Etwas war tatsächlich schiefgegangen. Und das Niederträchtigste an diesem Fehler war, daß Manny Littlejohn hier in eine Grube stolperte, die er sich selbst gegraben hatte. Er hatte erwartet, daß auch jemand vom Dorf am Bahnhof aufkreuzen würde, um ihn zu begrüßen. Mit geradliniger Doppelsinnigkeit verlangte er, daß sein Besuch sowohl eine Überraschung als auch ein Ereignis mit dem ihm zustehenden Protokoll sein sollte. Bei seinen früheren Besuchen hatte man dieses Problem zufriedenstellend gelöst. Als unerwarteter Besuch sollte er natürlich unangemeldet im Dorf eintreffen. Aber als Gründer hatte er Anspruch auf den schuldigen Respekt. Bei früheren Gelegenheiten hatte eine Reihe von glücklichen Zufällen dieses Paradox möglich gemacht. Seitdem bestand er auf diese Zufälle. Aber wo waren sie? Wo?
Er verließ seinen roten Teppich und ging, verfolgt von zehn ängstlichen Augenpaaren, bis zum Ende des Bahnsteiges, wo dieser in eine Terrasse mündete, die Ausblick auf den Fluß bot. Er verriet seinen Begleitern nichts – durfte ihnen ja gar nichts davon verraten – von dem Konflikt, der in seinem Innern tobte. Unter ihm tobten Motorboote über das Wasser. Die Luft war drückend. Nach sieben regenlosen Wochen wurde selbst das Wasser faulig. Er wartete eine Idee länger, als es seiner Würde zukam; doch kein glücklicher Zufall passierte. Das Dorf hatte keinen Abgeordneten geschickt. David Silberstein hatte das in ihn gesetzte Vertrauen enttäuscht.
Er kehrte zu seinen Kreaturen, die sich am Ende des roten Läufers wie zu einem Gruppenbild versammelt hatten, zurück.
»Es ist ein schöner Tag heute«, sagte er. »Der Fluß scheint belebter als sonst.«
Milde Worte, milde Stimme, mildes Lächeln. Jemand würde dafür büßen müssen.
»Krancz«, sagte er zu seinem Leibwächter, »Sie kommen mit mir. Der Rest kann sich inzwischen mit einer geeigneten Beschäftigung die Zeit vertreiben. Ich schlage vor, daß der Stationsvorsteher etwas gegen den Schmutz auf seinem Bahnhof tut. Max sollte alles noch einmal in Ruhe überdenken und sich nicht einbilden, daß ich mich so leicht hinsichtlich meiner Finanzen täuschen lasse.« Er hob entschuldigend eine Augenbraue, um den Vorwurf etwas abzumildern. »Helga sollte ihre anatomischen Lehrbücher büffeln. Sie scheint unter der Zwangsvorstellung zu leiden, daß alle Muskelschmerzen nur durch die Massage des Penis beseitigt werden können. Und Manuel sollte ein paar Tonleitern üben. Der Paganini gestern abend war lausig.« Er tätschelte den Arm des Gitarristen, um ihm zu zeigen, daß er es nicht so meinte, wie er es sagte. »Die anderen widmen sich dringenden Aufgaben. Ich werde mir später anhören, wie weit sie damit gekommen sind.«
Er winkte Krancz zu sich, und sie schritten nebeneinander energisch zum Ausgang. Die Gruppe hinter ihm löste sich erst auf, als Littlejohn ihr den Rücken zudrehte. Dann spritzten sie auseinander. Nur der Stationsvorsteher blieb zurück, um den roten Seidenteppich einzurollen. Vergeblich zermarterte er sich den Kopf, was er denn noch tun konnte, um seinen makellos sauberen Bahnhof noch makelloser zu machen.
Draußen auf der Straße blieb Manny Littlejohn kurz stehen. Wenn er ging, tat er das rasch. Er hoffte nur, daß man nicht bemerkte, wie ihm der Atem dabei knapp wurde.
»Ich habe mich schlecht aufgeführt, Krancz. Sie hätten mich unterbrechen müssen.«
»Schlecht aufgeführt?« Ein unmöglicher Gedanke. »Ich glaube nicht, Sir.«
»Ich hasse Speichellecker. Ich weiß, daß ich mich schlecht aufgeführt habe, und Sie wissen es auch.«
Der Leibwächter verbeugte sich steif – eine europäische Geste, die man nach Belieben auslegen konnte. Manny Littlejohn deutete sie als formgerechte Entgegennahme einer Entschuldigung eines Arbeitgebers und setzte sich wieder in Bewegung, zufrieden und versöhnt mit sich selbst.
Sie schritten zwischen den schmalbrüstigen, eiskremfarbenen Häusern dahin, Krancz immer einen Schritt hinter seinem Arbeitgeber, immer auf dem Sprung. Touristen drängten sich auf den Gehsteigen, teils nackt, teils klugerweise ihre nicht ganz perfekten anatomischen Stellen mit hellen Sommerkleidern bedeckend. Drogenberauschte Gruppen saßen auf Türschwellen und sangen von blauen Bäumen, tanzenden Bergen und menschlichen Elefanten und Strömen, die bergaufwärts flossen. Ein Mann mit weißen Brüsten stand unter der Tür eines Maxi-Sex-Ladens. Es war ein friedlicher Nachmittag, heiter und warm. Und die Menge war so glücklich, daß sie nicht einmal drei bewaffnete Polizisten auspfiffen, die ein Paar daran erinnerte, daß vor kurzem das Gesetz in Kraft getreten war, das den Coitus auf öffentlichen Plätzen verbietet.
Manny Littlejohn marschierte energisch durch die buntgemischte Menge und verachtete sie mit gewohnter Höflichkeit.
Vor der Kneipe zu den Goldenen Brüsten (die Ketchup-Flaschen aus Plastik, die sich der Wirt hatte extra anfertigen lassen, wurden ihm schon in der ersten Woche nach Eröffnung des Schankbetriebes gestohlen) wurde Manny Littlejohn auf eine Bewegung in der Menge aufmerksam. Krancz wollte vorwärtsstürzen, doch Littlejohn winkte ihn zurück. Er sah jetzt deutlich, was vorging. Ein freundlicher Fischer in blauem Hemd und Blue Jeans bahnte sich einen Weg durch die Menge müßiger Touristen.
»Gründer! Was für eine Überraschung, Sie hier zu treffen, Sir!«
»Ja. Obwohl etwas verspätet, ist es immer noch ein erfreulicher Zufall.«
»Nun, Sir, wir sollten eigentlich – ich meine, wir wollten eigentlich bei der Regatta zuschauen und uns auf die Terrasse neben dem Bahnsteig stellen. Doch Merv dachte, wir hätten noch genug Zeit und könnten uns hier rasch einen Drink genehmigen.«
»Regatta?« Das letztemal war es eine Sammlung für Witwen ertrunkener Fischer gewesen. »Ich habe keine Regatta gesehen.«
Der Mann starrte auf die Zehen seiner schweren Fischerstiefel. »Es tut mir sehr leid, daß wir Sie nicht rechtzeitig abgeholt haben, Sir.«
»Einen Fehler macht jeder einmal, James.« Er hoffte, sich damit die Anhänglichkeit des Mannes einzuhandeln, so daß er in Zukunft mehr als seine bezahlte Pflicht tat … »Sie heißen doch James, nicht wahr?«
Das ganze Dorf wußte, wie stolz der Gründer auf sein Namens- und Personengedächtnis war. »Richtig, Sir«, sagte James, den seine Freunde unter dem Namen Maurice kannten.
»Und Ihr Freund Mervyn? Wo ist der abgeblieben?«
»Merv?« – er war so begierig, Auskunft zu geben – »Merv ist im Goldenen Pinsel und unterhält – äh trinkt sein Glas leer.«
Es war zu spät. Der Zungenschlag war geschehen. Unterhaltungen mit Fremden war streng verboten. Eine Unterhaltung war der erste Schritt zu einer Bekanntschaft, und eine Bekanntschaft war der erste Schritt zum Verrat. Dorfbewohner, die redeten – mit irgend jemand außerhalb der Dorfgemeinschaft – waren nicht mehr tragbar. Manny nickte seinem Leibwächter zu, und Krancz glitt durch die Menge wie ein Ultraschallbohrer. James blieb nichts anderes übrig, als stehenzubleiben. Durch die Gasse, die Krancz hinter sich gelassen hatte, konnte Manny Littlejohn die Theke sehen, die übereinandergetürmt synthetischen Schinkenbrötchen und Merv im blauen Überzieher. Er plauderte mit dem Mädchen hinter der Theke. Untragbar. Als Krancz die Kneipe betrat, sah Merv ihn im Spiegel hinter dem Tresen. Er konnte sich nicht einmal mehr umdrehen, als Krancz schoß. Er glitt zu Boden. Sein Glas rollte über die Metallisee-Kacheln. Das Mädchen beugte sich interessiert vor.
»Nur ein Beruhigungsschuß.« Krancz sagte das vage in den Raum hinein, falls jemand sich über die Störung beschweren wollte. Doch niemand wollte. Mann hatte so viel über Geschäfte zu reden, über Joints und Fixes und noch verschwiegenere Beschäftigungen. Krancz sammelte Mervs Körper vom Boden. Seine Leiche. Und warf sie über die Schulter.
»Hat er für seinen Drink bezahlt, Ma’am?«