Narmora entfernte die Lumpen von der Feuerklinge und lockerte sie in der Halterung, damit sie die Waffe sofort greifen konnte. »Du hast Sorgen, dass meine dunkle Seite mich zur Verräterin macht?«
Er nickte. »Ja.«
»Nun, Boïndil Zweiklinge, du bist ehrlich zu mir«, sie beugte sich vor und legte ihm eine Hand auf die Schulter, »aber sollte ich tatsächlich eine Überläuferin sein, kämen deine Bedenken ein wenig spät.« Ihr Gesicht hatte die Härte und die Grausamkeit ihrer albischen Natur nicht verloren, sie wirkte Furcht einflößender denn je zuvor.
Nervös rieb er die Beilköpfe aneinander, ihr Gerede und ihr Gehabe bescherten ihm Unruhe. »Tu was, damit ich weiß, wie es weitergeht«, verlangte er mürrisch.
Sie lächelte und trat aus der Deckung der Säule. »So soll es geschehen. Ich gehe und tue etwas.« Ihre Züge blieben ausdruckslos.
Nôd’onn stand in der Mitte der Brücke. Er streckte seinen rechten Arm aus und beschrieb erste Runen, um einen vernichtenden Zauber gegen die beharrlich kämpfenden Zwerge des ersten und zweiten Stammes zu schleudern. Die aufgequollene Linke hielt den Zauberstab aus weißem Ahorn, der silbrig schwarze Onyx am oberen Ende glomm Unheil verkündend.
Sich anzuschleichen wäre auf der Brücke nicht geglückt, ein offener Angriff fruchtete ebenso wenig. Also blieb Narmora nur die List, um in die Reichweite des gefährlichsten und mächtigsten Magus des Geborgenen Landes zu kommen.
Sie presste sich eine Hand an die Halswunde, wo ihr getrocknetes Blut noch haftete, und tat so, als wäre sie verwundet. Sie gab sich Mühe, so echt wie möglich zu spielen, und setzte taumelnd und wankend einen Fuß vor den anderen.
»Meister«, ächzte sie. »Sie haben den Belagerungsturm zerstört … Andôkai …«
Er hielt inne, und sein Kopf wandte sich ihr zu. Durch die schnelle Bewegung schwabbelte das aufgedunsene Gesicht, als befände sich unter der wächsernen Haut Wasser und kein Fleisch. »Andôkai?«, krächzte er. »Wo hast du sie gesehen?«
»Sie ist draußen, Meister, vor dem Berg, und setzt unseren Truppen mit ihren Zaubern zu«, sprach sie angestrengt und wankte weiterhin auf den fetten Mann zu. Zehn Schritte trennten sie noch von ihm. Zehn unendlich weite Schritte. »Was sollen wir gegen sie tun?«
Nôd’onn wandte sich ihr nun vollends zu. Sie sah seinen feisten Leib, die aufgeschwemmten Züge, die nichts mehr mit dem Gesicht Nudins gemein hatten, und das Blut, das aus seinen Poren trat, wo es sich in dünnen Rinnsalen sammelte und in die Robe sickerte. Der Stoff starrte vor Schmutz, überall zeichneten sich braune Flecken ab, mal glitzerten sie feucht, mal waren sie eingetrocknet. Der Magus stank Übelkeit erregend.
»Ihr könnt nichts gegen sie ausrichten«, sagte er zu ihr mit seiner zweifachen Stimme. »Bring mich an den Ort, wo sie euch zuletzt angegriffen hat, ich kümmere mich selbst um sie. Ihrer Magie seid ihr nicht gewachsen. Geh voraus.«
Fünf Schritte.
Ich muss näher an ihn herankommen. Narmora blieb stehen und brach in die Knie. »Meister, ich bin schwer verletzt. Könntet Ihr mir zuerst die Gnade erweisen, mich von den Wunden zu heilen, damit ich Euch mit ganzer Kraft dienen kann?«
»Dazu ist später Zeit«, schmetterte er ihr Gesuch ab. »Steh auf und …« Sein Blick fiel auf die Gruppe um Tungdil und Gandogar, die sich erbittert gegen die Orks und Sinthoras zur Wehr setzten. »Sie? Wie ist das möglich? Ich dachte, die Artefakte …« Er verstummte und sammelte seine Konzentration. »Umso besser.«
Als er die Augen schloss, handelte die Halbalbin, denn eine bessere Gelegenheit würde sich wahrscheinlich nicht mehr ergeben.
Langsam und lautlos erhob sie sich, um ihn nicht auf sich aufmerksam zu machen, dann setzte sie vorsichtig einen Fuß vor den nächsten.
Vier Schritte, drei Schritte, zwei Schritte, ihre Hand legte sich an den Griff der Feuerklinge. Noch einen Schritt …
»Meister, Obacht!«, hallte ein warnender Ruf über die Brücke.
Narmora riss die Axt aus der Halterung und schlug zu. Da lenkte Nôd’onn den gegen Tungdil gedachten Zauber auf sie.
Narmora hatte das Gefühl, sie blicke unmittelbar in die Sonne, so grell leuchtete es vor ihren Augen auf. Die Helligkeit blendete sie schmerzhaft, sie wurde von den Füßen gehoben und in gerade Linie nach hinten geschleudert. Blind landete sie auf der Brücke, doch ihre Finger gaben die Feuerklinge trotz der Härte des Aufschlags nicht frei.
Sie wusste, dass es ihr nicht gelungen war, Nôd’onn zu treffen, dazu musste sie nichts sehen. Aber wieso lebe ich noch? Sie tastete sich vorsichtig ab und berührte das Schutzamulett, dass Andôkai ihr gegeben hatte. Deshalb!
»Erledige das«, hörte sie den Magus sagen, »und bring mir die Axt.« Das scharfe Klacken, das vom Zauberstab herrührte, wenn das Ende auf den Steinboden traf, entfernte sich.
Ihre Sicht kehrte zurück, verschwommen erkannte sie die malachitfarbene Robe am anderen Ende der Brücke. Stöhnend stemmte sie sich auf, um hinter dem Feind herzurennen, ihn einzuholen und zu stellen. Das Amulett gab ihr Sicherheit.
Ein dunkler Schatten sprang unvermittelt über sie hinweg und kam drei Schritte elegant vor ihr auf. Die Spitzen zweier Kurzschwerter reckten sich ihr entgegen.
»Das Tote Land gab mir eine Gelegenheit, mich an dir zu rächen«, begrüßte sie Caphalor; die schwere Verletzung, die sie ihm am Hals zugefügt hatte, war deutlich sichtbar.
»Wir haben dir vorhin nicht den Kopf von den Schultern geschlagen«, erwiderte Narmora kalt, »um dir zu zeigen, wie wenig wir uns vor dir fürchten. Du bist leicht zu schlagen.« Sie hob die Feuerklinge. Wenn er ihre Angst spürte, hätte er gewonnen. »Dieses Mal wirst du nicht noch einmal aufstehen.«
Caphalor fletschte die Zähne und begann seine Attacken. Narmora spürte bald, dass sie mit der Geschwindigkeit des untoten Kriegers nicht lange mithalten könnte. Daher erwiderte sie die Angriffe mit einem Ausfall und traf ihn sogar. Die Axt grub sich in die linke Schulter. Mehr geschah nicht.
Der Alb sprang zurück und hob die Waffen. »Ich werde dich verzehren, und mit deinem Blut male ich ein Bild von deinem zerstückelten Körper«, versprach er ihr und setzte ihr nach. Dabei drängte er sie so geschickt zurück, dass sie gefährlich nahe an den Brückenrand geriet. Im letzten Augenblick bemerkte sie, dass sie nur mehr eine Handbreit Stein von der Tiefe trennte.
Caphalor tauchte blitzartig ab und schlug nach ihrem Unterschenkel. Sie sprang über ihn, wirbelte einmal um die eigene Achse und schlug dabei nach seinem Hals, um ihn dieses Mal endgültig zu vernichten.
Er ließ sich fallen, rollte sich auf den Rücken und stieß mit den Kurzschwertern senkrecht nach oben, als sie sich vorbeugte, den Streich mit der Feuerklinge führend.
Die Schneide der Axt schrammte Funken stiebend über den Steinboden der Brücke, ehe sie seitlich in den Hals des Albs eindrang und das Vernichtungswerk vollendete. Caphalors Augen weiteten sich überrascht.
Aber auch er hatte getroffen.
Narmora hing aufgespießt auf seinen Kurzschwertern, die sich durch die Rüstung unterhalb der Schultergelenke in ihre Brust gebohrt hatten. Die Schmerzen raubten ihr schier den Verstand. Durch einen dunklen Schleier sah sie, wie das Schutzamulett von ihrem Hals fiel; das durchschnittene Bändchen und der Kristall prallten auf den Alb und trudelten in die Tiefe.
Ich muss … Sie versuchte zu rufen und auf sich aufmerksam zu machen, aber es gelang ihr nicht. Sie war zu schwach und die beiden neuerlichen Verwundungen zu schwer. Narmora spürte genau, wie die Ohnmacht in sie hineinkroch, und konnte doch nichts dagegen unternehmen.
Sie verlor das Bewusstsein, ihre Knie gaben nach, und sie sackte auf den Kadaver Caphalors, dessen Kurzschwerter und steife Arme sie immer noch gefangen hielten. Ihr wurde eisig kalt. Unfähig, irgendeine Bewegung zu machen, kauerte sie über ihrem Angreifer.