Nudin griff sich einen Apfel und wählte seinen Rückweg so, dass er ihn über den vorderen Teil des Schlachtfeldes führte, der nicht dem Toten Land anheim fiel.
An manchen Stellen stieg Rauch aus der Erde, die Energien schmolzen den Sand zu Glas, verdampften den Boden oder hinterließen tiefe Furchen und Krater, und es stank nach Tod.
Ein leises Röcheln brachte sein Herz zum Klopfen. Nudin hielt inne, um in die Stille zu lauschen und die verletzte Bestie ausfindig zu machen. Das gequälte Keuchen erklang erneut, und er fand die Richtung, wo es lag.
Vorsichtig stieg er über die Kadaver hinweg und stocherte mit dem Stab in dem Gewirr aus Überresten herum, bis die Kreatur auffauchte. Es war ein Bogglin, der eingeklemmt unter dem gigantischen Torso eines Trolls lag und sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien konnte. Er sah aus wie ein zu klein geratener Ork.
»Hab keine Angst. Ich werde dir nichts tun«, redete Nudin ihn in der Sprache der Scheusale an.
Der Bogglin streckte ihm die Zunge heraus und versuchte, an den Griff seines Schwertes zu gelangen.
»Ich schlage dir einen Handel vor«, unterbreitete Nudin sein Angebot. »Ich helfe dir, aus deiner Falle zu entkommen, wenn du mir vorher alles über dich und deinesgleichen berichtest. Woher du kommst, wie ihr lebt, was ihr tut, wenn ihr uns nicht angreift.« Er nahm eine Pergamentrolle und ein Reisetintenfass aus seiner Umhängetasche. »Ein Zauber wird dafür sorgen, dass du die Wahrheit sprichst.«
Die seelenlosen Raubtieraugen blinzelten verstört. Der Bogglin wusste mit dem verrückten Menschen nichts anzufangen, der ihn weder töten noch befreien wollte. Ehe es ihm gelang, etwas zu sagen, durchbohrte ein langer schwarzer Pfeil seine Kehle und nagelte ihn an den Kadaver des Trolls.
»Andôkai?« Nudin wirbelte herum und sah eine Gruppe von vier Albae auf sich zukommen. Nein. Schlimmer. Voller Erstaunen beobachtete er, wie der Letzte durch die Barriere trat. Der magische Widerstand kümmerte sie nicht im Geringsten. Ihr Anführer legte einen weiteren Pfeil auf die Sehne, dieses Mal sollte er das Ziel sein.
Das wird euch nicht gelingen. In aller Eile zog er einen Schutzzauber in die Höhe, der den heranschwirrenden Pfeil ablenkte und ihn zu dem Schützen zurückleitete. Mit Überraschung in den nachtfarbenen Augen starb der Alb.
Nudin richtete zwei weitere Albae mit gewaltigen Magieblitzen, die aus seiner linken Hand schossen. Den Vierten betäubte er nur, um ihn zu befragen.
Als er die feinen Züge seiner Gegner betrachtete, musste er daran denken, wie sehr Turgur die Verwandten der Elben, die in Gwandalur und der Goldenen Ebene lebten, um ihre Schönheit und Perfektion beneidete. Sein Blick blieb an den Kristallamuletten hängen, die um ihre Hälse baumelten.
Schutzrunen, staunte Nudin und nahm sie an sich. Das erklärte ihm, weshalb die Albae der Barriere unverletzt getrotzt hatten. Wie es aussieht, hat das Tote Land einen Weg gefunden, die gefährlichsten seiner Diener durch unsere Barriere zu senden, dachte er beunruhigt. Der Rat muss unbedingt davon erfahren.
Er sprach einen Bannzauber gegen den Alb und holte ihn aus seiner Ohnmacht. Die Lider öffneten sich; da es helllichter Tag war, sah der Magus anstelle von Pupillen und Weiß nur Schwärze in den Augenhöhlen. Er hielt ihm die Amulette vors Gesicht. »Wer gab sie euch?«
Der Alb sah ihn ausdruckslos an.
Nudin sprach einen Wahrheitszauber auf ihn, und der Alb offenbarte ihm sein Geheimnis, jedoch in seiner eigenen Sprache, die der Gelehrte nicht verstand. Es klang melodisch und elegant wie Elbisch, doch die Einfärbung war wesentlich düsterer.
So kam er nicht weiter. Er stand auf, entfernte sich ein paar Schritte von dem Wesen und ließ es in einer Feuerwolke verglühen; das Gleiche tat er mit den Kadavern der anderen Albae und dem Bogglin.
»Ein Sieg, der nicht lange währt«, murmelte er betrübt.
Morgen, beim gemeinsamen Frühstück, werde ich ihnen von den Amuletten berichten; in dieser Nacht sollen sie ihre gute Laune nicht verlieren. Nachdem er den Wachen eingeschärft hatte, besonders aufmerksam zu sein, begab er sich zur Ruhe.
Die Nacht bescherte Nudin einen merkwürdigen Traum.
Nebel umschloss das Zelt, sickerte durch die Leinwand und umspielte sein Lager. Im Innern des trüben Dunstes schimmerte es in rascher Folge schwarz, silbern und rot auf.
Nachdem er lauernd um die Pfosten gestrichen war, näherte er sich dem Schlafenden und schwebte bis zur Kante des Bettes hinauf. Es sah aus, als flöge Nudin auf einer weißen, flimmernden Wolke.
Ein fingerartig geformtes Nebelstück tastete sich vorwärts und berührte die Hand. Der Magus erwachte von dem leichten, samtigen Anstoß.
»Hab keine Angst. Ich werde dir nichts tun«, sprach eine wispernde Stimme.
Nudin richtete sich vorsichtig auf und betrachtete den flimmernden Nebel. »Man nennt mich den Wissbegierigen, nicht den Ängstlichen«, erwiderte er ruhig. »Was bist du?«
»Ich bin die Seele des Toten Landes«, raunte der Nebel. »Ich bin zu dir gekommen, um dich vor die Wahl zu stellen.«
»Was wird das wohl für eine Wahl sein? Entweder bin ich dein Freund oder ich bin dein Feind, und du wirst mich töten, oder?«
Der Nebel stieg noch ein wenig höher, er umfing Nudins Füße und kroch langsam die Beine hinauf. Seine Berührung fühlte sich weich und warm an. »Nein. Ich stelle dich vor die Wahl, das Geborgene Land zu retten oder zusammen mit deinen Zauberfreunden seinen Untergang zu verschulden.«
»Aber wir bewahren unsere Heimat vor dir. Du bist sein Untergang«, widersprach der Magus heftig.
»Nein, ich kam, um die Reiche und die Menschen, Elben und Zwerge durch meine Macht zu bewahren«, flüsterte der Nebel. »Ich wollte schneller sein als das Unheil.« Aus dem Dunst formte sich ein menschliches Antlitz, die Lippen und der Mund bewegten sich. »Aber eure Magie hindert mich daran. Bald wird das Böse den Steinernen Torweg oder den Westzugang im Roten Gebirge erreichen und ins Geborgene Land schwappen, zuerst mich hinfortspülen und dann alles vernichten, was vom Berggürtel umschlossen wird.«
»Das glaube ich dir nicht. Was ist das für eine Seele, die von anderen Seelen lebt?«
»Eine sehr große Seele, die nicht frisst, sondern in sich aufnimmt und vor Schaden bewahrt«, säuselte der Nebel. »Wenn die Gefahr für das Geborgene Land gebannt ist, werde ich sie alle freilassen, damit sie zu den Göttern des Jenseits gelangen. Doch bis dahin brauche ich ihre Kraft.«
»Geh!«, befahl Nudin. »Geh, denn ich glaube dir nicht!«
Der weiße Schleier wurde durchsichtiger. »So höre noch, was ich dir unterbreite«, raunte er. »Leih mir deinen Körper für eine kurze Zeit, damit ich eine Gestalt erhalte. Durch mich erlangst du Fertigkeiten und Wissen, von denen du nicht einmal träumtest, weil du nicht wusstest, dass es sie gibt. Ich kenne Zaubersprüche aus fernen Ländern, ersonnen von den klügsten Magi, ich weiß Dinge über die Sterne, den Menschen, die Natur, das Leben, die Tiere, wie sie in keinen Büchern geschrieben stehen. Du wirst der weiseste und mächtigste Magus sein, der jemals im Geborgenen Land lebte, und dein Name wird Nudin der Allwissende sein.« Der Nebel löste sich auf. »Der Allwissende …«
Der Allwissende! Nudin schreckte aus seinem Traum auf und blickte sich in seinem Zelt um, ohne etwas Ungewöhnliches zu entdecken. Er schalt sich selbst einen Narren und legte sich wieder hin.
Als er am nächsten Morgen zusammen mit den Magi und Magae beim Frühstück saß, aß er schweigend und gedankenverloren, während sich die anderen über ihre Vorhaben austauschten.
Seine Begegnung mit dem Nebel und den Albae aber behielt er ebenso wie die Neuigkeit über die Amulette für sich.
Nudin ließ die Nachricht sinken, die ihm kurz vor der Nachtruhe überbracht worden war.
Lesinteïl, das Reich der Nordelben, war in die Hand der Albae gefallen. Es musste ihnen auf eine geheimnisvolle Weise gelungen sein, die Barriere zu durchbrechen und über die arglosen Einwohner herzufallen.