»Ihr könnt ruhig sagen, dass es nicht zum Besten um den alten, singenden Säufer steht«, krächzte Bavragor nach einer Weile. »Ich hatte eh nicht vor, ins Reich der Zweiten zurückzukehren.« Er schaute zu Tungdil. »Doch eigentlich wollte ich im Grauen Gebirge ankommen und meine Aufgabe erfüllen, um ruhmreich zu sterben. Nun ende ich hier, in einer armseligen Scheune, weit weg von meinen geliebten Bergen.«
Die ersten winzigen Blutstropfen drückten sich durch seine Haut. Aus den Tropfen formten sich Rinnsale, die aufs Stroh fielen und die Halme benetzten. Seine Kleidung sog sich voll.
»Du wirst nicht sterben«, presste Tungdil, und sein Lächeln, das eigentlich Zuversicht ausströmen sollte, geriet zu einer Grimasse. Er packte die andere Hand des Zwerges. »Du darfst nicht sterben«, setzte er verzweifelt hinterher. »Ohne dich können wir die Feuerklinge nicht fertig stellen! Du bist der Beste, den dein Stamm hat.«
Der Steinmetz schluckte sein Blut, um sprechen zu können. »Doch, ihr werdet sie erschaffen. Und ich werde bei euch sein.« Er blickte zur Tür. »Bringt mich dahin, wo das Tote Land herrscht. Nur auf diese Weise kann ich euch nach meinem Tod von Nutzen sein.«
»Du … würdest zu einem Untoten«, stieß Boïndil angewidert hervor. »Deine Seele …«
»Ich kann meine Aufgabe erfüllen, nur das zählt«, polterte Bavragor drauflos und bezahlte das Aufbegehren mit einem neuerlichen Hustenanfall.
»Aber wer sagt uns, dass du uns nicht hintergehen wirst und versuchst, uns zu töten oder zu fressen, wie es die anderen getan haben?« Ingrimmsch schaute sich um und blickte in die teils betretenen, teils ergriffenen Gesichter.
»Bindet mich gut fest und wartet«, empfahl er ihnen. »Mein Trotz wird stärker sein als das Verlangen, Böses zu tun. Das Zwergische ergibt sich niemals dem Bösen.« Die Lider flatterten. »Ich glaube, ihr müsst euch beeilen …«, keuchte er, dann schwappte der blutige Mageninhalt aus seinem Mund und sickerte in den kunstvoll rasierten Bart.
»Djerůn«, rief Andôkai und erteilte ihm Anweisungen. Er packte den sterbenden Zwerg vorsichtig und nahm ihn behutsam auf den Arm, wie eine Mutter ihr Kind in den Schlaf wiegt, dann verließ er den Schober, und sie hörten ihn davonlaufen.
Seine langen, unermüdlichen Beine trugen Bavragor gen Norden, dorthin, wo das Tote Land bereits seine volle Macht besaß und alles, was darauf starb, zu unheiligem Leben erweckte.
Der Rest der Gefährten packte zusammen und folgte dem Krieger, so schnell es der funkelnde Schnee und die kürzeren Beine der Zwerge erlaubten.
Tungdil blickte zu den Sternen und weinte stumme Tränen um Bavragor, der sein Wertvollstes opferte, um die Waffe entstehen zu lassen, mit der das Geborgene Land befreit werden konnte. Bei allem Poltern und den Eigenarten des Zwerges hatte er ihn doch in sein Herz geschlossen.
Er hörte Balyndis neben sich schniefen und wandte sich zu ihr. Sie lächelte ihn mit geröteten Augen an und reichte ihm die Hand. Es war eine Geste, die ihm den Mut zurückgab, den er in der Scheune beinahe verloren hätte.
Es war viel, im Grunde zu viel geschehen. Aus dem anfänglichen Abenteuer war Größeres und Schrecklicheres für die Beteiligten erwachsen, das verstand inzwischen sogar der einst wichtigtuerische Rodario, der sich mit Bemerkungen zurückhielt und stumm verarbeitete, was sich zugetragen hatte.
»Ich hoffe, dass die Bewohner des Geborgenen Landes das wert sind, Vraccas«, murmelte Tungdil hinauf zu dem funkelndem Firmament. »Wenn dies alles vorbei ist, werde ich dafür sorgen, dass unser Volk miteinander spricht und nicht länger abgeschottet voneinander in den Gebirgen lebt.«
Balyndis drückte einmal mehr seine Hand, doch seine Finger öffneten sich, und er eilte an die Spitze des Zuges zu Boïndil. Es war nicht die Zeit, um an etwas anderes als die Feuerklinge zu denken.
»Sie gefällt dir«, begrüßte ihn der Zwilling und blickte weiterhin geradeaus.
»Das fehlte mir noch, mich mit dir darüber zu unterhalten.«
»Gib es ruhig zu. Sie sieht auch sehr gut aus und für einen wie dich, der noch wenig mit Frauen zu schaffen hatte, wird sie einer Tochter Vraccas’ gleichen.«
»Ich wollte mir darüber eigentlich erst Gedanken machen, wenn wir Nôd’onn besiegt haben. Das Geborgene Land hat Vorrang.«
»Ah, der Gelehrte muss erst darüber nachdenken.« Noch immer wandte er sich Tungdil nicht zu, er redete scheinbar mit dem Schnee und den Fußspuren Djerůns. »Wenn du etwas gefunden hast, das dir etwas bedeutet, zögere nicht, dich darum zu bemühen, denn schneller, als die Axt einen Ork spaltet, ändern sich so manche Dinge, und du stehst mit leeren Händen da.«
»Warum sagst du mir das?«
»Nur so. Einfach nur so.« Er kniff die Lider zusammen. »Da vorn ist der Eisenmann.« Er zückte seine Beile. »Wir werden gleich sehen, ob sich der Verstand des singenden Säufers gegen die Macht des Toten Landes behauptet hat.« Sollte das nicht der Fall sein, sprachen die Beile in seinen Händen ihre eigene Sprache.
Die Maga rief Djerůn etwas zu. Als Antwort hob er seinen gepanzerten Arm und winkte sie näher. Bavragor stand neben ihm, die Arme hingen am Körper herab, seine Augen starrten ausdruckslos auf das Graue Gebirge.
»Bavragor?«, redete Tungdil ihn behutsam an, während er das bleiche Gesicht musterte, um eine Regung zu erkennen. Die Züge wirkten gealtert, wächsern, tot.
»Ich fühle … nichts«, sprach er behäbig, als kostete es ihn unendliche Mühe, den Mund zu öffnen und Worte hervorzubringen. »Ich spüre meinen Körper nicht, mein Kopf ist eigenartig leer.« Langsam wanderten die seelenlosen Augen umher und richteten sich auf ihn. »Alles, was ich spüre, ist … schlecht. Ich hasse Dinge, die ich vorher liebte. Und Dinge, die ich hasste«, er blickte an ihm vorbei auf Ingrimmsch, »würde ich am liebsten in Stücke reißen und verschlingen. Es ist besser, wenn ihr mir Fesseln um die Hände legt, weil ich nicht weiß, wie lange ich mich gegen diesen Drang erwehren kann«, presste er hervor. »Das Böse wohnt in mir.«
»Wenn du es wünschst, machen wir das.« Tungdil nahm den Lederriemen ab, mit dem Goïmgar sich den Schild auf den Rücken hängen konnte, und zurrte die Hände Bavragors auf dessen Rücken zusammen.
»Fester«, verlangte er knurrend. »Du kannst mir das Blut nicht abstellen, mein Herz schlägt nicht mehr und treibt es nicht mehr durch die Adern.« Erst als Tungdil seinem Wunsch nachgekommen war, wirkte er erleichtert, und die Anspannung fiel von ihm ab. »Weiter.« Er schaute Tungdil an. »Wenn ich meine Arbeit beendet habe, musst du mir den Kopf abschlagen. Ich will nicht als Diener des Toten Landes enden und auf ewig durch die verlassenen Stollen der Fünften irren oder Menschen töten, nur weil es mir der Schrecken aus dem Norden befiehlt.«
»Kein Zwerg soll der finsteren Macht dienen«, versprach ihm Tungdil. »Ich werde deinen Wunsch erfüllen.«
»Und du«, rief der Steinmetz Ingrimmsch zu, »kommst mir nicht zu nahe. Meine Zähne würden sich voller Freude in deine Kehle bohren und sie zerfetzen!« Er senkte den Kopf; das rotbraune Auge funkelte voller Grausamkeit, ehe er sich rasch wegdrehte und in den Schnee schaute. Dann setzte er einen Fuß vor den anderen. »Kommt. Ich möchte nicht länger als nötig ein Ding ohne Seele sein.«
Auf einen Wink Andôkais hin übernahm Djerůn die Aufgabe des Aufpassers. Er schritt hinter dem Verwandelten her und bildete eine eiserne Schutzwand, an der die Zähne Bavragors scheitern würden.
Sonnenumlauf für Sonnenumlauf stapften sie durch die endlosen Weiten von Tabaîn. Die Ährenebene, wie sie im Sommer genannt wurde, war so kalt, dass alles, was längere Zeit regungslos blieb, zu Eis erstarrte.
Tungdil erinnerte sich gelesen zu haben, dass die Helligkeit, die vom Schnee ausging, die Augen angriff und sogar dauerhaft verletzen konnte. Daher ordnete er an, Augenbinden mit winzigen Schlitzen zu tragen, um sich auf diese Weise vor der Blindheit zu schützen.