Oben angekommen, befand er sich mit dem Kopf des Hünen auf einer Ebene. Neugierig spähte er in den Helm, wollte die Schwärze darin erkunden, aber selbst seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen erkannten nichts. Es war, als befände sich ein bodenloser Abgrund unter dem Metall.
Die anderen nahmen rings um die Feuerstelle Platz.
Die Menschen waren hellwach, Rodario hielt sein Schreibpapier in der Hand, um dann festzustellen, dass die Tinte eingefroren war. Narmora hatte ihre wundersamen Waffen bereits wieder verstaut, Djerůn gesellte sich zurück ins Halbdunkel des hinteren Teiles der Ruine und wurde wieder zu einem Denkmal.
»Was hat Eure Meinung geändert, Maga?«, wollte Tungdil endlich wissen, nachdem sich die Aufregung gelegt hatte. »Und wie habt Ihr uns gefunden?«
»Kann ich denn frei vor euren neuen Reisegefährten sprechen?«
»Sie haben uns geholfen, Ihr könnt ihnen vertrauen.«
»Na, na, na«, grummelte Ingrimmsch von oben.
»Und wie man uns vertrauen kann«, rief Rodario laut hinauf und übernahm in seiner unnachahmlichen Weise die Vorstellung seiner Truppe. »Wir wissen von der Feuerklinge und sprangen den angehenden Helden und Figuren künftiger Epen in höchster Not bei, um sie vor den Schwertern und Klauen der Bogglins zu erretten, ehrenwerte Maga«, schloss er gestenreich ab. »Wir sind treue Begleiter.«
Sein Lächeln brachte gewöhnlich das dickste Eis zum Schmelzen und Steine zum Erweichen, doch bei Andôkai versagte es, sie blieb unbeeindruckt.
»Du bist schuld.« Ihre blauen Augen fixierten Tungdil. »Deine Rede ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Ich hörte dich ständig über die Verantwortung meinem Reich gegenüber sprechen. Es gelang mir nicht, mein Gewissen zum Schweigen zu bringen. Und den Tod hat Nôd’onn aus hunderten von Gründen verdient.«
Die zuckenden Flammen nahmen ihrem Antlitz einen Teil des Herben, zeichneten die Züge weicher, weiblicher. Rodario blickte sie unentwegt an und hing an ihren Lippen. Ihr strenger Charme und ihre Sprödigkeit schienen ihn als Verführer herauszufordern.
»Also kehrte ich zu den Zweiten zurück und nahm mir die Passage vor, die ich zunächst nicht übersetzen konnte. Du erinnerst dich, die letzte Unsicherheit in eurem Plan?«, sprach sie und schaute ins Feuer. Sie machte eine Handbewegung, und aus den wirbelnden Funken formten sich Buchstaben in der Gemeinsprache. Worte entstanden und verschwanden gleich darauf wieder.
»Die Feuerklinge, geschmiedet von den Untergründigen, wird ihre Wirkung gegen das Böse erst entfalten, wenn sie von dem Feind der Untergründigen geführt wird«, las Rodario laut mit. Er langte neben die Feuerstelle, wo ein verkohltes Stückchen Holz lag, und kritzelte sich Stichworte auf. »Ich muss es notieren. Ich würde mich ohrfeigen, vergäße ich das alles.«
»Ohrfeigen? Da helfe ich dir gern dabei«, bot sich Bavragor an.
»Die Götter mögen mich vor diesen Pranken bewahren«, lehnte er ab. »Das wird das beste Stück, das jemals im Geborgenen Land aufgeführt wurde«, schwelgte er vor sich hin und kratzte mit der Kohle auf dem Papier herum. »Die Häuser werden sich füllen …« Furgas versetzte ihm zum Zeichen, dass er still sein sollte, einen Stoß mit dem Ellenbogen.
»Der Feind der Untergründigen«, sagte Tungdil leise. Seine Enttäuschung in der Stimme konnte er nicht verbergen. Was kann damit gemeint sein?
»Feinde haben wir wahrlich genug«, meinte Boëndal ratlos. »Orks, Oger«, dabei schaute er kurz zu Djerůn, »Bogglins und alles, das Tion gegen uns und die Menschen und Elben schuf. Fällt dir nichts ein, Gelehrter? Dein Wissen wäre endlich von echtem Nutzen«, sagte er halb neckend.
Bavragor nahm seinen Lederschlauch mit Branntwein. »Das wird ein Spaß. Sollen wir uns einen Ork fangen und ihn abrichten, damit er sich auf den Magus stürzt? Oder müssen wir einen Oger bitten, Nôd’onn eins mit unserer Waffe überzubraten?«
»Das war es wohl für die Expedition«, fasste Goïmgar die Bedeutung der von Andôkai übersetzten Passage schwarzseherisch zusammen. Plötzlich wurde er bleich. »Mein König! Er weiß es nicht!«
Tungdil atmete laut aus. »Seid Ihr sicher, was die Übersetzung angeht?«, fragte er zögerlich.
Sie nickte. »Leider. Ich habe mich zu lange damit beschäftigt, um einen Fehler zu begehen.«
»Welchen Vorschlag könnt Ihr machen?« Er schaute zu Djerůn.
Sie lächelte. »Djerůn ist kein Ungeheuer, das versichere ich dir. Er kommt nicht infrage.«
Tungdil kratzte sich in seinem lang gewordenen Bart. »Dann stehen wir vor einer großen Schwierigkeit.« Er blickte in die Gesichter seiner Freunde und der Menschen. »Mir fällt nichts ein.« Er legte sich nieder und zog die Decke zu sich. »Vielleicht sendet mir Vraccas im Schlaf eine Eingebung. Ruht euch aus, wir brauchen unsere Kraft.«
Sie legten sich um das Feuer, Djerůn wachte über sie.
Mir muss eine Lösung einfallen, ich bin der Anführer. Unruhig wälzte er sich hin und her. Wenn ihm nichts in den Sinn kam, stand es für die Zukunft des Geborgenen Landes mehr als schlecht. Dieses Wissen erleichterte ihm das Einschlafen nicht.
Sie brachen am frühen Morgen auf, ohne dass Tungdil eine hilfreiche Eingebung von Vraccas erhalten hatte. Dennoch entschieden sie sich, ins Rote Gebirge zu reiten, vielleicht würde ihnen unterwegs oder zusammen mit den Ersten eine Lösung einfallen.
Es wird uns gelingen, dachte Tungdil fest, als er sich sein frisch entrostetes und mit Öl behandeltes Kettenhemd über das Lederwams warf.
Andôkai ritt bei Rodario mit. Hatte er sich gefreut, die Maga vor sich auf dem Sattel zu haben, damit er sie heldenhaft halten und berühren durfte, geschah das Umgekehrte. Sie nahm den Sattel ab, um mehr Platz zu haben, und verlangte von ihm, dass er vor ihr saß, während sie die Zügel in der Hand hielt, was ihm spöttische Bemerkungen von Furgas einbrachte.
In der Nacht war der Neuschnee anderthalb Ellen hoch gefallen, die Pferde mussten den Ponys einen Weg bahnen. In einer Linie trotteten sie hintereinander her, am Ende stapfte Djerůn und wirkte wie eine lebendig gewordene Statue aus der Ruine, die ihnen nachlief, weil es ihr in dem toten Gemäuer zu langweilig geworden war.
Die seltsam anzuschauende Truppe kam immer zäher voran. Der Winter machte es ihnen schwer, rasch an Meilen zu gewinnen, und zeigte Tungdil, wie wichtig die Tunnel mit den Schnellbahnen waren, um von den Ersten rasch hinüber ins Graue Gebirge zu gelangen. Zu Fuß oder selbst auf ihren Reittieren dauerte es viel zu lange. Die Strecke von zweihundert Meilen, für die sie eine Woche benötigten, hätten sie mit ihren Loren in ein oder zwei Sonnenumläufen bewältigt.
Als sie ihren Pferden nachmittags eine Rast gönnten, sprach er die Maga noch einmal darauf an, wie sie zu ihnen gefunden hatte.
»Es war nicht sonderlich schwierig«, berichtete sie. »Ich kehrte aus dem Jenseitigen Land zurück, verhandelte mit den Zwergen und benutzte den Tunnel, den ihr nahmt. Bei Mifurdania kam ich heraus, Djerůn fand eure Spuren, und alles andere ging leicht. Eine Gruppe von Zwergen fällt auf. Das macht es auch den Albae einfach, euch zu finden.«
Er schaute zu Narmora, die Furgas half, Schnee in einen Topf zu schaufeln, um ihn auf dem Feuer zu schmelzen.
Die Maga wandte den Blick zu Rodario. »Diese Schauspieler … wie seid ihr an sie geraten?« Tungdil erzählte es ihr. »Aha, Narmora ist demnach eine Frau mit vielen Talenten«, lachte sie leise, als sie hörte, dass sie Schlösser aufbrach. »Hast du das Theaterstück gesehen?«
»Oh, ja. Es nennt sich ›Die Wahrheit über Nudin den Wissbegierigen, der sich unter so grauenvollen Umständen zu Nôd’onn dem Zweifachen wandelte und das Geborgene Land ins Unglück stürzet‹. Das Curiosum war übrigens ausverkauft.«
»Ein sehr langer Titel«, grinste sie.
Tungdil sah zum ersten Mal, wie sich ihre Mundwinkel nach oben bewegten, und fand, dass ihr die Freundlichkeit viel besser stand als die strenge Mine, die sich sonst zur Schau trug. Rodario schaute ausgerechnet jetzt hinüber und lächelte zurück, in der Annahme, ihr Schmunzeln gelte ihm.