Die Zeilen berichteten davon, dass die ersten Siedlungen in wenigen Tagen eingenommen worden waren. Als die Elben endlich ihren Widerstand in einem Heer organisierten, standen so viele Albae in ihrem Reich, dass sie von Beginn der Schlacht an zum Scheitern verurteilt waren.
Das Tote Land sickerte nun nach Lesinteïl ein und vernichtete das blühende Leben, das die Elben einst mit viel Aufwand kultiviert und zu höchster Vollendung geführt hatten.
Missmutig warf der Magus das Pergament auf den Boden und sank in die Kissen. Übermorgen würde der Rat einberufen werden, um die Sperren um das gefallene Elbenreich zu errichten. Die Botschaft sprach davon, dass sich die Albae von ihrer neuen Eroberung aus in Windeseile bis nach Gauragar, Idoslân und Urgon ausbreiteten, um neue Gebiete für das Tote Land zu gewinnen.
Nudins Gewissen meldete sich mit Vehemenz, denn er glaubte zu wissen, wie es den Albae gelang, die Barriere zu überwinden: mithilfe der Amulette. Andererseits hätte es nichts gebracht, wenn er den anderen von seiner Entdeckung berichtet hätte.
Doch! Sie hätten die Zauberrunen untersuchen und eine Barriere schaffen können, gegen welche die Schriftzeichen nicht wirken, warf ihm eine innere Stimme vor. Nur durch dein Schweigen wurde der Überfall möglich!
»Nein!«
Du bist für den Fall Lesinteïls verantwortlich! Du hast sie betrogen, Elben wie Zauberer!
Er zog sich die Decke über den Kopf, und versuchte, schnell einzuschlafen, damit er sein rechthaberisches Gewissen nicht mehr ertragen musste.
Doch es kam noch schlimmer, denn in dieser Nacht träumte er wieder von dem verführerisch redenden Nebel, der Seele des Toten Landes, die nicht von ihm ablassen wollte.
»Hast du dir meine Worte überlegte? Möchtest du zu Nudin dem Allwissenden und zum Retter des Geborgenen Landes werden?«, raunte er in seinen Gedanken.
»Wie hast du die Barriere bei Lesinteïl durchbrochen?«
»Wärst du Nudin der Allwissende, müsstest du diese Frage nicht stellen«, wisperte der flirrende Dunst und schlüpfte zu ihm unter die Decke, wo es angenehm warm wurde. »Das erste Reich der Elben ist mein. Âlandur wird als Nächstes von mir in Besitz genommen, ohne dass ihr etwas dagegen ausrichten könnt. Meine Schutzmacht wird sich immer weiter nach Süden ausdehnen, doch die Zeit reicht nicht.«
»Wenn du uns beschützen möchtest, warum nimmst du dir die Länder mit Gewalt?«, hielt Nudin dagegen.
»Niemand, der Freiheit besitzt, gibt sie gern ab, auch wenn es nur einen Wimpernschlag im Gefüge der Geschichte währt. Könige, Völker, sie sind wie kleine Kinder, und ich bin die Mutter, die sie vor Schlimmem bewahren möchte.« Der Nebel formte wieder die Umrisse eines Gesichts. »Kinder verstehen nicht, warum eine Mutter sie hochhebt, um zu verhindern, dass ein Hund sie beißt. Sie wehren sich dagegen, bevormundet zu werden, strampeln und wollen spielen, obwohl der Hund nur darauf wartet, seine Fänge in sie zu schlagen. Sie wissen es nicht besser«, sagte er. »Erst nachdem die Mutter den Hund verjagt hat, lässt sie ihren Nachwuchs zurück auf die Erde und nach eigenem Willen entscheiden. Jahre später, wenn aus dem Kind ein Erwachsener geworden ist und er sich an jenen Tag erinnert, wird er verstehen, warum die Mutter so handelte, und wird froh über die auferzwungene Fürsorge sein, die ihm zuteil wurde.«
Nudin leuchtete die Erklärung ein; er verdrängte die mahnende Stimme in seinem Innern, die ihn vor den samtenen, honigsüßen Worten warnte. »Warum erklärst du es den Mächtigen nicht, wie du es mir erklärt hast? Und warum hast du Orks, Albae und alle anderen widerlichen Kreaturen gewählt, vor denen sich die Menschen fürchten und denen die Elben und Zwerge mit abgrundtiefem Hass begegnen?«
Der Nebel umgab ihn nun vollständig, hüllte ihn ein und raubte ihm die Sicht. Er fühlte sich von tausend Händen gestreichelt und liebkost. »Die Zeit läuft gegen das Geborgene Land, ich konnte mir die Verbündeten nicht lange aussuchen und nahm, was ich bekommen konnte. Meine Diener erzielen rasche Erfolge, und auf diese Weise kann ich deine Heimat schützen.«
»Hast du diesem Schrecken schon öfter gegenübergestanden?«, fragte er schläfrig, abgelenkt.
»Unzählige Male, aber bislang errang ich keinen Sieg gegen ihn. Das Grauen ist stark, schnell und wendig, und nur wenn der Vorsprung groß genug ist, gelingt die Rettung.« Die Liebkosungen wurden zärtlicher. »Gib mir eine Gestalt, Nudin. Lass mich in dich und erfahre ein Wissen, wie es kein Sterblicher jemals vor dir besaß. Zögere nicht länger«, wisperte es von allen Seiten. »Wenn wir den gemeinsamen Feind geschlagen haben, verlasse ich deinen Körper. Und du kannst mich jederzeit aus deinem Leib werfen, solltest du es wünschen.«
»Woher weiß ich, dass dein Wissen so groß ist, wie du behauptest?«
»Warte, ich zeige es dir.« Der Dunst verdichtete sich rings um seine Schläfen, das schwarze, silberne und rote Blitzen steigerte sich.
Die Augen des Magus weiteten sich, als ihm die Seele des Toten Landes in seinem Traum einen Eindruck davon vermittelte, was bald alles ihm gehören könnte.
Unbekannte Schriftzeichen schwebten vor ihm, er hörte fremde Sprachen und erkannte Teile von Zauberformeln, er sah die Bilder von schönen und erschreckenden Landschaften, die jenseits der Gebirge liegen mussten, Städte und Paläste, deren Konstruktion er niemals für möglich gehalten hätte.
Sein neugieriger Verstand sog all die Eindrücke gierig auf, schrie nach mehr und bekam mehr. Die Bilderflut schien niemals enden zu wollen, und er schwamm darin, badete in Wissen und trank es, bis der Nebel dem ein Ende setzte.
»Nein, mach weiter!«, forderte Nudin begehrlich.
»Lässt du mich in dich einziehen?«
»Ich …«
Runen blitzten auf und verblassten, aus weiter Ferne hörte er das Echo von nie vernommenen Sprachen, eine Ebene von atemberaubender Schönheit verdunkelte sich und verschwamm, die turmhohen Stapel Bücher gerieten ins Wanken, die Einbände, welche die Formeln und Zaubersprüche verhießen, wurden brüchig und zerfielen zu Staub.
»Willst du als Allwissender das Geborgene Land retten? Hilf der Mutter, das Kind vor dem reißenden Hund zu bewahren, Nudin«, flüsterte der Nebel und brach den letzten Widerstand des Magus.
»Ja«, antwortete er heiser und starrte in den Nebel. »Ja, ich will dir beistehen.« Zusätzlich zu den Versprechungen war ihm ein weiterer Gedanke gekommen. Da die Macht in ihm lebte, so lautete seine Überzeugung, würde er sie kontrollieren. Wenn das angedrohte Grauen nicht kommt, werde ich von ihm verlangen, die Truppen aus den Reichen der Menschen, Zwerge und Elben abzuziehen und über den Nordpass zu verschwinden. Auf die ein oder andere Weise würde das Geborgene Land gewinnen. »Was muss ich tun?«
Der Dunst flirrte stärker, aufgeregter. »Nichts. Liege einfach nur still da und biete mir keinen Widerstand. Leere deinen Verstand, denke an nichts und öffne deinen Mund. Du wirst spüren, wenn ich bei dir bin.«
Nudin lehnte sich zurück und tat gehorsam, wie ihm geheißen wurde.
Die ersten Ausläufer des Dunstes schlängelten sich aus drei Richtungen in seinen Rachen und füllten die Mundhöhle aus, als begutachteten sie wie Späher zunächst das Gebiet, ehe sie dem Rest bedeuteten nachzufolgen.
Dann ging alles sehr schnell. Der Nebel zog sich zusammen und zwängte sich in seine Kehle. Nudin hatte das Gefühl, seine Kiefer würden so weit auseinander gedrückt, dass sie brachen, und in seinen Ohren knackte es laut. Seine Hände krallten sich in die Kissen, der Stoff riss unter der Kraft.
Einmal in seinen Körper gelangt, bahnte der Nebel sich rücksichtslos einen Weg, dehnte seinen Schlund, bis Nudin zu ersticken glaubte, und presste ihm die Luft aus den Lungen. Das Blut rauschte viermal so schnell wie gewöhnlich durch seine Adern.
Rotes Wasser schoss ihm unvermittelt aus der Nase und den Augen, und er erschrak umso mehr, als er begriff, dass es sein Lebenssaft war, der in Strömen aus ihm herausquoll. Aus jeder Pore seiner Haut trat Blut aus; die Tröpfchen vereinigten sich zu Rinnsalen und benetzten die Laken seines Bettes.