»Aber er läuft doch auf der Erde. Wieso heißt er dann …«
»Geh ins Haus, Jemta, und nimm deine Geschwister mit«, wies eine ungeduldige Männerstimme das Mädchen an.
Tungdil spürte Wärme, roch Heu und Stroh und hörte Kühe muhen. Der Regen hörte auf, es wurde dunkel um ihn herum. »Gutenauen«, sagte er schwach. »Die Orks haben Gutenauen vernichtet.«
»Was hat er gesagt?« Die Frau klang aufgeschreckt.
»Er fiebert, gib nichts drauf«, meinte der Mann. »Da, schau. Er ist in eine Wolfsfalle geraten, oder es hat ihn ein Breitmaulork gebissen.« Vielstimmiges Lachen erklang.
Der Zwerg fasste nach dem Arm des Mannes. »Ich mag Fieber haben, aber ich erinnere mich ganz genau. Sie kommen bald zu euch«, versuchte er, die Bewohner zu warnen. »Sie ziehen nach Westen, Süden und Osten, drei Sippen, dreihundert Orks …«
Schnelle Schritte näherten sich. »Hier ist der Kräutersud«, meldete eine Mädchenstimme. »Oh, so sieht ein Unterirdischer aus!«
»Ava, geh zu deinen Geschwistern«, kam die bekannte Anweisung, und im nächsten Augenblick kam es dem Zwerg so vor, als tauchten sie sein Bein in siedendes Öl. Er schrie auf, und die Welt wurde schwarz.
»… aber gar keinen langen Bart, wie Großvater es immer erzählt«, hörte er wieder die Mädchenstimme, die dieses Mal enttäuscht klang. »Vaters Gestrüpp ist dichter. Aber das sieht aus wie … kratzige Wolle.«
»Ob er Gold und Diamanten dabei hat?« Jemand kroch näher an ihn heran. »Großmutter erzählt in den Märchen immer, dass sie sehr reich sein sollen.«
»Komm zurück! Du kannst ihn nicht einfach durchsuchen, das gehört sich nicht!«, fauchte das Mädchen.
Tungdil schlug die Augen auf. Sofort hörte er Kinder kreischen, Stroh raschelte, sie rutschten hastig von ihm weg. Er richtete seinen Oberkörper auf und schaute sich um.
Neun Kinder saßen um ihn herum; ihr Alter reichte von vier bis vierzehn Zyklen, und sie schauten ihn neugierig und ein bisschen ängstlich zugleich an. Sie trugen einfache Kleider, nichts, das mehr als einen Münzling kostete.
Sein Bein war verbunden und pochte immer noch, aber die Schmerzen waren verschwunden, und seine Stirn glühte nicht mehr. Man hatte sich gut um ihn gesorgt.
»Vraccas sei mit euch«, grüßte er sie. »Wo bin ich, und wer hat mich gepflegt?«
»Er redet wie wir«, staunte ein Rotschopf mit abstehenden Ohren.
Das älteste Mädchen, das seine brünetten Haare zu zwei Zöpfen geflochten hatte, grinste breit. »Natürlich redet er wie wir, was hast du denn gedacht?« Sie nickte ihm zu. »Ich bin Ava. Meine Mutter hat dich vor fünf Umläufen gesehen, als du in den Dreck gefallen bist. Opatja und die anderen haben sich um dich gekümmert.« Sie schickte ein blondes Mädchen namens Jemta, die Erwachsenen zu holen. »Geht es dir gut? Hast du Hunger?«
»Fünf Umläufe?« Er hatte geglaubt, nur kurz eingeschlafen zu sein. Sein Bauch grummelte laut. »Ja, ich glaube, ich habe Hunger. Und Durst.« Er lächelte, weil ihn die Schar an sein eigenes Zuhause, an Frala, Sunja und die kleine Ikana erinnerte. »Ihr seht mir naseweis aus.« Damit löste er eine Flut von Fragen aus, die sich nicht mehr aufhalten ließ.
»Aus welchem Zwergenreich kommst du?«
»Bist du reich?«
»Hast du Gold und Diamanten dabei?«
»Wie viele Orks hast du schon getötet?«
»Seid ihr alle so klein, oder gibt es größere als dich?«
»Könnt ihr Felsen mit der bloßen Hand zerschmettern?«
»Warum ist dein Bart nur so kurz?«
»Habt ihr mehrere Namen und …«
»Halt, halt!« Tungdil lachte. »Nicht so schnell auf einmal. Wir fangen der Reihe nach an, aber erst, wenn ich euren Eltern gesagt habe, was in Gutenauen geschah.« Er wollte den Kindern nichts von den Grausamkeiten berichten, sondern die Angelegenheit mit den Erwachsenen besprechen.
Die hellhaarige Frau, die er vor fünf Tagen gesehen hatte, ehe das Fieber ihn endgültig gepackt hatte, betrat die Scheune, einen Korb voller appetitlich riechender Dinge im Arm. »Ich bin Remsa«, stellte sie sich vor.
»Ich heiße Tungdil. Ihr habt mich vor dem Tod bewahrt, und dafür werde ich Euch ein Leben lang dankbar sein, aber nun müsst Ihr die Kinder hinausschicken«, sagte er leise.
»Warum?«, quakte Jemta frech.
Er grinste sie an. »Weil du die schlimmen Dinge nicht hören sollst, von denen ich ihr berichte.«
»Meinst du den Überfall auf Gutenauen?«, fragte die Frau. »Du hast die ganze Zeit darüber phantasiert …«
»Nein, es geschah wirklich! Die Orks haben sich mit den … Ihr müsst weg von hier! Sie wollen nach Süden, Osten und Westen, drei Rotten zu jeweils mindestens einhundert Kriegern. Sie machen Euch und Euer Anwesen mitsamt dem Vieh nieder. Geht!«, beschwor er sie.
Remsa fühlte seine Stirn. »Nein, an der Temperatur kann es nicht liegen, du hast kein Fieber mehr«, meinte sie nachdenklich. »Dann ist es wahr?« Sie packte Brot, Milch, Käse und Speck vor ihm auf die Decke, damit sie nicht ins Stroh rollten. »Ich sage Opatja Bescheid. Wir senden einen Boten nach Turmweihler. Die königliche Administration wird wissen, was zu tun ist.«
»Aber sie kommen hierher!«, beteuerte er kauend; vor Hunger hatte er sich nicht mehr zurückhalten können und sich in eine Wurst verbissen.
»Du lagst fünf Sonnenumläufe im Fieber, Tungdil. Die Orks wären schon längst bei uns angekommen, wenn sie es auf uns abgesehen hätten«, schätzte sie. »Aber wir stellen vorsichtshalber einen Späher ab.«
»Gibt es in Turmweihler Meldeboten?« Ihre Reiter und Brieftauben kannten die schnellsten Wege zu den großen Städten des Geborgenen Landes. Ein Dienst war zwar schmerzlich teuer, aber die Nachrichten wurden wenigstens zügig überbracht.
»Du willst eine Botschaft senden? Ich schicke dir jemand, dem du deine Nachricht sagst, damit er sie …«
»Danke, aber ich kann schreiben«, lehnte er die Hilfe freundlich ab. Er nahm es der Frau nicht krumm, dass sie ihn für ungelehrt hielt, zumal die wenigsten einfachen Menschen die Kunst des Schreibens beherrschten. »Papier und Tinte reichen völlig. Der Bote könnte es in der kleinen Stadt abgeben. Es soll zu dem Magus Lot-Ionan in Ionandar.«
Sie nickte und überprüfte seinen Verband. »Dein Bein wäre beinahe verloren gewesen. Ein Tag später, und wir hätten dir eines aus Holz schnitzen können. Die Wolfsfalle muss alt und verrostet gewesen sein. Iss jetzt und ruh dich aus.«
Die Bäuerin scheuchte die Kinder hinaus, damit er in Ruhe essen konnte, doch nach einer Weile kehrten sie kichernd zurück, Papier und Feder bei sich tragend.
Die Mädchen und Buben wichen bald nicht mehr von seiner Seite. Da sie einen Zwerg nur aus Märchen und Legenden kannten, wollten sie sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Sie verfolgten jeden Handschwung, als er den Brief an den Magus aufsetzte.
Darin schilderte er in aller Ausführlichkeit, was sich bei Gutenauen zutrug, was die Albae und Orks vereinbart hatten, dass Nôd’onn der Herrscher des Toten Landes war und viele weitere Einzelheiten. Ich hoffe, es kommt rechtzeitig an, dachte er besorgt. Er fertigte sein Schreiben in zweifacher Ausfertigung an, falls eine Taube verloren gehen sollte, und lehnte sich dann müde zurück ins weiche Stroh.
Kaum bemerkten die Kinder, dass er seine Arbeit beendet hatte, begannen sie von neuem, ihn mit ihren Fragen zu löchern, aber der Zwerg antwortete mit einer Gegenfrage. »Wisst ihr denn, wo das Schwarzjoch ist?«
»Ich weiß es«, krähte Jemta stolz. »Von hier aus sind es etwas weniger als dreihundert Meilen. In der Nähe führt eine Straße vorbei, hat Vater gesagt. Er war früher Kaufmann und überall im Geborgenen Land unterwegs.« Sie überlegte. »Warte, ich hole ihn. Er kann das besser erklären als ich.« Sie sprang auf und rannte wie ein Wirbelwind hinaus, um etwas später mit Opatja zurückzukehren, einem gedrungenen grauhaarigen Mann. Zu Tungdils Freude hatte er einen Krug Bier für ihn dabei.
»Zum Schwarzjoch? Ein seltsamer Ort«, sagte er. »Ja, es geht eine Straße daran vorüber, aber du wirst dich auf den letzten Meilen durch den Wald schlagen müssen.« Er nahm die Karte des Zwergs und zeichnete den Weg ungefähr ein. »Du kannst den Berg nicht verfehlen, du siehst seinen flachen, schwarzen Gipfel durch die Wipfel der Bäume.«