Die Zwerge, Narmora und Furgas verließen Königsstein weniger überstürzt.
»Albae?«, nahm die Mimin den Faden auf. »Wo?«
»Gestern«, sagte Tungdil. »Es war einer. Aber Ihr habt keine gesehen?« Er fühlte eine leichte Abneigung gegen sie, vielleicht war es der leichte elbische Zug an ihr. Sie ist eine Schauspielerin, rief er sich in Erinnerung. Mehr nicht.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, man ließ uns in Ruhe. Aber gut, dass du uns gewarnt hast.« Ihre Rechte legte sich an die Halbmond-Waffe.
Nicht lange darauf trafen sie auf den Weiberheld, der gut eine Meile vom Tor entfernt zum Schutz vor dem Regen unter einer mächtigen Tanne stand und auf sie wartete.
»Waren sie die Aufregung wenigstens wert?«, konnte es sich Bavragor nicht verkneifen zu fragen.
Rodarios Gesicht bekam einen abwesenden, sehr genießerischen Ausdruck. »O ja. Auch wenn ich das Gefühl hatte, dass ich nicht der Erste war, der die Kunst des gemeinsamen Verwöhnens der beiden Frauenzimmer spüren durfte.« Er trottete neben den Ponys her. »Aber das ist nun Geschichte! Sodann lasst uns ins Reich der Ersten ziehen und die Pracht sehen, die kein Mensch jemals zu Gesicht bekam.« Das Schmatzen des Schlamms unter seinen Sohlen beeinträchtigte die Wirkung seiner getragenen Worte ein wenig, aber als Entdecker gab er eine ganz passable Figur ab.
Tungdil verband mit der stolzen Menschenstadt Königsstein alles andere als gute Eindrücke. Er blickte auch nicht mehr zurück, sondern ging schneller, um Weyurns Stolz rasch hinter sich zu lassen. Die Banner konnten noch so herrlich im Wind flattern, die ziegelgedeckten Hausdächer und Kuppeln noch so schön leuchten, der Zwerg dachte nur an die mörderischen Augen des Albs.
Ich hoffe, der unbekannte Retter hat ihn getötet.
III
Bei der nächsten Gelegenheit erstanden die Reisenden einen kleinen Wagen für das Gepäck sowie zwei Pferde; eines davon mussten sich Narmora und Furgas teilen. Danach ging es wesentlich einfacher und schneller in Richtung Westen.
Vor allem Rodario drängte darauf, rasch vorwärtszukommen, da er sich noch immer vor der Rache der gehörnten Gatten fürchtete – was ihn unterwegs nicht an neuen Eroberungen hinderte, die er mithilfe seines Charmes und seiner Redegewandtheit machte.
Der Nordwind jagte die ersten Schneeschauer über das Land, die Flocken blieben auf dem gefrorenen Boden liegen und bildeten eine weiße Schicht. Dieser Winter schien schneller und härter als gewöhnlich über die Natur und die Bewohner hereinbrechen zu wollen. Die Gruppe suchte sich nur noch wettergeschützte Orte, wo sie ihr Lager errichtete, und rastete unter Bäumen, Felsvorsprüngen oder den Ruinen verlassener Häuser und Festungen.
Die riesigen Seen, von denen Weyurn zu mehr als drei Vierteln bedeckt wurde, glitzerten eisig. Die Wolken sorgten für erhabene Licht- und Schattenspiele auf ihren Oberflächen, welche die Zwillinge schauernd betrachteten. Die Gefahr, in die nasse Tiefe gezogen zu werden, war ihnen einfach zu groß, und sie wollten Furgas und Rodario nicht einmal beim Eisangeln begleiten.
»Eis und Wasser sind gleich heimtückisch«, belehrte sie Ingrimmsch, während er ein Feuer in der alten Tempelruine entzündete, in der sie Zuflucht gesucht hatten. »Sie locken dich, und ehe du dich versiehst, verschwindest du für immer darin.«
»Das ist wie mit der Ehe. Zuerst locken dich die Weiber, aber wenn du brav in ihren Armen bleibst, ist das Leben allzu bald vorüber«, übertrug Rodario den Vergleich. »Ein Mann wie ich ist dazu geschaffen …«
»Anderen Männern die Hörner aufzusetzen, verprügelt zu werden und eines Tages an einer schmerzhaften Geschlechtskrankheit zu sterben«, fügte Narmora lächelnd an.
»Dein Neid ist meine Freude.« Er bleckte die Zähne und folgte Furgas zum Ufer des nahe gelegenen Gewässers.
»Er erinnert mich an einen Geißbock, den wir mal hatten«, sagte Boïndil. »Das Vieh besprang alles, was bei drei nicht aus dem Weg war.«
»Und wie endete er?«
»Er hat eine Geiß bestiegen, die nahe am Abgrund stand. Im Übermut sind beide die Klippen runtergefallen.« Er machte sich daran, die Haarstoppeln zu rasieren, damit sein schwarzer Zopf besser zur Geltung käme.
»Das heißt, dass er bei einem seiner Abenteuer aus dem Bett fällt und sich den Hals bricht?«, grinste Tungdil.
»Oder aus dem Fenster«, fügte Boëndal lachend hinzu, weil er die Vorstellung zu komisch fand, welch unrühmliches Ende für den Mann damit verbunden wäre.
»Stellt euch vor, er landet nackt auf dem Kopfsteinpflaster, nur ein Tuch bedeckt seine Männlichkeit, und die ganze Stadt steht drum herum«, prustete Boïndil und erklomm das obere Ende eines schräg liegenden Trümmerstücks, von dem aus er die Umgebung bestens überblickte. Dort setzte er sich nieder und steckte sich eine Pfeife an. Sein Bruder warf ihm etwas zu essen hoch. »Irgendwie wäre das ein Ende, das zu dem Schwätzer passte«, lautete seine letzte Bemerkung, ehe er sich über den Käse hermachte.
Goïmgar beteiligte sich nicht an der Unterhaltung, er schien zu schlafen und hatte sich in zwei Decken eingehüllt, den Schild wie eine dritte Decke über sich gelegt und die Augen geschlossen.
Schatten tanzten an den moosbewachsenen Wänden. Die Malereien waren im Lauf der Zyklen verblasst, und der abgesprungene Putz riss faustgroße Löcher in die Darstellungen von irgendwelchen Menschengöttern, die den Zwergen völlig fremd waren. Für sie gab es maßgeblich nur Vraccas, alles andere hätte nicht sein müssen.
Das große Feuer brachte rasch Wärme in den Raum, und das weiche Licht machte die von Rissen überzogenen Statuen lebendig.
Tungdil musste an die Aufführung im Curiosum denken, wo er vieles gesehen hatte und immer noch nicht wusste, ob es sich auf der Bühne ereignet oder ob ihm seine Vorstellungsgabe einen Streich gespielt hatte. Es sah so echt aus.
Bavragor kehrte zurück, nachdem er die eingefallenen Räume durchstreift hatte. Brummelnd begutachtete er die Steinmetzarbeiten. »Sie waren zwar gute Handwerker, aber nicht gut genug, um sich mit den Zwergen zu messen«, lautete sein Urteil.
Tungdil reichte ihm Brot und Schinken. »Darf ich dich etwas fragen?«
Bavragor nahm das Essen entgegen. »Das klingt nach einer ernsten Angelegenheit.«
»Es beschäftigt mich die ganze Zeit. Die Sache mit deiner Schwester …«
»Smeralda.« Bavragor legte sein karges Mahl auf den Stein nahe der Flammen, damit es wärmer wurde und sich der Geschmack des Fleisches besser entfaltete. »Er wird seine Schuld von mir niemals vergeben bekommen«, sagte er bitter, nachdem er sich einen langen Schluck aus seinem mit Branntwein gefüllten Trinkschlauch gegönnt hatte.
Tungdil drängte ihn nicht; er spürte, dass er die Geschichte an diesem Abend zu hören bekäme, und behielt Recht.
»Smeralda war ein junges Ding von gerade einmal vierzig Sonnenzyklen, als er seine wahnsinnigen Augen auf sie warf und beschloss, dass sie sein werden sollte. Sie war fast so kriegerisch wie er, sie übte den Umgang mit der Axt und träumte davon, ihm beizustehen«, begann Bavragor, und seine Fäuste ballten sich, während seine Erinnerung die Vergangenheit lebendig machte. »Wir haben ihr verboten, ihn zu sehen, weil wir Angst hatten, dass er ihr in seinem Wahn etwas antun könnte. Doch sie widersetzte sich unserem Vater, und sie trafen sich weiterhin. Eines Tages, als sie ihm an der Hohen Pforte im Kampf beistehen wollte …« Bavragor bedeckte das verbliebene Auge mit der Linken, die Rechte führte den Trinkschlauch an den Mund. »Er hat sie erschlagen. Sein vom Kampfrausch geblendeter Verstand erkannte sie nicht und hielt sie für eines der Ungeheuer.«
Tungdil schluckte, um den Kloß in seiner Kehle hinunterzuwürgen.
»Smeralda und ein Ungeheuer … Sie sprachen danach von einer Tragödie und einem schrecklichen Unglück, und er selbst sagte, er könne sich an nichts erinnern. Doch mir ist es gleich, Tungdil. Er hat meine Schwester getötet. Würdest du jemandem so etwas vergeben? Ich will es nicht.«