»Schnell, nehmt Boëndal und lasst uns von hier wegreiten«, keuchte die Maga. »Ich kann den Zauber nicht mehr lange aufrecht halten.«
»Verfluchter Alb!«, schrie Boïndil, die Tobsucht in den Augen, und wollte sein Pony antreiben. »Da ist noch einer! Sie gehören mir!«
»Nein«, hielt ihn Tungdil auf und schaute nach vorn. Tatsächlich standen nun zwei Albae nebeneinander; sie warteten auf einen Hinweis, dass der Schutzzauber brach. »Du würdest Andôkais Schutz verlassen und von den Geschossen durchbohrt werden. Dein Bruder ist wichtiger als sinnlose Rache.« Er griff in die Zügel des Ponys.
»Weg!« Ingrimmsch starrte ihn an, ohne ihn zu erkennen. Ein Beil hob sich zum Schlag.
Boëndal richtete sich blutend auf. »Bruder, nein! Lass es nicht noch einmal geschehen«, stöhnte er und versuchte, sich mithilfe seines Krähenschnabels auf die Beine zu stemmen, schaffte es aber nicht. Eine Hand war ihm durch den Pfeil auf den Rücken genagelt. Der Schmerz trieb ihm das Wasser in die Augen, dann verstummte er, und sein Körper entspannte sich.
»Nein! Vraccas, lass nicht zu, dass er stirbt!« Boïndil sprang aus dem Sattel und kniete neben ihm nieder. »Sein Herz schlägt noch.« Hastig schnitt er die Schäfte der Pfeile ab und hob seinen Bruder auf. »Wir müssen ihn in die Festung bringen.«
Schnell hievten sie den Leblosen auf das Pony und zerrten das vom Geschrei völlig verstörte Tier auf das nächste Tor zu.
Tungdil befiel das kalte Grausen, als er die Blutspur des Zwergs im pulvrigen Weiß sah. Selbst über die Krieger bringt die Expedition Verderben.
Er warf einen Blick zu den Albae hinüber. In dem Blonden glaubte er Sinthoras wieder zu erkennen. Verfluchte Bestie! Er muss den Angriff Djerůns in der Oase überstanden haben. Jetzt kehrte er zurück und nahm Rache für sich und seine Gefährtin, die sie in Grünhain getötet hatten.
Sinthoras riss sich ein Band vom Hals, wickelte es um sein nächstes Geschoss und zielte. Der Abstand bis zu ihnen betrug zweihundertfünfzig Schritt, aber Tungdil zweifelte nicht daran, dass der tödliche Pfeil bis zu ihnen gelangte. Die Sehne schnellte nach vorn, und kurz darauf schoss auch Sinthoras’ Begleiter.
»Gebt Acht!«, warnte Tungdil die anderen und verlor die Pfeile aus den Augen; sie waren zu schnell, um ihren Flug zu verfolgen.
Der magische Schild, den Andôkai errichtet hatte, flimmerte, als der erste Pfeil ihn brach. Der zweite schlug im Rücken Djerůns ein und bohrte sich durch das Metall.
Dieses Mal drang ein dumpfer Laut unter dem Kopfschutz des Kriegers hervor, und aus der Wunde sprühte eine grellgelbliche Flüssigkeit, als hätte die Spitze eine prall gefüllte Blase getroffen.
Tungdil hatte dieses Zeug in Königsstein gesehen, es schwamm in der Pfütze, kurz nachdem er gerettet worden war. Er wurde damals wirklich verletzt. Der Krieger schwankte, schüttelte benommen den Kopf und ging weiter, dieses Mal deutlich langsamer. »Nicht stehen bleiben!«
Sie rannten und ritten auf das zweite Tor zu. Tungdil öffnete es, und als das Portal sich hinter ihnen schloss, fühlten sie sich einigermaßen sicher.
»Schneller!« Boïndil trieb sie zur Eile an, während das Blut seines Bruders die Flanke des Ponys tränkte.
Aus der gelblichen Flüssigkeit, die aus Djerůns Wunde sickerte, war eine dunkelgraue geworden, und seine Geschwindigkeit verringerte sich beständig.
Die Beine der Zwerge, Menschen und Tiere sanken im tiefen Schnee ein, als sie sich den sanften Abhang hinunter auf das nächste Tor zukämpften.
Tungdil erinnerte sich bei dem Anblick an den sanften Abhang neben dem Stollen in Ionandar, auf dem er mit Frala und Sunja im Winter Schlitten gefahren war. Kurz entschlossen nahm er Goïmgar den Schild weg und drehte ihn um. »Legt Boëndal drauf. Wir rutschen hinunter, das geht schneller.«
Sie legten den Schwerverletzten darauf, Ingrimmsch kauerte sich über ihn, und so sausten sie über die weiße Fläche, direkt auf den dritten Durchgang zu, der sich überraschenderweise für die beiden öffnete.
Die glatte Unterseite des Schildes glitt immer schneller über den Schnee, und Boïndil konnte weder steuern noch bremsen. Dann raste er genau auf eine Gruppe von Zwergen zu, die hinter dem Portal Aufstellung genommen hatte und mit ihren Äxten auf die Neuankömmlinge wartete.
Tungdil legte die Hände an den Mund. »Bei Vraccas, wir sind Zwerge vom Stamm der Zweiten«, rief er den Verteidigern zu, und sein Atem stand als weiße Wolke in der kalten Luft. »Senkt die Waffen!«
Die Ersten erkannten die nahenden Freunde noch rechtzeitig und bildeten eine Gasse, um das seltsame Gefährt passieren zu lassen, das umgeben von glitzernder Gischt durch ihre Reihen rauschte. Wie durch ein Wunder geschah niemandem etwas.
Der Rest der Gefährten keuchte heran und wurde von den Wachen argwöhnisch betrachtet, von denen wegen der Rüstungen und Pelze zum Schutz gegen die Kälte nur die Augenpartien zu erkennen waren. Ein Wald aus langen Spießen, Äxten und Kriegshämmern reckte sich ihnen entgegen.
»Der Segen von Vraccas, der unser Schöpfer ist, sei mit euch! Möge das Feuer der Lebensesse niemals erlöschen. Mein Name ist Tungdil Goldhand«, stellte er sich nach Luft ringend vor und warf einen Blick über die Schulter, um nach den Albae Ausschau zu halten. »Das sind meine Freunde und Begleiter. Wir müssen mit eurem König sprechen, der Rat der Stämme hat uns gesandt, um mit euch die Rettung des Geborgenen Landes zu bereden.«
Der Wald aus Stahl und Eisen lichtete sich. Ein Zwerg in Kettenhemd, Lederhose und einem besonders schön gearbeiteten weißen Pelzumhang trat nach vorn. »Wir haben schon seit vielen Zyklen nichts mehr von den anderen Stämmen und Clans gehört, und nun, wo das Tote Land erwacht ist, taucht eine bunte Ansammlung aus Langen und Zwergen auf?« Die Stimme war ungewöhnlich für einen Mann.
»Wie sprichst du zu uns, Zwerg, der keinen Namen zu haben scheint?!«, grollte Bavragor und trat vor; er überragte den Sprecher um einen Kopf. »Ich bin Bavragor Hammerfaust aus dem Clan der Hammerfäuste, ein Kind des Schmiedes aus dem Stamm Beroïns und dir ebenbürtig. Sieht so die Gastfreundschaft der Ersten aus?«
»So kann nur ein Zwerg poltern«, meinte der andere und zog den Schal nach unten, damit man das Gesicht erkennen konnte.
Tungdil verschlug es die Sprache. Er schaute in das Antlitz einer Zwergin! Die weichen Züge waren unverkennbar, und anstelle eines Bartes trug sie zarten dunkelbraunen Flaum, der an den Seiten dichter und dunkler wurde.
»Mein Name ist Balyndis Eisenfinger aus dem Clan der Eisenfinger. Ich beschütze die Hauptpforte der Ersten, und von daher ist es meine Pflicht, Gäste genau zu betrachten, ehe ich sie hereinbitte«, sagte sie keineswegs eingeschüchtert.
IV
»Du bist ein Weib«, sagte Bavragor verblüfft.
»Gut gesehen, Bavragor Hammerfaust aus dem Clan der Hammerfäuste«, entgegnete sie lächelnd mit spöttelndem Unterton. »Dein Auge ist scharf.« Dann gab sie Anweisung, dass man sich um den verletzten Boëndal kümmern sollte. Vier Zwerge hoben ihn samt Schild auf und trugen ihn auf das vierte Tor zu. Sein Bruder wich nicht von seiner Seite, nachdem es ihm Tungdil mit einem knappen Kopfnicken erlaubte. »Wir bringen euch in die große Halle. Dort werdet ihr unsere Königin treffen.«
Die Wächterin musterte Tungdil neugierig, dann wandte sie sich um, und sie folgten ihr. Tungdil warnte sie vor dem Alb, worauf Balyndis die Krieger anwies, die Mauern des dritten Walles zu besetzen, auf dem große Speerkatapulte und Steinschleudern aufgebaut waren.
»Wozu braucht ihr die?«, wollte er wissen.
»Wir hatten vor vielen Zyklen mit Trollen zu kämpfen, die Tion in unserem Rücken aussetzte. Unsere Vorväter errichteten die Wälle, um ihre Angriffe zu behindern, und schließlich unterlagen die Bestien.« Sie schaute nach oben. Eine Wache signalisierte ihr, dass alles ruhig war. »Scheint, als hätten sich die Albae zurückgezogen. Was wollten sie von euch?«