Ich kenne sie von irgendwoher. »Das Rätsel lässt sich auf diese Weise nicht lüften«, entschied Tungdil. »Wir gehen weiter.«
Sogleich bückte sich Ingrimmsch nach seiner Last, und die Gruppe setzte sich in Bewegung.
Im letzten Augenblick ließ sich Balendilín fallen. Die Schneide zischte über ihn hinweg und prallte klingend gegen die Steinbrüstung der Brücke. Er trat Bislipur von unten ins Gemächt, zog seinen Dolch und rammte ihn in die Stiefelspitze. Aus dem Stöhnen des Verräters wurde augenblicklich ein lauter Aufschrei.
Der Schleier vor seinen Augen lichtete sich, er sah Bislipur wieder klar vor sich – rechtzeitig genug, um dem mit viel Wut ausgeführten Hieb zu entkommen. Er rollte sich nach rechts, und die Axt schlug wirkungslos auf die Brücke.
Dieses Mal hatte Bislipur mit der Bewegung des Königs gerechnet und schwang die Waffe wie eine Keule von unten nach oben hinter ihm her. Die Klinge durchtrennte Kettenglieder und drang schmerzhaft in seine verletzte Seite; die Spitze verhakte sich im Ringgeflecht.
»Hab ich dich! Flieg, Einarmiger«, lachte er, packte den Stiel mit beiden Händen, zerrte seinen Gegner an der Waffe hinter sich und schleuderte ihn hart gegen die Brüstung. Balendilín rutschte über die Steine und sah plötzlich den Abgrund unter sich. »Oh, ich habe vergessen, dass dir das Wedeln mit den Armen schwer fallen dürfte.«
»Zeig mir, ob ein Dritter ebenso gut fliegt wie ein Zweiter«, rief der König, streckte sich, um mit seinem Dolch zuzustoßen, und jagte diesen durch den Unterarm des Verräters. Dann spürte er, wie er über die Kante rollte.
Balendilín klammerte sich an den Griff des Dolches und zog den schreienden Bislipur mit sich in die Tiefe. Für deinen Verrat stirbst du mit mir!
Zu seinem eigenen Erstaunen endete sein Flug nach zwei Schritt auf festem Untergrund. Der Dolch glitt aus dem Arm seines Feindes. Balendilín war auf den Resten eines Steinbogens gelandet, der sich einst zur Zierde unter die Brücke gespannt hatte und wegen seiner Instabilität abgerissen worden war.
Bislipur schoss an ihm vorbei; instinktiv gab er den Griff der Axt frei, um sich an der vorderen Kante des Bogens festzuhalten, was ihm auch gelang. Doch ihm blieb nur die Rechte, weil der Dolch ihm den anderen Arm vom Ellbogen bis zum Handgelenk aufgeschlitzt hatte.
»Es ist noch nicht vorbei«, keuchte er vor Schmerz und Anstrengung, während er sich mit einer Hand nach oben zog. Seine Augen loderten vor Hass. »Mir reichen fünf Finger aus, um dich zu erwürgen, Balendilín.« Langsam schob er sich über den Vorsprung.
Mit einem lauten Schrei riss sich der König die Axt aus dem Kettenhemd. »Doch, es ist vorbei«, rief er und schlug dem Verräter die Schneide durch den Helm in den Schädel. Es knirschte und knackte, dann lief Bislipur das Blut in die Stirn. »Ich versprach, dass ich dich töte, und meine Versprechen halte ich.«
Er ließ den Griff los, trat dem Sterbenden ins Gesicht und schob ihn über die Kante zurück. Der Körper stürzte in die Tiefe; es knallte dumpf, als er nach mehr als zwanzig Schritt auf dem Stein aufschlug und zerschmetterte.
Vraccas, verbrenne seine Seele in deiner Esse. Balendilín schloss die Augen und lehnte sich an den Steinbogen. Die Schmerzen raubten ihm das Bewusstsein.
Gerade als er halb ohnmächtig von seinem schmalen Sitz rutschen drohte, fanden sie ihn und trugen ihn zu den Schnelltunneln. Seine Lore setzte sich als Letzte in Bewegung.
Die Sonne versank am ebenen Horizont und brachte den Schnee ein letztes Mal zum Glitzern, ehe die Dämmerung hereinbrach. Tausende kleiner Diamanten blinkten auf der weißen Ebene.
Mitten in der unberührten Fläche geriet ein einzelner Steinbrocken in Bewegung. Der Schnee rieselte von ihm herab, dann schob er sich zur Seite, und eine Frauengestalt schwang sich aus dem Loch darunter ins Freie. Ihre Fußspuren zerstörten die Makellosigkeit.
»Bei Samusin!«, entfuhr es Andôkai, als sie sich aufrichtete und über die tellerflache Ebene blickte. Überall dort, wo kleine Punkte in weiter Entfernung Siedlungen markierten, stiegen Rauchsäulen in den Himmel. Sie kniete sich hin, um sich kleiner zu machen, und zog den Mantel zum Schutz gegen die beißende Kälte enger um sich. »Die Orks sind schon hier. Sie müssen aus dem Norden gekommen sein.« Die saubere, klirrend kalte Winterluft fuhr in ihre Lungen, und sie musste husten.
Vereinzelt erkannte sie große dunkle Flecken, die sich langsam vorwärtsbewegten und dorthin zogen, wo sich die nächste, noch nicht brennende Stadt, ein unverwüstetes Gehöft oder ein unversehrtes Dorf befanden.
Andôkai schloss die Augen und konzentrierte sich. Sogleich spürte sie die Ausläufer eines schwachen Energiefeldes im Boden, das sich jedoch unter dem Einfluss Nôd’onns zum Schlechten hin gewandelt hatte.
»Wir stehen auf den Resten des Zauberreichs Turguria«, sprach sie langsam. »Das Land unter unseren Füßen war einst reich an Magie. Jetzt kann ich sie kaum nutzen.« Dennoch nutzte sie die Gelegenheit, ihren inneren Vorrat aufzustocken, doch dabei verzerrte sich ihr Antlitz vor Schmerzen.
Ein Zwergenhelm erschien in der Öffnung, ein paar wachsame braune Augen folgten, die umherspähten. »Dann nichts wie weg von hier«, verlangte Boïndil mürrisch und stemmte sich ins Freie; die anderen folgten ihm die letzten Stufen der Treppe hinauf. »Jetzt weiß ich, warum ich mich die ganze Zeit über so unwohl fühle. Hokuspokus, pah. Ist nichts, taugt nichts.« Er schüttelte sich und schob den Stein, der den Zugang zu den Röhren verbarg, wieder an seinen alten Platz. »Gehen wir.«
»Warte.« Tungdil folgte Andôkais Blick. Er fröstelte; sein Atem wurde wieder zu weißen Wölkchen und die Barthaare überzogen sich mit einem Eisfilm. »Ich gebe Euch Recht. Sie müssen aus dem Gebiet des Toten Landes stammen, die Rotten aus Toboribor wären niemals so schnell hierher gelangt.«
»Umso schlimmer für uns«, meinte Goïmgar in seiner gewohnt nörgelnden Art. »Ich …«
»Sei still, oder du erlebst was«, grollte Boïndil drohend. »Wir denken nach.«
»Du? Nur weil …«
Ingrimmsch wirbelte herum und stürmte schreiend auf ihn zu. Schnell riss Goïmgar seinen Schild in die Höhe und schrie um Hilfe.
»Nein, Boïndil!« Doch der Zwerg hörte nicht. Er wird ihn in Stücke reißen! Tungdil warf sich ohne zu zögern gegen Boïndil, Bavragor folgte ihm, und die drei verschwanden in einer Schneewolke, aus der Fluchen, das Klatschen von Schlägen und Keuchen drangen.
Mit Djerůns Hilfe gelang es, sie wieder zu trennen. Wie durch ein göttliches Wunder hatte Ingrimmsch darauf verzichtet, seine Waffen zu ziehen, die sicherlich verheerende Folgen für die anderen gehabt hätten. Die blauen Flecken am Kopf und das Blut unter ihren Nasen bewiesen, welche Kräfte der Krieger besaß.
»Es tut mir Leid«, schnaubte Boïndil. »Es ist mein heißes Blut«, suchte er nach einer Entschuldigung, während er seinen Helm im Schnee suchte. »Er hat mich gereizt und …«
»Schon gut.« Tungdil sparte sich eine Standpauke, seine rechte Gesichtshälfte pochte und fühlte sich heiß an. »Wir werden bald auf Orks stoßen, gegen die du ganz allein kämpfen darfst.«
Balyndis kümmerte sich um ihre Verletzungen; sie formte Schneebälle, mit denen sie die getroffenen Stellen kühlten. Schweigend setzten sich die Gefährten in Bewegung, um nach Nordosten zu marschieren.
Andôkai gesellte sich an die Seite Tungdils. »Vor uns sind keine Rauchsäulen zu sehen. Die Orks haben wohl auf Geheiß Nôd’onns zuerst den letzten Rest an Widerstand in den Zauberreichen erstickt, ehe sie sich an die Eroberung der weltlichen Königtümer machen.« Sie deutete nach Osten. »Da drüben, auf der Gemarkung Tabaîns, liegt eine befestigte Stadt, dort sollten wir die Nacht verbringen. Es wird eisig kalt werden, und wir sind nicht darauf eingerichtet, im Freien zu schlafen. Sie werden über jede Hand froh sein, die ein Schwert halten kann.«