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Markus Heitz

Die Zwerge

»Äußerlichkeiten sind dazu da, um darüber hinwegzusehen, denn im kleinsten und seltsamsten Wesen kann das größte Herz schlagen. Wer die Augen aus Überheblichkeit verschließt, wird dieses höchste Gut nicht entdecken. Weder in sich noch in anderen.«

entnommen aus »Das Buch der Weisheiten eines unbekannten Toten«, in: »Philosophische Sammlungen und Briefe«, gelagert im Hundert-Säulen-Tempel Palandiells zu Zamina, Königreich Rân Ribastur

»Zwerge und Gebirge haben eine Gemeinsamkeit: Man kann sie nur mit einem schweren Hammer und unendlicher Ausdauer bezwingen.«

Volksweisheit aus der Nebel-Mark im nordöstlichen Teil des Königreichs Idoslân, mündlich tradiert

»Um eynem wuetenden Zwerg zu entkommen, bedarf es flinker Beine. Und bedenke: Immer muessest du schneller seyn, als seyne geworfene Axt fliegt. Bist du ihm entkommen, veraendere deyn Aussehen. Ihr Gedaechtnis ist toedlich gut. So kann es geschehen, dass nach zwanzig Sonnenzyklen ploetzlich ein Humpen an deynem Kopf zerschellt und grimmiges Zwergengelaechter in deynen Ohren erschallt.«

entnommen aus den »Aufzeychnungen ueber die Voelker des Geborgenen Landes, deren Eygenheyten und Sonderbarkeyten«, Großarchiv zu Viransiénsis im Königreich Tabaîn, verfasst von Magister Folkloricum M. A. Het im Jahr des 4299sten Sonnenzyklus

Erster Teil

Prolog

Der Steinerne Torweg des Nordpasses im Reich des Fünften, Giselbart, im Jahr des 5199sten Sonnenzyklus, Spätsommer

Weißer Nebel füllte die Schluchten und Täler des Grauen Gebirges. Die Gipfel der Großen Klinge, der Drachenzunge und der anderen Berge erhoben sich trotzig aus dem Dunst und reckten sich der Abendsonne entgegen.

Zögernd, als fürchtete es sich vor den schroffen Felsen, stieg das Gestirn herab und erhellte den Nordpass mit seinem dunkelroten, schwächer werdenden Licht.

Glandallin aus dem Clan der Hammerschlags lehnte sich schnaufend an die grob behauene Wand des Wachturmes und legte die Rechte über die buschigen schwarzen Brauen, um seine Augen vor der ungewohnten Helligkeit zu schützen. Der Zwerg war durch den Aufstieg außer Atem geraten, und das Gewicht des dicht geflochtenen Kettenhemdes, der beiden Äxte und des Schildes drückte schwer auf seine betagten Beine.

Doch Jüngere als ihn gab es nicht mehr.

Die Schlacht, welche die neun Clans des Fünften Stamms vor wenigen Tagen gemeinsam in den Stollen geschlagen hatten, hatte zahlreiche Leben gekostet. Der Tod hatte sich vor allem die Jungen, Unerfahrenen gegriffen. Doch ihr Opfer war nicht vergebens: Der unbekannte Feind war vernichtet.

Dennoch starben seine Freunde weiter, weil eine tückische Krankheit umging, von der keiner wusste, woher sie kam. Sie schwächte die Zwerge, ließ sie fiebern und raubte ihnen die Kraft, den klaren Blick und die sichere Hand. Und so hatte er als einer der Älteren die Pflicht übernommen, in dieser Nacht über den Steinernen Torweg zu wachen.

Von dem hoch gelegenen Aussichtspunkt aus führte der Pfad durch das Graue Gebirge und weiter in das Geborgene Land, wo Menschen, Elben und Zauberer in ihren Reichen lebten. Sein Stamm war es, der dem Land im Norden den Frieden sicherte.

Zwei gigantische Portale aus härtestem Granit verweigerten jedem Scheusal ein Durchkommen. Vraccas, der Gott der Zwerge und ihr Schöpfer, hatte einst die gewaltigen Steinflügel geformt und sie mit fünf Riegeln gesichert, die allein mithilfe geheimer Worte bewegt werden konnten. Nur die Hüter des Pfades kannten die Losung, und ohne die rechte Formel blieb die Pforte fest versperrt.

Vor den mächtigen Türen lagen die ausgeblichenen Knochen und zertrümmerten Rüstungen derer, die sich von dem Hindernis nicht hatten abschrecken lassen. Orks, Oger und andere Scheusale hatten Niederlage um Niederlage erlitten und auf blutige Weise erlebt, dass die Äxte der Zwerge auch nach tausenden von Sonnenzyklen noch scharf waren.

Der einsame Wächter nahm den Lederschlauch vom Gürtel und trank von dem kühlen Wasser, um die trockene Kehle zu befeuchten. Einige Tropfen rannen aus seinen Mundwinkeln und sickerten in den schwarzen Bart. Es hatte Stunden gekostet, das Gesichtshaar zu solch kunstvollen Zöpfen zu flechten, die nun wie dünne Seile auf der Brust baumelten.

Glandallin setzte den Trinkschlauch ab und zog die Waffen aus dem Gürtel, um sie auf die Brüstung des aus dem Berg gemeißelten Turmes zu legen. Die beiden eisernen Axtköpfe klirrten melodisch, als sie den Fels berührten.

Ein orangeroter Sonnenstrahl strich über die polierten Verzierungen und beleuchtete die Runen und Symbole, die dem Träger Schutz, Treffsicherheit und Ausdauer verleihen sollten.

Der Zwergenmeisterschmied und Begründer des Stammes der Ersten, Borengar Weißesse, hatte die Klingen selbst geschmiedet und sie ihm, der aus unzähligen Schlachten am Steinernen Torweg als Sieger hervorgegangen war, zum Geschenk gemacht. Kein Orkschwert, keine Trollkeule, kein Ogerspieß vermochten es, seinen 327 Sonnenzyklen langen Lebensfaden zu durchtrennen – auch wenn es schon genügend finstere Kreaturen versucht hatten, wie die Narben an seinem gedrungenen Körper bezeugten. Aber auch die Macht der Inschriften und seine Rüstung hatten ihm stets treu beigestanden.

So weit der Zwerg blickte, stemmte sich das Bergmassiv als bleifarbener Brocken aus dem hügeligen Land Gauragar empor, das von Menschen besiedelt wurde. Gleich einem Rückgrat wuchs es in die Höhe und schreckte den Wanderer mit Steilhängen, unsicheren Wegen und wechselhaftem Wetter, und so geschah es trotz der Reichtümer des Grauen Gebirges selten, dass sich ein Bewohner Gauragars in diese Gegend begab.

Allein sein Volk lebte in den Schatten dieser zerklüfteten Gipfel. Die Zwerge vom Stamm des Fünften, Giselbart Eisenauge, errichteten ihr unterirdisches Reich im harten Fleisch des nördlichen Hochlandes. Sie gruben Schächte, erbauten kunstvolle Hallen, schufen die heißesten Feuer und trieben Säle aus dem Fels, um fernab von Sonne und Witterung ihr Leben dem Schürfen von Schätzen und dem Schmieden zu widmen.

Glandallin betrachtete die unüberwindbaren Gipfel, die in weiter Entfernung zu einem breiten, dunklen Band schrumpften. Das war seine geliebte Heimat – ein Ort voller unterirdischer Schönheit, den er gegen keinen anderen eintauschen würde.

Vraccas, der göttliche Schmied, hatte das gesamte Geborgene Land mit dem schützenden Gürtel aus Bergen umgeben, um seine Bewohner vor den Ungeheuern des Gottes Tion zu bewahren. So oblag es allein den Elben, Zwergen, Menschen und anderen Kreaturen, in Frieden miteinander zu leben.

Als er den Blick nach Norden wandte, folgten seine braunen Augen dem dreißig Schritt breiten Pass, den sie den Steinernen Torweg nannten und der in das Jenseitige Land, in unerforschtes Gebiet führte. Früher hatten die Menschenkönige Expeditionen in alle Windrichtungen entsandt, aber nur die wenigsten waren zurückgekehrt und hatten zudem ungewollt dafür gesorgt, dass die Orks den Weg zum Tor fanden. Mit den Orks kamen die übrigen Scheusale, die der Gott Tion aus Bosheit schuf, um ihnen das Leben schwer zu machen.

Forschend suchte er den Weg ab. Die Aufmerksamkeit eines Wächters durfte zu keiner Zeit nachlassen. Die Kreaturen lernten nichts aus ihren Niederlagen. Ihr finsterer, bösartiger Verstand, den Tion ihnen gab, brachte sie dazu, immer wieder gegen die Portale anzurennen, um in das Geborgene Land zu gelangen. Sie wollten alles und jeden vernichten, denn sie waren zu nichts anderem von ihrem Schöpfer geschaffen.

Mal vergingen Sonnenzyklen, mal nur Umläufe, bevor sie einen weiteren Vorstoß unternahmen. Bislang kamen die Horden nicht auf den Gedanken, die Angriffe in geordnete Bahnen zu lenken und mit List vorzugehen; daher blieb es beim blindwütigen Anstürmen, das für die Angreifer stets im Blutbad endete. Die tobenden und brüllenden Bestien gelangten nie weiter als bis an die Zinnen der Wehrgänge, wo die Äxte der Zwerge zur tödlichen Begrüßung ihrer harrten und von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang Fleisch, Knochen und Rüstungen der Ungeheuer durchtrennten. An solchen Tagen stand deren schwarzer, dunkelgrüner und gelbbrauner Lebenssaft knöchelhoch vor den unverwüstlichen Granittoren, an denen Rammböcke und Katapultgeschosse krachend zersplitterten.