»Es reichte aber nicht aus, sie zu fangen«, meinte sie verächtlich. Sie hatte sich dazu entschlossen, die unfreundliche Albin zu spielen und sich von ihm nicht einschüchtern zu lassen.
»Nein, leider«, seufzte Sinthoras gespielt leidend. »Geh und überlasse sie mir. Ich führe sie zu Nôd’onn.«
Narmora bewegte sich nicht. »Ich habe sie gefangen, und ich will mir das Lob des Magus abholen, wie du es getan hättest.«
Sinthoras umrundete sie einmal, lauernd. »Du bist mutig, junge Albin. Wie kommt es, dass ich deinen Namen noch nie hörte?«
»Dsôn Balsur ist groß genug, um einander nicht zu begegnen.«
»So, du kommst aus Dsôn Balsur? Ich kenne jede Ecke unseres Reiches, denn schließlich war ich es, der es schuf.« Er blieb vor ihr stehen. »Wie heißt deine Mutter? Wie heißt dein Vater? Wo lebst du, Morana?«
»Es geht dich nichts an«, antwortete sie unerschrocken. »Geh und melde mich Nôd’onn oder verschwinde.«
»Der Meister schläft.«
»Dann geh und wecke ihn.«
Tungdil saß der Schreck noch immer in den Gliedern. Was sollen wir tun? An ihm vorbeilaufen? Um an ihm vorbeizukommen, werden einige von uns sterben, fürchtete er und schaute zum Eingang des nahen Zeltes. Zu lange konnten sie nicht warten, sonst würden sie noch mehr Aufmerksamkeit wecken und den Anschlag auf Nôd’onn mehr als erschweren. Wir müssen es riskieren.
»Hörst du das, Caphalor?«, Sinthoras hob den Kopf und lachte. »Sie hat zu viel Mut. Es könnte eines Tages ihr Tod sein.«
»Ich hätte ihr schon lange Respekt beigebracht«, kam die Antwort in ihrem Rücken.
Erschrocken drehte sich Rodario um. Seine etwas zu groß geratene Rüstung schepperte, und die Lanzenspitze verfehlte Balyndis’ Kopf um Haaresbreite.
Hinter ihnen stand ein Alb mit langen schwarzen Haaren, den Tungdil von seinem Erlebnis aus Gutenauen und aus dem Reich der Ersten kannte. Seine Gedanken überschlugen sich, er wusste nicht, was sie machen sollten.
»Ich kannte eine Morana, aber sie ist schon lange tot und sah zu Lebzeiten anders aus«, sagte Caphalor, und die schwarzen Augenlöcher hefteten sich auf die Albin. Er trug eine tioniumverstärkte Lederrüstung, die alles Licht absorbierte. »Du bist nicht aus Dsôn Balsur.« Er legte seine spindeldürren Finger an den Griff seiner Kurzschwerter. »Aber woher bist du dann, und warum hast du gelogen?«
Nun wurde auch Ingrimmsch unruhig, seine Augen huschten hin und her, er suchte Tungdils Blick und wartete auf einen Befehl.
Sollen wir angreifen? Aber sie sind zu stark. Tungdil war ratlos. Sie waren unversehens zwischen die Albae geraten, und wie es aussah, hatten weder Sinthoras noch Caphalor vor, Narmora mit ihren Gefangenen zu dem Magus zu führen.
»Euer Spiel ist langweilig. Wenn ihr mich nicht zu dem Magus bringt, rufe ich ihn eben«, sagte sie mit leichtem Zittern in der Stimme. Die Furcht hatte sie trotz aller Schauspielkunst gepackt. Sie rief laut nach Nôd’onn.
Die Albae lachten.
»Du hast einfach kein Glück, Morana«, sagte Sinthoras heiter. »Ich habe dich angelogen. Der Magus ist bei den Truppen, dort, wo der Turm ist. Wir wollten gerade zu ihm. Mein Speer trank zu lange kein Zwergenblut mehr.«
»Beim Turm?« Sie schaute zu den Zwergen und den Söldnern. »Dann werde ich sie eben hintreiben.« Sie machte Anstalten, an Sinthoras vorbeizugehen, als er blitzschnell sein Schwert zog, um es an ihre Kehle zu legen. Narmora parierte den Schlag jedoch mit ihrer Waffe. »Wenn du es noch einmal versuchst, stirbst du«, sagte sie drohend zu ihm.
Ein Messer schwirrte über die Köpfe der Zwerge hinweg, die geschliffene Spitze bohrte sich unter die Achsel der Halbalbin, und sie schrie auf.
»Die Morana, die ich kannte«, sagte Caphalor finster, »klang auch anders als du.«
Außer sich vor Wut stieß Furgas nach dem Angreifer. Der Alb wich dem Speer elegant aus, zog dabei seine Kurzschwerter und schlug zum Schein nach dem Kopf des Mannes. Furgas fiel auf die Finte herein, und noch während er versuchte, die erwartete Attacke oben abzuwehren, trafen ihn die Klingen des Schwarzhaarigen in den Leib. Ächzend sank er zusammen.
»Schnell!«, rief Tungdil zu Rodario, der seinen Schrecken erst überwinden musste und ihnen den Sack mit den Waffen zuwarf. Die Zwerge zerrissen ihre Fesseln, packten ihre Äxte und stürzten sich auf die verhassten Gegner.
Rodario wich vor dem lächelnden Sinthoras zurück, Boïndil sprang dazwischen, und seine Beile wirbelten hin und her.
»So, Schwarzauge, Zwergenblut wolltest du deinem Zahnstocher zu trinken geben?« Er attackierte ihn auf Hüfthöhe und zwang ihn damit von dem Schauspieler weg. Das gab Rodario die Zeit, die er benötigte. »Das trifft sich gut. Meine Beile dürstet es nach Spitzohrensaft.« Zwischen den beiden entbrannte ein heftiges Gefecht, Balyndis sprang ihm bei und achtete nicht auf sein Gezeter, dass er den Alb allein besiegen wolle.
Andôkai übernahm es zusammen mit Tungdil, Caphalor zu beschäftigen, während die verletzte Narmora nach ihrem Gefährten schaute.
Sie hatte Glück gehabt. Das Wurfgeschoss hatte sie neben der Ader getroffen, sodass sie nicht mehr davontrug als eine leicht blutende Fleischwunde. Aber um Furgas stand es schlimmer. Sein Atem ging flach, er hechelte und versuchte kraftlos, das Visier zu öffnen, um frische Luft zu bekommen.
»Liebster«, versuchte sie ihn zu beruhigen, während sie auf seine Wunde drückte, um die Blutung zu stillen. Ihre Augen verwandelten sich zurück und wurden menschlich. Doch es gelang ihr nicht, den Blutfluss zu bändigen. Mit einem wütenden Schrei schnellte sie in die Höhe, drängte Andôkai zur Seite und beharkte den Alb mit einer Reihe von Angriffen. »Überlass ihn mir! Kümmere dich um Furgas«, bat sie die Maga knapp. »Er stirbt sonst.« Und ihre Augen wurden wieder schwarz.
Andôkai nickte und zog sich zurück.
»Wie rührend«, sagte Caphalor mit beißendem Hohn. »Sorge dich nicht, denn ich sende dich zu deinem Gefährten. Doch zuerst«, er wich ihrem Angriff aus und trat Tungdil dabei elegant gegen die Brust, dass der sich auf den Hosenboden setzte, »möchte ich ein wenig Spaß mit dir haben.«
Wieder parierte er ihren Schlag und drosch ihr die Faust ins Gesicht. Sie taumelte rückwärts und schaffte es, unter seinen Stichen abzutauchen; dafür bekam sie sein Knie auf die Nase. Im Reflex zuckte sie zurück und bewegte sich geradewegs in die Reichweite seiner Klinge hinein.
Tungdil zögerte nicht. Er warf seine Axt, auch wenn er keine zweite dabeihatte und gegen den Ratschlag des Zwillings handelte.
Die Axt flog, ihr Pfeifen warnte Caphalor jedoch vor der Gefahr.
Ohne dass der Zwerg erkennen konnte, wie er es anstellte, fing er die Waffe am Stiel auf und schleuderte sie zurück. Aus dieser Bewegung heraus wirbelte er um Narmora herum und zog ihr die Beine weg, um ihr mit seinen Schwertern im Fallen den Tod zu bringen.
Dem Zwerg gelang es nicht mehr auszuweichen, doch die Axt prallte glücklicherweise mit der stumpfen Seite gegen seine Brust. Die Rippen knackten, und es schmerzte höllisch.
»Zurück, Caphalor! Sie ist mein«, dröhnte eine heisere Stimme. Der Alb hielt inne und starrte auf Nôd’onn, der wie aus dem Nichts erschienen war.
»Herr? Ihr …«
Der Augenblick der Ablenkung genügte Narmora, ihrem über sie gebeugten Gegner die Spitzen ihrer Waffen von unten in den Hals zu rammen. Beinahe vollständig enthauptet stach er ein letztes Mal nach ihr und verletzte sie am Hals, dann kippte er vornüber und begrub sie unter sich.
Ein grässlicher Schrei ertönte. Sinthoras sah den Tod seines Freundes mit an und verstand, dass es sich nicht um den wahren Magus handelte, der für die fatale Ablenkung gesorgt hatte. Er überschlug seine Chancen, sie zu besiegen, und entschloss sich zu einem Rückzug. Gegen die Kräfte der Maga konnte er allein und ohne sein Schutzamulett nicht bestehen. »Wir sehen uns wieder. Euer Tod wird meinen Namen tragen!« Mit diesen Worten rannte er zurück in das Prunkzelt.