Als das Tor sich hob, die Stützpfeiler aus dem Boden des Grabens fuhren und sich die ersten Steinplatten zu einem Weg verbanden, der über die Schlucht führte, formierten sich fünfhundert Zwerge zu einer Eskorte für ihren Großkönig.
Balendilín unternahm einen letzten Anlauf. »Du wirst dabei sterben, Gundrabur. Ich bitte dich …«
Der alte Zwerg legte ihm die Hand auf die Schulter, danach reichte er sie ihm und drückte sie kräftig. »Ich will sterben, mein treuer Freund, ehe ich am Gift dahinsieche. Bislipur wird nicht die Genugtuung bekommen, mich heimtückisch umgebracht zu haben«, raunte er ihm zu und umarmte ihn lange. »Mein Tod wird ruhmreich sein, wie es sich für einen unseres Volkes gebührt. Man wird sich mit Achtung daran erinnern.« Er löste sich von seinem Freund und Berater. »Die ersten zehn Orks, die durch mich fallen, sind für deinen verlorenen Arm. Lebewohl, Balendilín. In der Schmiede von Vraccas sehen wir uns wieder«, lachte er ihm zu und wandte sich um. »Ihr Krieger aus dem Stamm Beroïns!«, rief er laut. Die Wände der Festung warfen seine Stimme zurück und trugen sie noch weiter. »Kämpft mit mir und verteidigt unser Reich und das Geborgene Land!«
Die Zwerge brachen in Jubelrufe aus und freuten sich, dass der Großkönig an ihrer Seite gegen die Orks zog, denn sie ahnten nichts von seinem heimtückisch beigebrachten Leid.
Wir sehen uns wieder. Balendilín schnürte es die Kehle zu, als er seinem Freund hinterherschaute, wie er erhaben durch das Tor schritt, die Brücke entlang, gedeckt von dem Feuer der Armbrustschützen und Katapulte, bis er und seine Krieger auf die ersten Reihen der Bestien trafen, um den Nahkampf zu beginnen.
Es dauerte lange, bis der Schreckensruf erschallte, dass Gundrabur gefallen sei. Im gleichen Augenblick beschloss Balendilín entgegen des Ratschlags des Großkönigs, Feuer zu sein und Bislipur zu töten. Es lag nicht in unserer Natur, Wasser zu sein, dachte er grimmig. Wir lieben das Feuer.
Am fünften Tag nach dem Tod des Großkönigs ruhten die Geschäfte im Reich der Zweiten noch immer. Die Zwerge aller Clans versammelten sich zu tausenden in der riesigen Halle der Trauer, deren Säulen unendlich weit nach oben zu ragen schienen.
In der Mitte stand der Steinsarkophag, den die besten Steinmetzen des Stammes angefertigt und mit den schönsten Gravuren versehen hatten, welche die Taten Gundraburs rühmten und vor allem nicht die letzte, siegreiche Schlacht gegen die Orks an der Hohen Pforte vergaßen.
In den Deckel war das vollkommene, wenn auch jugendlichere Ebenbild des Zwergs eingemeißelt worden, ein Gundrabur aus Marmor, in seiner besten Rüstung, die Finger um den Stiel seiner Axt gelegt.
Er war erhöht aufgebahrt worden, damit man ihn auch in der letzten Reihe und aus weiter Entfernung erkennen konnte. Dünne Sonnenstrahlen fielen durch die Lichtöffnungen des Berges aus allen vier Himmelsrichtungen auf ihn und tauchten ihn in einen überirdischen Glanz.
Die Zeit des Abschieds. Ein ernster Balendilín schritt die Stufen zum Sarkophage hinauf, näherte sich dem Fußende und blieb davor stehen. Er kniete nieder, und seine Stirn senkte sich, um dem Gefallenen den schuldigen Respekt zu erweisen. Danach erhob er sich und schaute gefasst über die Menge der Zwerge, deren Oberhaupt er jetzt sein sollte.
»Er hat die Feinde an der Hohen Pforte gerochen, ehe die Wachen sie erspähten. Er hat unsere Feinde immer vor allen anderen erkannt und uns vor ihnen bewahrt«, rief er laut. Unwillkürlich schaute er zu Bislipur, der sich mit den Clans der Vierten am Rand der Versammlung aufhielt, es sich aber nicht erlauben konnte, bei der Bestattung Gundraburs abwesend zu sein. »Unser König geht, ehe er seinen Traum von einer erstarkten Gemeinschaft der Stämme unseres Volks in die Tat umsetzen konnte, aber er begann etwas Neues, etwas Großartiges. Ich schwöre bei Vraccas dem göttlichen Schmied, dass seine Ziele nun meine Ziele sind und ich nicht eher ruhen werde, bis ich sie erreiche.«
Die Versammelten bekundeten ihre Zustimmung, indem sie mit den Stielen ihrer Äxte gegen den Boden stießen. Ein unterirdisches Gewitter rollte durch den Berg.
Mehr Worte brachte er nicht heraus, denn die Trauer schnürte ihm die Kehle zu. So ging er zum Kopfende des Steinsargs, wo er die Stirn des Abbilds küsste, noch einmal sein Knie beugte und hinabstieg.
Fünfzig Träger eilten herbei, schoben lange Stangen in die unauffällig angebrachten Ösen des Sarkophags und hoben ihn auf ein Kommando hin an. Sie trugen ihre Last schweigend die Treppen hinab und schritten durch die Halle, sodass die Zwerge sich ein letztes Mal vor dem toten Herrscher verbeugen konnten, ehe er in die Halle der Könige gebracht wurde.
Hinter dem Sarg ging Balendilín, der eine Nacht lang allein Wache bei dem König halten würde. Wenn er am nächsten Morgen aus der Grabkammer zurückkehrte, würde er die Krone der Zweiten tragen und eines Tages neben Gundrabur seine Ruhe finden.
Aus den Augenwinkeln heraus nahm er wahr, dass sich Bislipur in die erste Reihe schob. Seine Augen musterten ihn, als wollte er seine Gedanken ergründen, um zu wissen, was ihm von ihm drohte. Fürchte dich vor mir, Bislipur. Du entkommst der gerechten Rache nicht. Balendilín schaute unverwandt nach vorn und tat so, als hätte er den kräftigen Zwerg gar nicht bemerkt.
Die Träger erreichten die Halle der Könige und platzierten den Sarkophag auf dem vorgesehenen Basaltpodest. Das neue Lichtloch hoch oben in der Haut des Berges war geschlagen worden, sodass die Sonne des Geborgenen Landes das steinerne Antlitz Gundraburs beleuchtete.
Die Zwerge verließen den weitläufigen Raum, in dem sich die sterblichen Überreste der Könige des Stammes befanden, sechsundzwanzig an der Zahl.
Balendilín begab sich an das untere Ende, stellte seine Axt mit dem Griff voran auf den Boden und legte seine Rechte auf den Kopf der Waffe. Seine Augen richteten sich auf die steinernen Züge seines Freundes und Herrschers. Lebewohl, Gundrabur. Er wurde selbst zu Stein, spürte die Zeit nicht mehr. Seine Gedanken verloren sich beim Anblick des Sarkophages im Nichts, sein Verstand leerte sich völlig und trieb auf den Wogen des Kummers dahin.
Gelegentlich bildete er sich ein, dass Stimmen zu ihm wisperten, die Geister der anderen, aber er verstand sie nicht.
Die Legenden der Zweiten wussten zu berichten, dass die Seelen der verstorbenen Könige aus der Schmiede von Vraccas kamen und ihre Nachfolger genau prüften, weil sie sich vorbehielten, künftige Könige auf ihre Art abzulehnen. Es hatte Thronanwärter gegeben, die hinter den Toren der Halle geblieben waren und nie mehr gesehen wurden.
Ihm blieb dieses Schicksal erspart.
Als er am nächsten Morgen wie gerädert, müde und erschöpft durch das Tor trat, wurde er von der gleichen Menge Zwerge mit einer Verbeugung und dem Trommeln der Axtstiele empfangen. Sie begrüßten ihren neuen König, man reichte ihm malziges Bier, Brot und Schinken zur raschen Stärkung.
Balendilín nahm kleine Bissen, spülte sie mit Bier hinunter und erklomm das Podest, auf dem zuvor der Sarg Gundraburs gestanden hatte.
»Ich wollte dieses Amt nicht«, sagte er laut und deutlich. »Gern hätte ich Gundrabur nochmals einhundert Zyklen oder mehr auf dem Thron gesehen und ihm treu gedient, aber es ist anders gekommen. Der Hammer Vraccas’ traf unseren König, nachdem er vierzehn Orks abschlachtete und von vier Pfeilen getroffen wurde.« Er schaute über die Menge. »Doch er hat mich als seinen Nachfolger ernannt, und so frage ich euch: Möchtet ihr mich als neuen König?«
Ein lautes »Ja« schallte ihm von allen Seiten entgegen, wieder pochte Holz auf Stein, dann riefen sie seinen Namen, und ihm lief vor Ergriffenheit ein Schauder über den Rücken.