Schweigend eilten sie über die verschneite Straße. Bavragor, der hinter Goïmgar trabte, musterte irgendwann dessen Rücken. »Wo ist der Sack mit den Barren?«, schnaufte er und erhielt keine Antwort. »He, ich habe dich was gefragt!«
Der Edelsteinschleifer beschleunigte seine Schritte, um mehr Abstand zu gewinnen, ehe er antwortete. »Eine Wache hat ihn mir aus der Hand geschlagen, und in dem ganzen Getümmel kam ich nicht mehr an ihn heran. Es tut mir Leid«, gestand er klagend. »Ich habe es nicht mit Absicht getan.«
»Nicht mit …?! Was ich gleich machen werde, geschieht dagegen mit voller Absicht«, rief Bavragor, aber Tungdil hielt ihn mit eisernem Griff zurück.
»Lass es gut sein.«
Der Steinmetz konnte es nicht fassen, sein rotbraunes Auge sprühte vor Ärger. »Aber wir können nicht mehr zurück, um die Barren zu holen! Wie sollen wir die …«
»Wir gehen ins Reich der Fünften, dort wird sich etwas finden lassen«, unterband Tungdil den Disput; seine Stimme klang selbstsicher und fest wie die eines Anführers.
»Du hast damals selbst gesagt, dass du dich darauf nicht verlassen willst«, hielt ihm Bavragor störrisch vor. »Und nun …«
»… ist es nicht mehr zu ändern. Finde dich damit ab«, entgegnete Tungdil. Er ließ seinen Arm los und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Ganz gleich, was uns noch alles zustoßen wird, wir werden nicht verzagen, denn wir können es uns nicht erlauben! Wir sind die Retter des Geborgenen Landes, und wer sonst außer uns könnte das vollbringen, was wir tun müssen, Bavragor?«
»Er macht es schlimmer«, grummelte er in Richtung Goïmgar. »Ohne ihn wäre uns viel Ärger erspart geblieben.«
»Es wird seinen Sinn haben, dass Vraccas mich ihn auswählen ließ. Und nun sei still und achte auf deine Atmung, sonst bekommst du Seitenstechen. Goïmgar kann jedenfalls besser laufen als du.«
»Feiglinge können immer gut laufen«, war die letzte Bemerkung Bavragors, ehe ein Scheppern erklang und er plötzlich steif wie ein Brett wurde. Seine Beine knickten ein, und er stürzte, wo er stand, in den Schnee; eine glitzernde Wolke stob in die Höhe, die Kristalle legten sich wieder und überzogen ihn mit einer dünnen, pudrigen Schicht. Aus seinem Nacken ragte der Schaft eines Armbrustbolzens.
Augenblicklich warfen sie sich – außer Djerůn – zu Boden, um nicht von dem Schützen getroffen zu werden, Andôkai gab dem Krieger wiederum eine unverständliche Anweisung, woraufhin er seinen Blick über die Ebene schweifen ließ und unvermittelt davonpreschte.
Albae waren es nicht. Tungdil konnte den heimtückischen Angreifer im Gegensatz zu Djerůn nicht ausmachen. Gardisten? Aber ihre Fackeln müssten zu sehen sein.
Die Maga robbte durch den Schnee und kam an die Seite des Steinmetzen, um seine Verletzung zu prüfen, Balyndis näherte sich ebenfalls.
»Die Spitze hat sein Rückgrat knapp verfehlt«, erklärte sie nach einer ersten Begutachtung. »Sein Umhang und der eisenbeschlagene Ledernacken des Helms haben dem Geschoss die Wucht genommen.« Ohne zu zögern packte sie das herausragende Bolzenstück und zog es aus der Wunde. Dann legte sie die Rechte auf das Loch, aus dem Bavragors Blut schoss. »Ich schätze, er wird mir verzeihen, dass ich meine Samusinmagie einsetze, um sein Leben zu retten«, sagte sie und schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. »Die Heilung von Zwergen gehört nicht zu den Disziplinen, die ich besonders gut beherrsche. Ich hoffe, es gelingt mir.«
Das hoffe ich auch. Etwas zischte knapp an Tungdils Kopf vorbei, ein drittes Geschoss prallte gegen den Schild Goïmgars, dann erscholl ein gellender, heller Schrei, der unvermittelt abriss. Djerůn hatte den Schützen gestellt.
Er kehrte mit seiner kleinen Beute zurück und warf sie ins Weiß. Dort, wo das Bündel auftraf, färbte sich der reine Untergrund gelbgrün; der Kopf mit den langen, spitzen Ohren fiel daneben.
Goïmgar verspürte Entsetzen. »Swerd!« Es war tatsächlich der Gehilfe Bislipurs. Schaudernd blickte er auf die Leiche, danach auf die Einschlagstelle auf seinem Schild, wo man deutlich den Abdruck des Bolzens sah. »Wieso hat er auch auf mich …« Hastig schwieg er.
»Geschossen?«, vollendete Tungdil den Satz. Er betrachtete die gebrochenen Augen des Gnoms. Auf diese Frage hätte auch er gern eine Antwort erhalten, aber die kompromisslose Art, mit welcher der Krieger für das Ende der Bedrohung gesorgt hatte, verhinderte das. »Du bist mit dem falschen Anwärter unterwegs, das wird er gedacht haben.«
Er bückte sich, um das dünne Kropfband an sich zu nehmen, das nun nutzlos geworden war. Die Zeit als Sklave endete für den Gnom anders, als er es sich erhofft hatte. Nachdenklich steckte er es ein, um es beim nächsten Zusammentreffen mit Bislipur als Beweisstück vorzulegen. Dabei fiel ihm ein buttergelber, glänzender Fleck am Hals auf. Gold! Es war wohl wirklich der Gnom gewesen, der ihm bei dem Wettlauf mit Gandogar ein Bein gestellt hatte.
»Dieser Hinkende ist Abschaum«, brachte Boïndil es wütend auf den Punkt und wischte sich den Schnee von der dicken Kleidung und aus dem Bart. »Hetzt seinen Lakai auf uns, um uns zu töten! Zwerge töten absichtlich keine Zwerge, das ist das schlimmste Verbrechen, dem man sich schuldig machen kann.«
»Er hätte uns ja auch nicht getötet«, meinte Tungdil noch immer sinnierend, »der Gnom macht die Drecksarbeit. Bislipur wäre sicherlich wieder eine Ausrede eingefallen.«
»Vraccas, ich bitte dich, lass uns Gandogar treffen, damit ich ihn windelweich prügeln kann«, flehte der Zwilling inbrünstig.
Goïmgar schüttelte abwesend den Kopf, noch immer rang er mit seiner Fassung. »Nein, niemals hätte Gandogar ein solches Spiel betrieben und Bislipur beauftragt, uns zu töten. Bislipur muss in seinem Wahn auf eigene Faust gehandelt haben. Er …« Der Zwerg verstummte hilflos, sein Vertrauen war erschüttert.
»Du willst doch auch, dass Gandogar auf den Thron kommt, oder etwa nicht?«, meinte Ingrimmsch lauernd.
»Sicher. Ich habe von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht. Aber einen unseres Volkes töten?« Er erschauderte. »Er ist wahnsinnig geworden«, wiederholte er leise und schaute auf den regungslos daliegenden Bavragor. »Bislipurs Verstand ist von dem Wunsch verblendet, Gandogar zum Großkönig zu machen, nur so kann es gewesen sein.«
Balyndis hielt die Hand des Steinmetzen und ließ ihn spüren, dass man sich um ihn kümmerte. Langsam verwuchs die offene Stelle im Nacken, bis nur noch eine kleine Narbe zu sehen war. Erschöpft sank Andôkai in den Schnee und kühlte ihr Gesicht.
»Ich habe die Verletzung geheilt«, erklärte sie schwach. »Er müsste gleich …«
»Samusinmagie«, murmelte Bavragor schläfrig, »ich habe es mir überlegt. Sie taugt doch was.« Etwas benommen, doch mit aller Ernsthaftigkeit nickte er der ausgelaugten Maga zu. Mehrer Worte bedurfte es nicht, seine Dankbarkeit auszudrücken.
»Eine Frage, Anführer unserer glorreichen Truppe.« Ein bibbernder Rodario erschien bei Sonnenaufgang an Tungdils Seite, den Sack mit Kostümen eisern schleppend, und deutete versteckt auf Djerůn. Das Ereignis der vergangenen Nacht hatte ihm wie auch allen anderen ins Gedächtnis gerufen, dass der Krieger wahrlich kein hoch gewachsener Mensch war. »Was ist das?« Er war kaum zu verstehen, weil er sich den Schal mehrfach um den Kopf gewickelt hatte.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Tungdil ihm ehrlich, ohne seinen Marsch zu unterbrechen.
Rodario ließ wie immer nicht locker. »Nein? Aber du bist doch schon so lange zusammen mit ihm unterwegs, wie ich hörte.«
»Sie hat uns gesagt, dass es kein Ungeheuer ist.« Unwillkürlich dachte er an die Nacht in der Oase, in der er einen Eindruck davon erhalten hatte, was sich hinter dem fratzenhaften Visier verbarg, und er schüttelte sich.
Der Schauspieler blies sich warme Luft auf die blau angelaufenen Finger. »So? Kein Ungeheuer? Was ist es dann? Ich kenne keinen Menschen, dessen Augen imstande sind, eine dunkle Gasse hell zu erleuchten. Wenn es ein Trick sein sollte, muss ich ihn unbedingt erfahren, um ihn bei unserem Theater zur Anwendung zu bringen.«