Mittendrin stand Boïndil wie ein kleiner Rachegott und rupfte einem Menschen den Schnauzbart Haar für Haar aus. Von Bavragor fehlte jede Spur.
»Was tust du da?«, fragte ihn sein Bruder und betrachtete fassungslos die Unordnung. »Warst du das?«
Ingrimmsch drehte sich um, sodass sie seinen verunstalteten Bart sehen konnten. »Ho, das will ich meinen«, lallte er. »Sie haben mich angezündet, und dafür haben sie mit meinen Fäusten Bekanntschaft gemacht.« Er kicherte und riss seinem Opfer ein weiteres Haar aus. »Der Lange hat angefangen, er hat meinen Bart angekokelt, und als ich ihn bestrafen wollte, kamen ihm die anderen zu Hilfe. Das fand ich sehr anständig von ihnen. Umso mehr gab’s für mich zu tun.«
»Bitte, sagt ihm, dass es mir Leid tut und er mich loslassen soll«, jammerte der Mann. »Es war ein Unfall, ich wollte ihm bloß einen glimmenden Span für seine Pfeife reichen!«
Boïndil packte ihn an den Ohren und blickte ihn aus trüben Augen an. »Wirst du auch nie mehr einem aus unserem Volk ein Loch in seinen bärtigen Stolz brennen?«, keuchte er.
»Nie mehr!«, wimmerte der Mann.
»Schwörst du es?« Er schwor artig, und der Krieger gab ihn frei. »Na, gut. Lauf, Langer.« Zum Abschied rupfte er ihm ein ganzes Büschel Haare aus und trat ihn in den Hintern. Lachend ließ er sich auf den Tisch plumpsen, langte nach seinem Humpen und schlürfte geräuschvoll. »So viel Spaß hatte ich schon lange nicht mehr«, rülpste er. Seine Augen entdeckten Goïmgar. »Ah, da ist ja unsere zimperliche Maid!«
»Er ist sturzbetrunken«, meinte sein Bruder und kniff die Lippen zusammen.
»Wo ist Bavragor?«, fragte Tungdil mürrisch. Schlimmer, als eine Horde Flöhe zu hüten. »Müssen wir ihn auch suchen gehen?«
»Der? Ach, der kommt schon wieder. Das Einauge ist ein Pony kaufen, damit wir unsere Schätze …«
»Boïndil! Sei still!«, fuhr Boëndal ihn hart an, nahm ihm das Bier weg und zerrte ihn vom Tisch. »Was denkst du dir eigentlich dabei? Wir sind von Feinden umzingelt, und du tust so, als wärest du der Steinmetz!«
»Ach?! War er auch auf dem Markt, um Ponys zu erstehen?«, kam es beleidigt von der Tür. »Im Gegensatz zu ihm habe ich etwas geleistet, anstatt mich mit den Langen herumzuprügeln.«
»Da ist ja das Einauge!«, rief Ingrimmsch fröhlich, schnappte Boëndal den Humpen aus der Hand und leerte ihn rasch. »So. Das wirst du mir nicht mehr wegnehmen«, grinste er breit und rülpste.
»Orks!«, schallte es von draußen, dann rannte ein Gardist herein. »Die Orks sind in den Gassen! Alles zu den Waffen! Das Südtor ist geöffnet worden! Rettet Mifurdania! Eilt, ihr Bürger!« Sein Blick fiel auf die niedergeschlagenen Männer. »Was ist denn hier …«
»Zu den Waffen!«, stimmte Boïndil jauchzend ein. »Oink, oink, oink! Kommt, wir gehen Schweinchen schlachten!« Er riss die Beile aus dem Gürtel und torkelte zur Tür. Sein Bruder hielt ihn auf und redete beschwichtigend auf ihn ein.
»Verzeih ihm. Er meint es nicht so«, sagte Tungdil zu Bavragor, um den nächsten Streit zu verhindern.
»Er kann es ruhig so meinen, weil er meistens Recht hätte«, entgegnete er ruhig. »Draußen warten zwei Ponys, die ich billig bekommen habe. Sie werden uns einen guten Dienst erweisen.«
»Wir müssen sofort von hier verschwinden«, befahl Tungdil, der beschlossen hatte, seine Erlebnisse im Curiosum zu erzählen, sobald sie die Stadt heil hinter sich gelassen hatten. Aber wie? »Die Albae wissen, wo wir sind. Sie werden uns jagen.«
»Wie sollen wir das machen?«, wollte der Steinmetz wissen.
»Es geht, Gelehrter«, meinte Boëndal. »Vor den Toren wird es zu einer Schlacht kommen. Wir brauchen einen Seitenausgang in der Mauer. Durch den verschwinden wir und kämpfen uns am Rand des Getümmels durch.« Er warf einen Blick auf seinen plötzlich ruhig gewordenen Bruder, der sich an den Türrahmen gelehnt hatte und erste Schnarchlaute von sich gab. »Auch wenn es unter diesen Umständen nicht einfach wird«, fügte er mit einem Seufzen hinzu.
Goïmgar erbleichte. »Durch eine Schlacht?«, echote er. Schon sah er die Pfeilschwärme vor sich, zuckende Schwerter, Speere und Spieße, grunzende Orks, kreischende Bogglins und die unheimlichen leisen Albae, und alle rannten sie nur hinter ihm her. »Müssen wir?«
»Kannst du fliegen? Ich meine, ohne Katapult?«, wollte Bavragor wissen, und Goïmgar verneinte. »Also gibt es keine andere Möglichkeit.«
Es rumpelte laut, als Ingrimmsch steif wie ein Brett umfiel und sich nicht mehr rührte. Nur das Schnarchen bewies, dass er nicht von Vraccas’ Hammer getroffen worden war.
»Ein schöner Krieger ist das«, sagte Goïmgar vorwurfsvoll. »Jetzt, wo wir ihn brauchten und er unzählige Orks niedermetzeln dürfte, hat ihn das Bier umgehauen.«
»Ich verstehe das nicht«, stimmte Bavragor zu, packte den Zwerg zusammen mit Boëndal und legte ihn quer über einen Ponyrücken. »Das Bier der Langen taugt doch gar nichts. Wie kann man da nur so besoffen sein?«
»Hattest du denn auch fünf Humpen?«, staunte Goïmgar.
»Nein. Sieben. Und noch zwei auf dem Markt«, zwinkerte er dem schwächlichen Zwerg zu und drückte ihm die Zügel der Ponys in die Hand. »Da. Das ist die passende Aufgabe für dich.«
Mit seinem gewaltigen Kriegshammer in der Hand begab er sich nach hinten, um ihren Rücken zu decken. Tungdil und Boëndal übernahmen die Vorhut.
Vereinzelt hörten sie das Klirren von Waffen, doch sie bogen jedes Mal rechzeitig ab, um der Gefahr aus dem Weg zu gehen, was vor allem Goïmgar sehr schätzte.
Um sie herum rannten die Bürger Mifurdanias. Die einen eilten mit Waffen an ihnen vorbei, um sich am Gefecht um ihre Heimat zu beteiligen, die anderen hatten ihre Kinder, ihr Hab und Gut an sich gepresst und suchten Schutz im bislang sicheren Teil der Siedlung.
Und noch eine Stadt sieht ihrem Untergang entgegen. Tungdil hatte die Bilder vom vernichteten Gutenauen vor Augen, er wusste, was auf die Stadt zukam, und rang mit sich selbst, um nicht auf ihre Mission zu pfeifen und den Menschen beizustehen, die eine weitere scharfe Axt sicherlich benötigten. Er stand kurz davor, den entsprechenden Vorschlag zu unterbreiten.
Aber wenn einer von uns stirbt? Ohne die Feuerklinge wäre das ganze Geborgene Land verloren. Er rang mit sich selbst und entschied, dass er auf das Schicksal Mifurdanias keine Rücksicht nehmen durfte, so schwer es ihm auch fiel. Stumm senkte er den Kopf. Die Götter mögen euch beistehen.
Boëndal legte ihm die Hand auf die Schulter. Sein Blick verriet, dass ihn die gleichen Gedanken beschäftigten.
Sie gelangten an die Ostmauer und entdeckten eine Nebenpforte, an der zwei Wachen ihren Dienst verrichteten. Als ein Hornsignal ertönte, nahmen sie ihre Speere zur Hand und liefen zum Nordtor.
Der Kampflärm, der aus den Plätzen und Gassen drang, wurde lauter, die Orks drängten die Verteidiger zurück.
Die Tür, vor der sie standen, war mit vier Eisenriegeln gesichert; dicke Schlösser und Ketten verhinderten, dass Unbefugte sie entfernten.
»Was haben wir denn da? Fünf Kegel mit Beinen? Ts, ts, ts, und sie wollen flüchten?«, sagte eine Stimme missbilligend.
Ein Mann mit aristokratischen Gesichtszügen und einem Kinnbärtchen trat aus der Seitenstraße; seine bunten Gewänder sahen nicht billig aus. Hinter ihm folgte eine schlanke, hoch gewachsene Frau in einer Lederrüstung, die ihre langen schwarzen Haare zu einem Teil unter einem dunkelroten Kopftuch verbarg, sowie ein weiterer Mann mit graugrünen Augen, schwarzen Haaren und einem dünnen Schnurbart, der einfach gewandet war. Jeder von ihnen trug einen Seesack.
»Wisst ihr zu kurz geratenen Riesen nicht, dass es verboten ist, diese Pforte zu benutzen?«, fragte der Kinnbart.
»Seid ihr Diebe?«, knurrte Bavragor und legte die prankengleichen Hände um den Stiel seines Hammers.
Der Mann lachte übertrieben. »Kinder, hört ihr das? Drollig, die Kleinen«, rief er nach hinten. »Nun, mein bärtiger Freund mit dem verlorenen Augenlicht, wir sind nicht einmal zum gewöhnlichen Volk zu zählen, wie könnten wir demnach gewöhnliches Verbrecherpack sein?«