»Verzeih, aber das berede ich mit deiner Königin«, wich er ihrem forschenden Blick aus.
»Das ist ja höchst aufschlussreich«, meinte Rodario ganz aufgeregt. »Scheint so, als hätten die Frauen hier die Hosen an. Ein Aufstand der Zwerginnen! Wenn meine verdammte Tinte nicht eingefroren wäre«, jammerte er. »Das kann ich mir niemals alles merken!«
»Ein Aufstand?« Balyndis lachte. »Nein, kein Aufstand. Ist es nicht üblich, dass sich Mann und Frau die Aufgaben teilen?«
Djerůn hatte Andôkai abgesetzt und schwankte hinter ihnen her, bis er im letzten Torbogen stehen blieb und sich an einen Pfeiler lehnte.
Es geht dem Krieger sehr schlecht, stellte Tungdil fest. Er fühlte sich mit verantwortlich, weil Djerůn seinetwegen bereits in Königsstein verletzt worden war.
»Er muss es nur noch ein paar Schritte weit schaffen«, sagte die Zwergin, »danach kümmern sich unsere Heiler um ihn.« Sie schien sich keine Gedanken darüber zu machen, dass seine Größe nicht zu der eines gewöhnlichen Menschen passte.
»Nein, das ist nicht notwendig. Ihr könnt vorgehen, ich muss mich selbst um ihn kümmern«, schickte Andôkai sie vor. Djerůn rutschte langsam an der Steinwand hinab und sank in den Schnee. »Wir folgen euch nach. Eure Kunst reicht nicht aus, um seine Verletzungen zu kurieren; nur meine Magie kann ihm helfen.« Ohne Rücksicht auf ihren eigenen geschwächten Zustand kniete sie sich neben ihn und zog ihre letzten innerlichen Reserven zusammen. »Geht!«, befahl sie hart, und die anderen wandten sich um, ohne zu widersprechen.
Das ist also die Heimat der Ersten. Tungdil schaute zu den roten Hängen des Berges. An seinem Fuß hatten die Ersten eine Festungsanlage mit neun Schwindel erregenden Türmen herausgeschlagen. Der Baustil sah anders aus als der der Zweiten, weniger hart und kantig, sondern geschwungener, aber nicht weniger beständig und solide. Auf aufwändige Ornamente hatten sie ganz verzichtet.
Die Gruppe ließ ihre Pferde zurück und stieg auf eine hölzerne Plattform am Ende eines Turms. »Bewegt euch nicht und bleibt ruhig stehen. Das erste Mal ist es sicherlich ungewohnt.« Balyndis legte einen Hebel um, und schon schossen sie nach oben, flogen an engen und steilen Wendeltreppen vorbei.
Tungdil hörte unterwegs das Rasseln von Ketten, die sich abspulten und aufwickelten. Ein Flaschenzug für Leute! »Ihr hattet das Treppensteigen satt?«, fragte er die Zwergin.
Balyndis schenkte ihm ein Lächeln, und ihre Züge wurden für ihn dadurch noch hübscher. »Es macht das Leben leichter.«
Sie gelangten an die Spitze des höchsten der neun Türme und zu einem Wehrgang. Auf ihm schritten sie entlang, bis sie über eine breite, frei tragende Bogenbrücke auf den Eingang zumarschierten.
Rechts und links von ihnen ging es zweihundert Schritt in die Tiefe. Krähen und Dolen kreisten um sie, und der Wind pfiff eisiger denn je. Narmora achtete darauf, dass das rote Kopftuch nicht davonflog.
Die großen, gut zehn Schritt breiten und fünfzehn Schritt hohen Portale blieben ihnen verschlossen; stattdessen öffnete Balyndis ihnen eine Tür, durch die sie in die große Halle gelangten.
Bavragor wirkte sehr zufrieden. »Wusste ich’s doch«, murmelte er und brauchte nichts weiter zu sagen, denn alle wussten, dass er soeben ein Qualitätsurteil über die Steinmetzarbeiten der Ersten abgegeben hatte.
Was ihn nicht sonderlich beeindruckte, sorgte bei Furgas, Rodario und Narmora indes für unverkennbares Staunen und Begeisterung.
»Ich habe immer davon gehört, aber niemals geglaubt, dass man solche Hallen in den Fels treiben kann«, sagte Furgas ehrfurchtsvoll und senkte seine Stimme.
»Wir brauchen unbedingt ein neues Theater«, beschloss der Schauspieler. »Es muss noch größer sein, damit wir den Spectatores den Eindruck dieser Herrlichkeit vermitteln können.« Er berührte den Stein mit den Fingern. »Tatsächlich, er ist echt. Keine Pappe. Sagenhaft, nein, es ist märchenhaft!«
Sie bewunderten die Statuen und Standbilder aus Bronze und Kupfer, an deren Detailreichtum sich vor allem die Zwerge erfreuten. Es waren Darstellungen von Schlachten gegen die Kreaturen Tions, aber auch einzelne Zwerge, wie der Stammvater der Fünften oder herausragende Krieger und Kriegerinnen der Ersten.
»Hier entlang«, wies sie ihre Führerin an, die einige Schritte vorausgeeilt war, und zeigte ihnen das nächste Wunder.
Dieses Mal musste Bavragor eingestehen, dass zumindest die Ingenieure der Ersten unerreicht waren. Dort, wo der Stein nicht ausgereicht hatte, um eine Brücke über die unendlich tiefen Schluchten zu schaffen, hatten sie glänzende Stahlplatten in die Lücken eingesetzt und sie mit wunderschönen schmiedeeisernen Geländern und Zierrat aus Silber versehen.
Bei der letzten Brücke erzeugten die genagelten Stiefel bezaubernde Töne, jede Platte klang anders. Der Schall drang durch die hohe Höhle, und die Töne mischten sich zu einem einfachen, doch herrlichen Konzert.
»Ich kapituliere«, meinte Rodario erschlagen von den Eindrücken des Zwergenreichs. »Wir lassen das Projekt fallen und führen irgendeine blödsinnige Posse auf. Nicht die beste Illusion vermag das hier nachzuahmen.«
»Doch, das bekommen wir schon hin«, meinte Furgas zuversichtlich. »Es wird nur sehr teuer.«
Das letzte Eis und der letzte Schnee schmolzen von ihrer Kleidung und den Rüstungen, sie fühlten sich wohler und sehr müde.
Balyndis blieb vor einer großen Pforte stehen und klopfte. Ein goldener Schimmer fiel durch den Spalt und gab ihnen einen Vorgeschmack auf die Pracht, die sie im Innern erwartete.
Der rechteckige Saal war ganz mit Blattgold ausgekleidet. Die Wände reflektierten das warme Licht der aufgestellten Kerzen und Leuchter; sämtliche Statuen bestanden aus Gold, Silber, Vraccassium und weiteren wertvollen Metallen, welche die Clans der Ersten aus dem Leib des Berges geschürft hatten. Die Skulpturen waren mit losen Schmuckstücken versehen, die man nach Belieben austauschen konnte.
Die Königin saß zwanzig Schritt von ihnen entfernt auf einem Thron, der offenbar aus purem Stahl bestand. Zwerginnen und Zwerge in vergoldeten Rüstungen wachten über sie. Kunstvolle Mosaikbilder aus gewalzten Silber-, Gold- und Vraccassiumplättchen hingen über ihren Köpfen und funkelten.
»Sagte ich teuer?«, raunte Furgas Rodario zu. »Ich meinte, sehr teuer.«
»Kommt näher und seid im Reich der Ersten willkommen«, erlaubte ihnen die Herrscherin den Eintritt.
Tungdil setzte sich an die Spitze des kleinen Zuges. Höflich verneigte er sich vor der Königin und sank auf ein Knie nieder. Die anderen Zwerge taten es ihm nach, und nur die Menschen begnügten sich mit einer tiefen Verbeugung. Dann stellte er sie der Reihe nach vor und vergaß auch nicht, die Zwillinge und die Maga zu erwähnen.
»Ich bin Tungdil Goldhand vom Stamm der Vierten«, beendete er seine kurze Rede und hoffte, dass er alles richtig gemacht hatte. »Ein wichtiges Anliegen führte uns quer durch das Geborgene Land bis zu dir.«
»Sehr schön, Tungdil Goldhand. Ich bin Königin Xamtys II. Trotzstirn aus dem Clan der Trotzstirne und seit zweiunddreißig Zyklen Gebieterin über das Rote Gebirge. Euer Besuch macht mich neugierig, denn ich habe schon lange nichts mehr aus den Reichen meiner Brüder gehört.« Sie trug eine Rüstung aus goldenen Ringen und eine vierzackige Keule als Zepter, ihre braunen Augen blickten neugierig und freundlich zugleich.
Sie bekamen Getränke gereicht; heiß stieg der Dampf aus den Bechern auf. Rodario schlürfte mit wohligem Seufzen und freute sich über die Wärme, die sich seit langer Zeit wieder in ihm ausbreitete.
»Und welches wichtige Anliegen führt dich und deine Freunde in mein Reich?«, fragte die Königin.
»Es ist leider nichts Gutes.« Tungdil begann mit seinem Bericht, schilderte die Veränderungen im Geborgenen Land, den Tod der Magi und Magae und verheimlichte ihr auch nicht die Streitfrage um den nächsten Großkönig. Schließlich kam seine Sprache auf die Feuerklinge.