Balyndis ließ sich von Narmora die Feuerklinge geben. Vorsichtig entfernte sie mit der Feile überstehende Reste der Einlegearbeiten, danach begann sie das Metall zu polieren. Fasziniert schaute Tungdil ihr dabei zu, bis sie ihre Tätigkeit unterbrach.
»Meine Finger«, sagte sie entschuldigend. »Es ist zu kalt, um genau zu arbeiten.«
Er äugte zu Furgas und Narmora, die sich unter die Decke verkrochen hatten. »Du kannst gern näher zu mir kommen, wenn dir kalt ist«, bot er ihr an. Sein Mund wurde plötzlich trocken.
Sie rutschte zu ihm und drückte sich an ihn. »Warm wie an einer Esse«, seufzte sie zufrieden.
Vorsichtig legte er ihr einen Arm um die Schulter. Balyndis’ Nähe schenkte ihm ein mehr als gutes Gefühl.
Sie wanderten sehr schnell, und sobald sich das Gelände dazu anbot, verfielen sie in Laufmarsch und durchquerten die südlichen Ausläufer des Grauen Gebirges zügig. Bald kamen sie in den hügeligen Teil Gauragars und ließen die mächtigen Gipfel hinter sich.
Zur Unterhaltung blieb ihnen kaum Gelegenheit, das Laufen strengte sie zu sehr an. Als Tungdil Ingrimmsch die letzten Worte Bavragors ausrichtete, sagte der Krieger nichts, aber seine Lippen wurden zu dünnen Strichen, und seine Augen schimmerten feucht.
Unterwegs umgingen sie Siedlungen so weit es ging, nur einmal schickten sie Furgas und Rodario als fahrende Schuhflicker zu einem Gehöft, um Proviant zu kaufen. Rodario hätte sich lieber als verarmter Adeliger ausgegeben, doch Tungdil bestand darauf, dass sie so wenig Aufsehen wie möglich erregten.
Es schmeckte nicht sonderlich gut; das Tote Land verdarb das kümmerliche Getreide, die verschrumpelten Winteräpfel und das harte Brot lagen wie Blei in ihren Mägen, aber es reichte aus, um ihnen einen Teil ihrer körperlichen Kräfte zurückzugeben. Ihren Durst stillten sie mit geschmolzenem Schnee, dessen Geschmack besser war als das Wasser aus dem Boden.
Djerůn erlegte eine ausgezehrte Hirschkuh, deren Fleisch sie nach kurzem Rösten über dem Feuer hungrig verschlangen. Den schimmeligen Beigeschmack versuchten sie zu ignorieren.
Orks trafen sie keine mehr. Aus der Freude darüber wurde nach sieben Sonnenumläufen offene Verwunderung; nicht einmal ein Bogglin kreuzte ihren Weg, obwohl sie sich auf dem Terrain des Toten Landes befanden.
Es sollte eigentlich von Ungeheuern nur so wimmeln. Das erschien Tungdil derart merkwürdig, dass er Furgas und Rodario in eine Stadt schickte, um in Erfahrung zu bringen, was sich zutrug.
Sie kehrten mit erschreckenden Neuigkeiten zurück.
»Sie wurden abberufen«, sagte der Mime und unterstützte seine Erzählung wie immer gestenreich, um die passende Theatralik zu erreichen. »Die Lager, in denen die Orks sich auf die Eroberung der Menschenreiche sammelten, stehen leer, weil sie zu tausenden nach Süden marschieren. Es geht um die Einnahme einer Felsenfestung, hat man uns berichtet.« Er machte ein angestrengtes Gesicht. »Verflucht, wie hieß der Ort noch gleich?«
»Im Süden? Dann kann es nur Ogertod gewesen sein«, rief Ingrimmsch aufgeregt. »Ha, die Schweinchen brauchen tausende, um das Reich der Zweiten niederzuwerfen, habt ihr das gehört?! Oh, ich wäre gern dort, um unseren Brüdern und Schwestern zu helfen!«
»Nein, der Name war es nicht«, widersprach Rodario zu ihrem Erstaunen. »Dunkel … Braun … Verdammich, dabei konnte ich meine Texte stets memorieren. Es hatte etwas mit Ochsen zu tun.« Er fuchtelte mit den Händen. »Schnell, das Ding, das man über ihre Nacken legt.«
»Joch!«, riet Balyndis.
Tungdil fügte sich den Rest zusammen. »Das Schwarzjoch! Sie belagern das Schwarzjoch!«
Andôkai grübelte. »Das sagt mir nichts. Was hat es damit auf sich?«
»Es ist ein Tafelberg, den die Dritten in eine Festung verwandelten, um gegen die anderen Zwergenstämme Krieg zu führen. Der Berg liegt mitten im Geborgenen Land.« Aber wozu brauchen sie die vielen Orks?
»Vielleicht haben sich bedeutende Menschen dorthin geflüchtet, die Nôd’onn unbedingt in seine Hand bekommen möchte?«, schlug Narmora vor. »Die Könige von Gauragar und Idoslân vielleicht?«
Tungdil erinnerte sich, dass er Balendilín und Gundrabur von seiner Entdeckung berichtet hatte, konnte sich aber nicht erklären, weshalb sie sich an den verfluchten Ort begeben hatten. »Wir schauen nach, was sie am Schwarzjoch wollen, es liegt ohnehin auf unserer Strecke.«
Sie marschierten weiter.
Nach zwölf Sonnenumläufen seit ihrem Aufbruch aus dem Reich der Fünften betraten sie den Boden Âlandurs. Dazu brauchte Tungdil nicht einmal in die Karte zu schauen, die Natur zeigte es ihnen.
Sie durchliefen ein flaches, schneebedecktes Tal und sahen von weitem das satte Grün der Buchen, Eichen und Ahorne; davor stand eine schützende Wand aus Nadelbäumen. Der Anblick der intensiven Farben und lebendigen Pflanzen bewies ihnen, dass das letzte der Elbenreiche entgegen aller Gerüchte nicht gegen die Horden Nôd’onns gefallen war und sich unbeugsam hielt. Die Macht des Toten Landes endete hier.
»Dass ich mich einmal über den Anblick von Bäumen freuen würde«, meinte Ingrimmsch. Das Wissen, die vielen Tage über in totem Land unterwegs gewesen zu sein, drückte auch auf sein Gemüt. Seine Augen schweiften über die Stämme, die sich eng aneinander reihten, eine natürliche Palisade gegen jegliche Eindringlinge bildend. Sogleich langte er nach seinen Beilen. »Scheint, als müssten wir uns da einen Weg hindurchhacken.«
»Und den Anstoß zum Krieg gegen die Elben geben?«, meinte Andôkai. »Wir gebrauchen keine einzige Waffe, wenn wir den Wald betreten. Unser Eindringen wird nicht lange unbemerkt bleiben.« Auch sie betrachtete das vor ihnen liegende Terrain. »Wir sind bereits bemerkt worden«, verbesserte sie, als vier hoch gewachsene Gestalten aus dem Schutz der Bäume traten. Pfeile lagen schussbereit auf den Sehnen ihrer Langbögen. »Wer möchte mit ihnen reden?«
»Ich«, sagte Tungdil sofort. Er machte einen Schritt nach vorn und legte seine Axt so deutlich ab, dass die Elben es sehen mussten. Dann schritt er langsam auf sie zu.
»Die Wälder Âlandurs haben schon vieles gesehen«, hallte ihm die Stimme eines Wächters entgegen, »aber einen Unterirdischen noch nicht. Bleib stehen. Was willst du?«
Er betrachtete die vier vom Volk des Waldes. Sie trugen weiße Lederrüstungen und weiße Pelzumhänge, an ihrer Seite baumelte ein Schwert. Ihre langen hellen Haare lagen offen auf den Schultern, und für Tungdil sahen sie mit ihren ebenmäßigen Zügen fast gleich aus. Er mochte sie nicht.
»Ich bin Tungdil Goldhand vom Stamm der Vierten und mit meinen Freunden ausgezogen, um die Feuerklinge zu schmieden, die Nôd’onn den Zweifachen vernichten wird«, entgegnete er mit fester Stimme. »Gute Freunde sind bereits für dieses Ziel gestorben. Nun wollten wir darum bitten, dass ihr uns Zugang zu eurem Zuhause gewährt.«
»Wozu? Nôd’onn wirst du hier nicht finden.«
»In eurem Reich gibt es einen Eingang zu einem Höhlenlabyrinth meines Volkes. Wir möchten unter der Erde entlang zum Schwarzjoch«, erklärte er knapp. »Der Magus soll sich dort aufhalten.«
»Und ihr wollt ihn mit der Feuerklinge, was auch immer das sein möge, töten? Ihr Hand voll Krieger?«, fragte der Elb ungläubig. »Ich denke, dass ihr von Nôd’onn geschickt wurdet.«
»Ein feiner Plan wäre das!«, entfuhr es Tungdil aufgebracht, der dem langen Gesicht am liebsten eine Ohrfeige verpasst hätte. »Der Verräter schickt Zwerge zu Spitzohren, sicherlich, bei meinem Bart, das ergibt Sinn. Ihr würdet uns schließlich sofort mit offenen Armen empfangen, weil sich unsere Völker so sehr lieben, und wir könnten uns bei euch leicht einschleichen, um euch an Nôd’onn zu verraten.«
»Hei, der Magus ist gewitzt, was?!«, sagte Balyndis leise und mürrisch, aber nicht leise genug.