wurde er in den Bergen von einem Blitz getroffen. Der Heilige überlebte, doch lag er eine Woche lang in tiefem Schlaf. Als der Blitz ihn traf, begegnete er Russa. Der Gott sprach zu ihm und erwählte Zarud zu seinem Boten. Fortan rührte der Heilige keine Waffe mehr an. Sein Ansehen wuchs über die Jahre, und schließlich hörten alle wilden Stämme der Berge auf sein Wort. Es war das einzige Mal in der Geschichte Garagums, dass ein einzelner Mann die Völker der Berge unter seinem Willen vereinte. Weil Zarud wusste, dass dieser Bund nicht über seinen Tod hinaus Bestand haben würde, berief er noch auf seinem Totenlager neun Weise und Jäger und begründete den Steinrat. Er verfügte, dass ein jeder von ihnen einen Dolch erhalten sollte, in den seine Gebeine eingearbeitet waren. Und jeder der neun sollte aus eigenem Ermessen einen Nachfolger wählen, wenn seine Zeit gekommen war, aus dem Steinrat zu scheiden.
»Bamiyan?« Es war Gatha, der ihn angesprochen hatte. »Du wirst uns zu dem See bringen. Wir müssen den Geist überraschen, wenn wir ihn mit den heiligen Dolchen töten wollen.«
»Ich … ich glaube nicht, dass man ihn überraschen kann«, antwortete er verlegen. »Er … Ich glaube, es ist ein Weib. Es war eine Gestalt mit langem Haar, die aus dem Wasser stieg.«
Gatha lachte. »Auch ich bin eine Gestalt mit langem Haar, aber noch lange kein Weib. Wenn es ein Weib ist, wird es umso leichter sein, sie zu überwältigen. Ich hatte schon gedacht, dass es ein schwacher Geist sein muss. Schließlich bist du lebend davongekommen.«
Bamiyan schoss das Blut in die Wangen, aber er sagte nichts. Er war davongelaufen, daran ließ sich nicht rütteln. Nur schwach, das war dieser Geist ganz gewiss nicht! Immer noch war er über und über mit Schnittwunden bedeckt.
»Wenn du dich irrst, Gatha, dann vernichtest du den Steinrat«, gab der Rotbart zu bedenken. »Wir sollten König Geisterschwert um Hilfe bitten. Dieser Teil Garagums gehört zu seinem Königreich. Es ist seine Pflicht, uns zu helfen.«
»Der Unsterbliche war, solange ich lebe, noch nie zuvor in dieser Provinz.« Gatha kratzte sich unter seinem Bart. »Wie kannst du glauben, er würde kommen, wenn du ihn rufst? Er hat andere Dinge im Kopf, als uns zu helfen. Er will hier seine Schlacht schlagen. Und wir hatten auf unserem letzten Rat beschlossen, keinen der beiden Unsterblichen zu unterstützen. Die Götter allein wissen, wer bald unser Herrscher sein wird. Wenn wir jetzt eine falsche Entscheidung treffen, werden unsere Stämme es bald bereuen.«
»Und was geschieht mit unseren Stämmen, wenn der Geist im Teich mächtiger ist, als du glaubst? Sieh dir Bamiyan an. Sieh hin! Er kann von Glück sagen, dass er nicht geblendet wurde. Wenn der Geist einen Sturm von Eissplittern gegen den Jungen schleuderte, warum sollte er das nicht auch gegen neun alte Männer tun können? Glaubst du etwa, unsere Dolche werden uns beschützen? Willst du wirklich wagen, dass unser Volk in diesem Jahr voller Krieg und Veränderung den Steinrat verliert?«