»Genau! Wir preschen mitten durch die hinteren Linien, und ehe sich die Schweineschnauzen erklären können, was geschieht, hackst du dem Zauberer die Axt in den Leib«, meinte Ingrimmsch. »Das ist todsicher.«
»Um ehrlich zu sein, dachte ich an etwas Gewagteres«, offenbarte sie ihr Vorhaben. »Ich werde ich mich als Albin ausgeben, leichter kann es nicht gehen. Auf diese Weise gelange ich an seinen Leibwachen und seinen Famuli vorüber, ohne einen Verdacht zu wecken.«
»Verstehe das nicht falsch«, sagte Andôkai zweifelnd, »aber warum sollte er sich mit einer gewöhnlichen Albin abgeben?«
Narmora zurrte ihr Kopftuch fest. »Mir wird schon etwas einfallen.«
Natürlich! Tungdil grinste, er erinnerte sich an eine Geschichte, die er in Lot-Ionans Bibliothek gelesen hatte. Die Helden nutzten darin einen einfachen, aber wirkungsvollen Trick, der auch bei ihnen funktionieren könnte. »Weil sie ihm Gefangene bringt, auf die er sehnsüchtig wartet.«
»Und wer soll das sein?«, wunderte sich Boïndil, bis ihm der Einfall kam, dass er selbst gemeint sein könnte. »Was? Wir sollen uns in die Hand der Bestien begeben?«, protestierte er. »Bei meinem Bart, nein, wir schlagen uns zu Nôd’onn durch!«
»Ich erinnere dich ungern an das Erlebnis im Reich der Fünften«, schaltete sich Rodario zuckersüß ein, »doch da vermochten deine Beile nichts gegen die Übermacht auszurichten.«
»Eben«, nickte Tungdil. Sieh es ein, mein Freund. »Rodario, Furgas und Andôkai werden sich als Söldner ausgeben, mit deren Hilfe sie uns geschnappt hat. Djerůn wird in der Nähe warten, seine Gestalt würde uns sofort verraten.«
»Der Plan ist riskant, aber gut«, stimmte Andôkai ernst zu. »Ich bin dafür.«
Rodario tippte sich gegen die Unterlippe. »Ich könnte schwören, ich habe von diesem Einfall schon mal irgendwo gelesen.«
»Das Buch hieß Der Tod Herengards und handelte von einem Anschlag. Die Helden gingen genau so vor wie wir und hatten damit Erfolg«, lüftete Tungdil das Geheimnis.
»Du hast es aus einem Buch?«, begehrte Boïndil auf. »Ich …«
»Ich sagte doch schon bei unserem ersten Zusammentreffen, dass Lesen wichtig ist, erinnerst du dich?«, feixte er und schlug ihm auf die Schulter. »Jetzt siehst du, was ich gemeint habe. Stimmen wir darüber ab?«
Die Abstimmung ergab nur eine Gegenstimme. Beleidigt, dass man nicht auf ihn hören wollte, schmollte Ingrimmsch und jauchzte anfangs nicht einmal, als die Lore die Gefälle hinabrauschte.
Tungdil aber behielt für sich, dass die Helden der Geschichte nach der Ermordung Herengards von seinen Leibwachen getötet wurden. Doch die Idee war gut.
Wieder rollten sie unter dem Geborgenen Land hindurch. Ihr Ziel war das Schwarzjoch, wo sich die Streitmacht aus Orks und sämtlichen Wesen sammelte, die Nôd’onn folgten.
Unterwegs machten sie eine seltsame Entdeckung.
Sie durchfuhren einen Abschnitt, in dem die Leichen von mindestens zweihundert Orks rechts und links neben der Trasse lagen; ihre Loren standen verteilt um sie herum. Da sie wegen des Schwungs nicht anhalten wollten, beschränkten sie sich darauf, im Vorbeihuschen nach den Bestien zu schauen.
»Das war die Arbeit von Äxten«, brummte Boïndil. »Die Schweineschnauzen sind von Zwergen niedergemäht worden. Es scheint nicht so schlecht um unsere Freunde bestellt zu sein.«
»Warum sollten sie in den Tunneln sein anstatt im Schwarzjoch?« Tungdil betrachtete die Kadaver, die fein säuberlich von der Schiene entfernt worden waren. Jemand hat dafür gesorgt, dass sich uns niemand in den Weg stellt. Er dachte sofort an die Geister der Ahnen, die ihnen schon zweimal begegnet waren. »Die Geister! Sie haben uns im Reich der Fünften geholfen und tun es wieder.«
Balyndis deutete auf eine Nische, in der eine zusammengekrümmte kleinere Gestalt lag. Ein Orkspeer ragte aus der Seite. »Das ist ein toter Zwerg, keine Spukgestalt!«, machte sie ihn auf ihre Entdeckung aufmerksam. »Einen Geist kann man nicht umbringen.«
»Was wäre, wenn Zwerge in den Stollen leben?«, schaltete sich Furgas ein. »Ich habe deutlich gesehen, dass die Gleise ab einem bestimmten Punkt unserer Reise ohne Rost waren, als würden sie öfter benützt.«
Andere Zwerge. Da kein Stamm seines Volkes die Loren in Anspruch genommen hatte, fand Tungdil nur eine vage Erklärung für das Geschehen. Unbemerkt von den alten Stämmen haben sich Zwerge in den Röhren niedergelassen und eine eigene Gemeinschaft gebildet!
Nun ergriff Aufregung jede Faser seines Körpers. Es konnte durchaus sein, dass in den hunderten von Zyklen die Verstoßenen der Zwergenstämme durch einen glücklichen Umstand auf die Röhren aufmerksam geworden waren und sich ihr eigenes Reich geschaffen hatten. Ist es möglich, dass sie hier und unter ihresgleichen geblieben sind, anstatt nach Hause zurückzukehren?
»Schnell, Papier und Feder«, verlangte er von Rodario, der ihm das Gewünschte überließ, woraufhin Tungdil hastig und mit furchtbarer Schrift, weil der Karren so sehr ruckte, eine Nachricht schrieb, in der er ihnen für die Hilfe dankte. Als sie an einem Stalagmiten vorübersausten, spießte er den Zettel darauf.
»Was sollte das?«, wollte Andôkai wissen. »Eine Botschaft an die Ahnen?«
»Keine Ahnen«, entgegnete er. »Wenn meine Annahme stimmt, sind es Zwerge, Ausgestoßene aus allen Zwergenreichen, die sich ihr eigenes Herrschaftsgebiet eingerichtet haben. Wir und die Orks sind darin eingedrungen.« In aller Kürze erklärte er ihnen, wie er auf diese Vermutung kam. »Sie haben uns mehrfach gewarnt, erinnert euch. Das Klopfen, der Einbruch des Stollens, ihr Auftreten in der Steinhalle. Sie wollten, dass wir ihr Reich verlassen, denke ich.«
»Ha, ich verstehe! Als die Orks auftauchten, haben sie nicht länger gezögert und sind uns zu Hilfe gekommen, anstatt uns weiterhin verjagen zu wollen. Blut ist eben doch dicker als Wasser. Großartig, einfach großartig!« Rodario nahm seine Utensilien augenblicklich wieder an sich. »Gib her. Das muss ich notieren.«
»Die Reise brachte so viel Neues«, sagte Balyndis leise. »Wenn am Ende das Gute überwiegt, bin ich zufrieden.«
»Es wird«, beruhigte er sie. Als die Lore um die Ecke ratterte und der Stalagmit gerade aus dem Sichtfeld verschwand, glaubte er, eine Gestalt gesehen zu haben, die nach dem Zettel griff.
Als sie die Trasse durch das einstige Lios Nudin führte, nutzte Andôkai die Gelegenheit, um neue magische Kräfte zu schöpfen. Sie schloss die Augen, und nicht lange darauf begannen die Wände des Tunnels zu glühen, das Gestein erhellte sich, zeigte ihnen seine Einschlüsse und Maserungen. Andôkai atmete schneller, das Leuchten wurde stärker und wurde gleißend, bis es abrupt endete.
Zögernd öffnete sie die Lider, neigte ihren Kopf nach rechts und übergab sich mehrfach über den Rand der Lore.
»Was ist?« Tungdil wollte die Reise unterbrechen, aber sie winkte ihm zu, dass er weiterfahren solle.
»Nur zu, es ist nichts. Nôd’onn hat die Felder beinahe völlig unbrauchbar für mich gemacht.« Sie lehnte sich zurück, Balyndis reichte ihr einen Wasserschlauch. »Noch geht es, aber mehr Energie kann ich nicht aufnehmen, sonst wird es mich umbringen.« Ihre Lippen pressten sich aufeinander, sie rang mit einer neuen Übelkeitsattacke.
Nach zwei Sonnenumläufen, an einer Stelle, an der zwei Trassen kurz nach einer Weiche parallel nebeneinander her liefen, zischte plötzlich eine zweite Lore heran und schob sich auf gleiche Höhe mit der ihren. Das Dutzend Orks, das darin hockte, schaute genauso verdutzt auf die Zwerge und Menschen wie diese zu den Feinden.
Ingrimmsch überwand seine Überraschung als Erster und tat das, was man von ihm erwartete.
»Oink, oink! Schweinchen!«, schrie er voller Begeisterung, und die Beile flogen ihn seine Hände. »Sie gehören mir!«
Ehe ihn jemand zurückhalten konnte, machte er einen gewaltigen Satz in das Vehikel der Bestien, landete mitten unter ihnen und wütete mit seinen Waffen. Da er in seinem Kampfrausch zuerst den Bremser tötete und sich dann um die weiteren Gegner kümmerte, kam die Lore nicht zum Stehen, sondern rollte in voller Fahrt weiter die Schienen entlang.