»Er will nicht«, sagte der Zwilling laut durchs Fenster.
»Sag ihm, du hättest einen Alb gesehen, dann kommt er«, riet ihm Bavragor, der sich mit Balyndis ein Stück echten Zwergenkäse teilte. Andôkai roch den herben Duft und verzog angewidert das Gesicht, sagte aber nichts.
Nach wenigen Lidschlägen hörten sie den Gemmenschneider die Treppe hinauflaufen; er flog ins Zimmer und schlug die Tür zu, um sie sofort mit dem dicken Eichenbalken zu versperren.
Boïndil kehrte von seinem Aussichtspunkt zurück. Das Kettenhemd klirrte leise, als er auf den Boden sprang. »Du hattest Glück«, meinte er todernst und wickelte sich seinen langen Zopf zum Kissen. »Er war dicht hinter dir.«
Goïmgar wurde aschfahl.
VI
Tungdil erwachte, weil er ein sanftes metallisches Schaben hörte, und öffnete die Augen.
Djerůn hatte sich erhoben und stand vor dem Eingang. Die Rechte hielt sein gewaltiges Schwert mit der Spitze waagrecht nach vorn, die Klinge zielte auf die Tür.
Andôkai lag in ihrem Bett. Sie war ebenfalls wach und schaute zu Tungdil, um ihm mit einem knappen Zeichen zu bedeuten, so zu tun, als schliefe er noch.
Ein dünnes Stück Holz wurde durch einen schmalen Türspalt geschoben, dann wanderte es nach oben, wobei es den Eichenbalken lautlos aus der Halterung schob und die Sicherung entfernte.
Stückchen für Stückchen wurde die Tür geöffnet. Ein schwacher Lichtschimmer fiel herein und zeichnete einen gedrungenen Schatten auf den Boden.
Die Gestalt war so groß wie ein Zwerg, sie trug einen Helm und hatte einen sehr krausen, buschigen Bart, wie Tungdil im Gegenlicht erkannte. In der Linken hielt sie ein Säckchen. Sie erschrak, als sie Djerůn erblickte, und Andôkai gab dem Krieger einen Befehl.
Seine freie Hand ruckte nach vorn, um den Eindringling zu fassen, doch dieses Mal reichte die übermenschliche Schnelligkeit nicht aus.
Der Zwerg bückte sich unter den Fingern weg und rannte ins Zimmer hinein anstatt hinaus.
»Nicht so eilig!« Tungdil sprang aus dem Bett und stellte sich dem unbekannten Zwerg in den Weg, um ihn aufzuhalten, aber auch er unterschätzte seine Wendigkeit. Alles, was ihm zu seinem Erstaunen in der Hand blieb, war eine kratzige Bartlocke.
Der unbekannte Zwerg hopste zum Fenster hinauf und warf das Säckchen nach ihm, ehe er übers Dach flüchtete. Der Behälter prallte gegen Tungdil. Klingelnd verteilte sich der Inhalt auf den grob behauenen Dielen.
Der Lärm reichte aus, um die anderen zu wecken, Boïndil lief mit gezückten Beilen im Raum umher und schrie nach den Orks, die ruhig kommen sollten, jeder langte nach den Waffen.
Balyndis stand in der Unterwäsche auf ihrem Bett, die Axt mit beiden Händen umklammert. Mondlicht fiel durch den Vorhangspalt und machte ihre Kleidung durchsichtig. Jedenfalls dachte Tungdil, dass er mehr von ihrem Körper erkennen konnte, als ihr vielleicht lieb war, aber die Rundungen, die er sah, gefielen ihm zu gut.
»Was war?«, verlangte Ingrimmsch streitlustig zu wissen.
»Wir hatten einen ungebetenen Besucher, einen Zwerg«, sagte Andôkai und schaute aus dem Fenster, um zu sehen, wo er abgeblieben war, »der erstaunlicherweise meinem Zauber trotzte. Er ist weg.«
»Gold«, meinte Tungdil überrascht, als er die gelben Scheiben am Boden sah. Er bückte sich und sammelte sie auf. Manche klebten aneinander, und seine Finger wurden feucht.
»Und ein Dolch«, machte Goïmgar sie aufmerksam, der sich in eine Ecke kauerte.
Boïndil hob ihn auf und betrachtete ihn abschätzend. »Das ist Zwergenarbeit«, meinte er und hielt ihn Balyndis hin. »Was sagst du dazu?«
Das Poltern von schweren Stiefeln, die die Stiegen hinauftrampelten, drang zu ihnen ins Zimmer. Gerüstete Stadtwachen stürmten in den Raum, die Hellebarden drohend nach vorn gerichtet.
»Licht!«, brüllte jemand. Lampen wurden herbeigeschafft, und noch mehr Bewaffnete drängten herein.
Nur weg damit. Tungdil wollte das Gold rasch aus dem Fenster werfen und Boïndil anweisen, die Waffe verschwinden zu lassen, doch es war zu hell und damit zu spät für ein verstecktes Manöver. Im Schein der Lampen sah er, dass sich seine Finger rot gefärbt hatten; an den Münzen und der Klinge haftete fremdes Blut.
»Bei Palandiell, das nenne ich dreist!«, wetterte der Hauptmann der Garde, ein kräftiger Mann von vierzig Zyklen mit einer kleinen Narbe auf der linken Wange. »Da sind die missratenen Spitzbuben und halten frech Rat, wie sie ihre Beute aufteilen sollen.« Sein Blick fiel auf den Dolch in der Hand des Zwillings. »Und hier haben wir die Waffe!« Er winkte seinen Gardisten zu. »Festnehmen. Alle. Auch den Großen und die anderen. Die Befragung wird ergeben, ob sie etwas mit der Sache zu haben.«
»Welche Sache denn, Hüter der städtischen Sicherheit?«, erkundigte sich Rodario in seinem zuvorkommend höflichen Tonfall, als plauderte er mit dem Gerüsteten über das Wetter. Er richtete seine Unterwäsche mit Bewegungen, wie sie einem Adligen würdig gewesen wären. »Wärt Ihr wohl so freundlich, ein wenig Licht in die Angelegenheit zu bringen?«
»Es geht um den Raubmord an Patrizier Darolan, gerade eben, nur drei Gassen weiter.« Er blickte auf Boïndil. »Pech für dich. Du wurdest von uns gesehen und verfolgt.« Er wandte sich an einen Unteroffizier. »Es scheint sich um eine ganze Bande zu handeln. Womöglich betreibt sie es als Handwerk.«
»Das ist ein großes Missverständnis«, begehrte Tungdil auf und erklärte, was sich vor dem Eintreffen der Stadtwache im Zimmer abgespielt hatte. Zum Beweis hielt er ihnen die Locke hin, die sich bei genauerem Hinsehen als ein Stück ungesponnene Wolle entpuppte.
Der Hauptmann lachte ihm ins Gesicht. »Sicher doch, Unterirdischer. Du denkst, ich falle auf diesen Schwachsinn herein?«
»Zugegeben, es klingt abenteuerlich …«
»Es klingt lächerlich. Du und deine Kumpane sind verhaftet, im Namen des Königs«, entschied er. »Wir finden heraus, wer von euch gemordet hat. Die Folter hat bisher jeden Mordbuben geständig gemacht.«
»Wie ich schon erwähnte, wir haben nichts mit den Zwergen zu tun«, sagte Rodario mit gewohnter Selbstverständlichkeit, wobei er Tungdil kurz zuzwinkerte. »Wir sind die Begleiter der Dame, ihr Gefolge, und trafen die …«
»Das klären wir in der Zitadelle«, unterbrach ihn der Hauptmann harsch. Sein eben noch mürrisches Gesicht wurde plötzlich freundlicher. »Andererseits … die Beweise eurer Unschuld liegen auf der Hand.« Er nahm die falsche Bartlocke, wandte sich um und deutete zur Tür. »Abmarsch. Wir wurden an der Nase herumgeführt. Der Mörder muss noch draußen unterwegs sein.«
»Hauptmann?!«, wunderte sich sein Unteroffizier unverhohlen. »Wir haben doch gesehen, wie der Zwerg in die Schenke …«
»Wir suchen draußen«, wiederholte er. »Wird’s bald? Sonst entkommt uns der wahre Mörder.« Da er sich von seiner Ansicht nicht mehr abbringen ließ, leisteten seine verdutzten Untergebenen seinen Anweisungen Folge und kehrten auf die Straße zurück. Nicht lange darauf tönte das Scheppern ihrer Rüstungen durch das geöffnete Fenster.
»Das war knapp. Wie gut, dass er zur Besinnung kam«, atmete Rodario auf. »Schlafen wir weiter?«
Andôkai packte ihre Sachen zusammen. »Wir müssen von hier verschwinden. Mein Zauber wird nicht ewig halten, sein Verstand kehrt bald zurück.«
Boïndil kratzte sich am Bart. »Meinst du den Schauspieler?«
»Nein, sie meint den Hauptmann«, erklärte Tungdil und musste grinsen. Nun wusste er auch, warum alle sich so wenig um Djerůn kümmerten. Die Maga schien die Gedanken beeinflussen zu können. »Sie hat ihn verhext, oder warum sollte er sonst so gehandelt haben?« Nachdenklich betrachtete er einen Fetzen der groben Wolle, die zwischen seinen Fingern geblieben war. Jemand wollte uns eine Falle stellen, die beinahe zugeschnappt wäre. »Eine verfluchte Falle.«