»Schön, dich zu sehen, Tylwyth.« Nandalee saß noch immer auf ihm. Die Brüste unbedeckt. Gonvalon wäre am liebsten im Waldboden versunken. Was bildete sie sich ein! Dachte sie denn gar nicht an seine Würde?
»Schicken euch die Himmelsschlangen?« Diese Stimme war dunkler. Etwas Kaltes, Unbarmherziges lag in ihr.
Nandalee erhob sich, und Gonvalon war nur einen Augenblick später auf den Beinen.
Der Elf, den Nandalee Tylwyth genannt hatte, wirkte nun angespannt. Er hatte seinen Bogen ein wenig angehoben.
Der Schwertmeister sah den Bogenschützen lächelnd an. »Du weißt, wer ich bin?«
Tylwyth nickte.
Gonvalon beugte sich vor und zog sein nasses Hemd aus. »Sieh dir meinen Rücken an. Mich wird nie wieder eine Himmelsschlange schicken.«
Ein Schatten trat unter den Bäumen hervor. Eine Gestalt, deren Antlitz von einer tief ins Gesicht hinabgezogenen Kapuze verborgen wurde. Gonvalon hatte von ihm gehört. Als er den Namen Tylwyth vernommen hatte, hatte er gewusst, wer noch im Schatten lauerte. Cullayn hatte selbst unter Drachenelfen einen Ehrfurcht gebietenden Ruf. Allerdings galt er als kalt und völlig unberechenbar.
Wenn er gewusst hätte, dass Nandalee sich mit diesem Mörder treffen wollte, wäre er nicht mit ihr in den Wald der Maurawan gekommen. Nein, er wäre doch mit ihr gekommen, aber er hätte versucht, es ihr auszureden. Während der Tage ihrer Wanderschaft durch den Wald hatte sie ihm nicht verraten wollen, wen oder was sie hier suchte, so weit entfernt vom Königsstein, ihrem eigentlichen Ziel. Er hatte nicht dagegen aufbegehrt, weil er den Tag fürchtete, an dem sie die Trollfestung erreichten. Er kannte den Königsstein nur aus Geschichten. Aber er wusste, dass es dort Hunderte Trolle gab. Ihre Aussichten, dort lebend wieder herauszukommen, waren gering. All seine Hoffnungen richteten sich darauf, dass sie es nicht einmal schaffen würden hineinzukommen, sodass sie irgendwann unverrichteter Dinge wieder abziehen müssten. Natürlich hatte er Nandalee davon nichts gesagt.
»Du kannst dein Hemd wieder anziehen, Schwertmeister. Für mich zählt nicht, was ich sehe. Ich weiß, dass ihr alle Zauberweber seid, die Dinge zu tun vermögen, die ich mir noch nicht einmal vorzustellen vermag.« Er nahm den Pfeil vom Bogen. »Das Einzige, was für mich zählt, ist Nandalees Wort. Ihr kommt nicht von den Himmelsschlangen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, wir sind vor ihnen davongelaufen.«
Tylwyth wirkte erschrocken, Cullayn aber ließ sich nichts anmerken. »Dein Jagdgefährte wirkt verfroren, Nandalee. Mach bitte ein Feuer für uns, Tylwyth.«
»Ein Feuer!« Gonvalon war entgeistert. »Ich dachte …«
»Sieh und schweige!«
Nandalee legte ihm die Hand auf den Arm. »Bitte. Er ist eigentlich gar nicht so, wenn du ihn näher kennenlernst.«
Gonvalon glaubte ihr kein Wort, aber er hielt sich zurück. Sie erzählte dem Maurawan von der Schlacht um die Tiefe Stadt, von Duadans Tod und auch davon, wie Fenella gestorben war.
Noch während sie redete, holte Tylwyth einen Rucksack aus dem Wald. Er legte einige Steine zusammen und stellte eine eiserne Schale darauf. In ihr stapelte er trockenes Holz und entfachte ein Feuer.
Gonvalon rang nur kurz mit seinem Stolz. Dann hockte er sich davor und hielt die Hände den Flammen entgegen. Es tat gut, endlich wieder Wärme zu spüren.
Nachdem Nandalee ihre Geschichte beendet hatte, legte Cullayn seine Hände an den Saum seiner Kapuze. »Du willst also zu den Trollen?«
»Das schulde ich meiner Sippe«, antwortete Nandalee mit fester Stimme.
»Dann sieh, was dich dort erwartet.« Mit diesen Worten schlug der Maurawan seine Kapuze zurück.
Wohin keiner geht
Gonvalon hatte in seinem Leben schon viele Narben gesehen, aber Cullayns Gesicht war so grausam entstellt, dass er sich zwingen musste, nicht wegzublicken. Er hatte das Gefühl, dass der Maurawani auf diese Reaktion wartete.
Das ganze Antlitz wirkte verrutscht. Der Schädelknochen selbst war deformiert. Sein Kopf hatte eine unnatürliche Form. Dass der Jäger diese Verletzung überlebt hatte! Eine Gnade war es mit Sicherheit nicht.
Gonvalon dachte an seine kläglichen Versuche, Bronzeskulpturen herzustellen. Stets hatte er damit begonnen, ein Modell aus weichem Ton zu fertigen, von dem dann später eine Abgussform genommen werden sollte. Meist waren es Büsten gewesen, an denen er sich versucht hatte. Er erinnerte sich gut, wie er den Ton zusammengedrückt hatte, wenn er mit seinen Modellen nicht zufrieden gewesen war. Cullayn erinnerte ihn an einen dieser zusammengedrückten Köpfe aus weichem, rotem Ton.
»Das ist, was jene erwartet, die sich mit Trollen anlegen«, erklärte der Elf bitter. »Vor sehr langer Zeit haben sie meine Geliebte getötet. Ich war auf der Jagd mit ihr tief in die Snaiwamark vorgedrungen. Trollland. Wir beide wussten das. Ein Trupp ihrer Jäger hat uns gestellt. Sie haben Sybelle getötet. Und ich tötete sie. Nicht ohne meinen Preis zu zahlen. Wie es kam, dass ich den Keulenhieb überlebte? Ich weiß es nicht. Warum ich nicht im Schnee erfroren bin, obwohl ich für mehrere Tage bewusstlos gewesen sein muss?« Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht haben die Alben mich gerettet. Oder sollte ich sagen, bestraft? In mein Antlitz zu blicken fällt selbst den Tapfersten nicht leicht.«
»Und trotzdem hast du niemals aufgegeben, die Trolle dafür zu strafen, was sie dir angetan haben«, sagte Nandalee kämpferisch. »Kaum einer kennt die Snaiwamark wie du. Du hast mir erzählt, wie du mit Tylwyth hinaus auf die weiten Eisebenen segelst und die Trolle jagst.«
Cullayn nahm einen dürren Zweig aus dem Holzvorrat neben der Feuerschale, brach ihn durch und stocherte damit in der Glut. »Vielleicht tue ich es, weil ich von boshaftem Charakter bin. Vielleicht ist mein Antlitz ja ein Spiegel meiner Seele. Ganz gleich, wie viele Trolle ich töte, Sybelle wird davon nicht wieder lebendig. Und wenn ihre Seele dereinst wiedergeboren wird, glaubst du, ich könnte je wieder ihre Liebe gewinnen, mit diesem Gesicht? Wenn ich in die Snaiwamark gehe, dann ist mein eigentlicher Grund vielleicht, dass ich den Tod suche.«
Gonvalon fragte sich, was Tylwyth wohl dazu bewog, mit diesem Verzweifelten gemeinsam zu jagen. Er schien in allem das genaue Gegenteil von Cullayn zu sein. Gepflegt, hübsch anzuschauen und von fröhlichem Naturell.
»Ich werde in den Königsstein gehen und dort nach den überlebenden Windwanderern suchen«, sagte Nandalee mit eisiger Entschlossenheit.
»Wie groß sind die Aussichten, dort noch Überlebende zu finden?«, entgegnete Cullayn nüchtern. »Wie lange ist es her, dass sie Duadan und Fenella von dort fortgebracht haben? Sechs Wochen? Zwei Monde? Wenn wir mit dir gehen sollten, wagst du vier Leben. Für was? Treibt dich der Wunsch nach Rache an? Oder ist es wirklich die Hoffnung, noch Überlebende zu finden?«
Nandalee schluckte. »Es ist … Ich könnte nicht mit der Ungewissheit leben. Sie sind meinetwegen dort. Ich schulde es ihnen, alles versucht zu haben«, sagte sie ungewöhnlich kleinlaut.
»Und deshalb willst du in den Königsstein?« Cullayn schüttelte sacht den Kopf. »Weißt du, was dich dort erwartet? Der Eingang zu den Höhlen liegt am Ende einer kurzen Schlucht, flankiert von steilen Felswänden. Es gibt dort keine Deckung. Und es tummeln sich in der Schlucht immer reichlich Trolle. Es ist so gut wie unmöglich, dort ungesehen hineinzukommen.«
Gonvalon war erleichtert. Vielleicht schaffte Cullayn ja, was ihm nicht gelungen war – Nandalee diesen Unsinn auszureden.
»Du hattest von einer Jagd erzählt, die dich bis zur Nordflanke des Königssteins geführt hat …« Nandalee sah den Maurawani erwartungsvoll an. »Du erinnerst dich doch?«
Tylwyth und Cullayn tauschten einen langen Blick. Wieder fragte sich Gonvalon, welches Band zwischen den beiden bestand. Es war unübersehbar, dass sie keine Worte benötigten, um ihre Gedanken und Gefühle auszutauschen.
»Ich hätte von diesem Ort nicht erzählen sollen, Nandalee. Ich fürchte, ich war in der Stimmung, ein wenig bei dir anzugeben. Es gibt hoch am Nordhang einen gefrorenen Wasserfall. Darüber liegt der Eingang zu einer Höhle …« Cullayn streckte die Hände dem Feuer entgegen, als sei ihm plötzlich kalt. »Niemand, der noch bei Verstand ist, geht dorthin. Selbst die Trolle fürchten diesen Platz. Es gibt nur Gerüchte, was dort haust … Eine Kreatur des Fleischschmiedes. Etwas Großes, Unüberwindliches.«