Dann muss ich draußen weitersuchen. Er stand auf und wollte sich umdrehen, als er die Gestalt in der langen, beigen Robe auf der Bühne sah. Ihm stockte der Atem.
Wie ist das möglich? Der alte Mann mit dem weißen Bart, der sich eben erschöpft auf einen Stein setzte und einen Monolog begann, war Lot-Ionan! Und die gerüstete blonde Frau, die sich an seine Seite stellte und ihm aufmunternd die Hand auf die Schulter legte, glich Andôkai bis aufs Haar. Er lauschte, ob denn auch die Stimme des Magus genauso klang, wie er sie im Gedächtnis hatte.
Kaum konzentrierte er sich auf die Handlung, vergaß er sein Anliegen. Die Schauspieler waren so gut, dass sie ihn glauben ließen, die echten Personen stünden nur einige Schritte von ihm entfernt, obwohl er genau wusste, dass sein Ziehvater tot und die Maga irgendwo außerhalb des Geborgenen Landes unterwegs war.
»Auf, Lot-Ionan«, sagte die Stürmische. »Dies ist nicht die Zeit, geduldig zu sein …«
Zwischenspiel
»… sondern die Zeit, das Tote Land zu bekämpfen.«
»Einmal mehr, ohne dass wir es zurückschlagen können«, seufzte der Magus, während er mit der flachen Hand über das grüne Gras strich. Nur eine halbe Meile von ihnen entfernt wandelten sich die Halme in totes Grau, denn das Tote Land erlaubte in seinem Herrschaftsgebiet keinerlei Leben. »Wir halten es auf, aber mehr vermögen wir nicht.«
Andôkai erwiderte nichts, sondern ging stattdessen die leichte Anhöhe hinauf, wo die restlichen Magi und Magae warteten. Er folgte ihr und stützte sich dabei schwer auf seinen Stab. Dann waren die Zauberkundigen des Geborgenen Landes auf dem leicht schiefen, grasbewachsenen Plateau versammelt und blickten ihren Feinden ins Angesicht.
Die Erde fiel vor ihnen steil nach unten ab, der Wind riss an ihren Kleidern und spielte damit und trug ihnen die grässlichen Laute zu, welche die Kreaturen Tions ausstießen.
Ein gutes Stück von ihrem Aussichtspunkt entfernt, hatten sie sich hinter der unsichtbaren, von den Magi gewobenen Barriere versammelt, geiferten, grunzten und brüllten voller Vorfreude, endlich auf die andere Seite zu gelangen.
Von oben sahen die Ungeheuer wie eine sich bewegende, dunkle Masse aus. Schwer gerüstete Orks standen neben Ogern, hässlichen Trollen und weiteren unbekannten Geschöpfen, eine Ordnung gab es in diesem Haufen nicht. Die Schreckensgestalten aus dem Norden, die über den Steinernen Torweg aus ihrer Heimat hierher gelangt waren, drängten herbei, um Heuschrecken gleich über Dörfer und Siedlungen herzufallen und diese sinnlos zu zerstören.
Einmal hatte ein Menschenheer versucht, sich den Horden in den Weg zu stellen, und war von den Ungeheuern einfach überrannt worden. Seither versahen die Sechs den Dienst, die Invasoren und das Tote Land aufzuhalten.
»Lasst sie herankommen«, wies Andôkai die anderen Magi und Magae an. »Erlaubt ihnen, bis kurz vor die Tore des Dorfes zu gelangen, ehe wir sie angreifen.«
Maira blickte zu den Häusern, die an den Fuß des Berges gebaut worden waren und sich Schutz suchend an den Hang drückten, als könnte der Fels sie vor den Feinden schützen. »Welche Angst muss in den Hütten herrschen?«, sagte sie leise und mitleidig. »Sie glauben sich gewiss verloren.«
»Umso mehr wird es sie freuen, wenn sie durch uns gerettet werden«, erwiderte Turgur, der in seinen Gewändern aussah, als ginge er zu einer Festlichkeit, anstatt in den Krieg zu ziehen.
Nudin der Wissbegierige schaute über die Reihen der Gegner, er freute sich, so viel Neues und Ungewohntes zu erblicken. Er würde versuchen, einige der Biester am Leben zu lassen, um mit ihnen nach der Schlacht zu sprechen und mehr über sie zu erfahren. Natürlich werde ich das im Verborgenen tun, sonst unterstellen sie mir, zu milde mit den Ungeheuern umgesprungen zu sein.
Maira hatte seine Gedanken erraten. »Töte sie alle, Nudin«, schärfte sie ihm ein. »Das Böse darf nicht ins Geborgene Land gelangen!«
Nudin nickte und sammelte seine Konzentration für den bevorstehenden Kampf, der im Grunde mit dem rechtzeitigen Erscheinen der Zauberer entschieden sein sollte. Er selbst war es gewesen, der die Schwachstellen in der Sperre mithilfe des Malachitfokus entdeckt und den Rat der Orks an dem Ort zusammengerufen hatte, an dem sich die Bestien vor den Zauberern in Sicherheit wähnten.
Ein lautes Knistern erfüllte die Luft. Das Tote Land attackierte die Sperre und durchbrach sie schließlich. Mit lautem Gebrüll rannten die Geschöpfe Tions auf die Ansiedlung zu. Die Oger und Trolle überholten die Orks, die kleineren Bogglins fielen zurück und kreischten ihre Enttäuschung, die Letzten zu sein, schrill hinaus.
Andôkai beschwor ein Unwetter herauf. Innerhalb von Lidschlägen verfinsterte sich der Himmel über der Anhöhe, grummelnd luden sich die Blitze in den auftürmenden Wolkenbergen, ehe die Stürmische die Strahlen auf die ersten Reihen zucken ließ.
Ihre Attacke markierte den geeigneten Zeitpunkt, die Diener des Toten Landes anzugreifen. Die Magi und Magae sandten ihre vernichtenden Kräfte vereint gegen das Böse.
Flammenkugeln schossen hinab, aus der Erde erhoben sich Wesen aus Staub und Stein, die sich auf die Orks stürzten. Woanders tat sich der Boden auf und verschluckte Trolle und Oger.
Der Angriff der Bestien geriet ins Stocken, die kleineren kehrten als Erste um und suchten ihr Heil auf dem vermeintlich sicheren Boden des Toten Landes. Ohne Barriere aber gelangten die magischen Geschosse der Verteidiger auf die andere Seite und verglühten eine Unzahl der Gegner.
Die Magi achteten genau darauf, dass von den Ungeheuern nichts blieb, was die unheimliche Macht über ihren Tod hinaus nutzen konnte. Die Körper vergingen in Feuer und Blitzen, zerfielen zu Staub oder zerbarsten in winzige Einzelteile.
Andôkai entfachte einen gewaltigen Wind, der die letzten Mutigen emporschleuderte und sie zurück auf das Territorium des Toten Landes trug. Währenddessen trafen die anderen Vorbereitungen, die Barrieren von neuem und noch kräftiger entstehen zu lassen.
Auf den Wink Lot-Ionans hin eilten Zauberschüler herbei und brachten den Malachitkristall, der ihre Kräfte sammelte. Die aufwändige Beschwörung gelang, der Fokus speiste die Barriere und sicherte das Geborgene Land. Die Menschen wagten sich wieder aus ihren Behausungen und jubelten den Zauberern zu.
So erleichtert sich diese auch fühlten, es blieb ein schaler Geschmack zurück. Denn die Erde, die von den Ungeheuern betreten worden war, beanspruchte das Böse für sich, das Tote Land hatte seine Macht nach Süden ausgedehnt, und das gerettete Dorf lag unmittelbar an der unsichtbaren Sperre.
Turgur winkte den Dörflern zu. »Wir sollten hinunter gehen und uns ein wenig von ihnen feiern lassen«, sagte der Schöne entzückt. »Seht nur, wie sie sich freuen, die Einfachen.«
»Und seht nur, wie sich Turgur an den Einfachen ergötzt«, lächelte Nudin erschöpft. »Man könnte meinen, er würfe sich am liebsten von hier oben in ihre Arme.« Die anderen Magi lachten leise.
»Lasst uns in die Zelte gehen und bei einem Glas Wein ausruhen«, schlug Maira vor.
»Geht nur, ich komme nach. Zuerst besuche ich das Dorf und lege ihnen nahe, schnell von hier wegzuziehen«, erklärte Nudin. »Bei einem neuerlichen Vorstoß könnten die Menschen in Gefahr geraten.«
Andôkai warf ihm einen viel sagenden Blick zu, verzichtete jedoch auf eine Bemerkung.
Nudin suchte den schmalen Pfad, der von der Anhöhe hinab in die Siedlung führte. Gleich am Eingang des Ortes wurde er mit schlichten Gaben überhäuft, die Menschen boten ihm Brot, Obst und Wein als Ausdruck ihres Dankes an.
Der Magus nahm einen Schluck vom Wein, um die Aufmerksamkeit zu würdigen, und berichtete ihnen vom Ernst ihrer Lage. »Aber ich sende euch Männer, die euch helfen werden, von hier fortzuziehen«, beruhigte er sie. »Ich finde einen Platz für euch, an dem ihr sicherer lebt.«