Tungdil freute sich, dass seine Botschaft von den Menschen ernst genommen wurde. Sicher, in den Geschichtsbüchern würde später wohl kaum erwähnt werden, dass er, Tungdil Bolofar, der Zwerg ohne Stamm und Clan, einer Bauernfamilie vom Untergang Gutenauens erzählt und diese es der königlichen Administration zu Turmweihler gemeldet hatte. Darauf kam es ihm auch nicht an, aber er wusste es, und es gefiel ihm.
Der Zwerg übernachtete meist im Freien, nahm gelegentlich eine Scheune in Anspruch und gönnte sich nur einmal einen weiteren Aufenthalt in einer Schenke. Lieber sparte er seine schwindende Barschaft.
Die Wunde war nach neun Sonnenumläufen vollständig verheilt. Die Strapazen der Reise hatten ihn etwas von seinem Gewicht gekostet, der Gürtel saß zwei Löcher enger als gewöhnlich. Er schnaufte nicht mehr so, wenn er Anhöhen hinaufstieg; das Laufen kam der Ausdauer zu Gute, und die Füße hatten sich ebenfalls an das tagtägliche Marschieren gewöhnt. Nachts befielen ihn gelegentlich Erinnerungen an das zerstörte Gutenauen. Diese Grausamkeit musste sein Verstand noch verarbeiten.
Nach einigen weiteren Sonnenumläufen entdeckte er endlich den Tafelberg. Der Felsbrocken sah wirklich so aus, wie ihn Opatja ehrfurchtslos mithilfe des Käses dargestellt hatte, nur dass er nicht gelb war, ganz im Gegenteil.
Das Licht beschien die breiten, schluchtartigen Risse in der glatten Wand, die senkrecht nach unten abfiel. Der düstere Felsbrocken lag wie ein Stück hingeworfener Stein in der Landschaft und wurde von dunkelgrünen Tannen umschlossen. Angesichts der Ausmaße des Schwarzjochs wirkten sie klein und zerbrechlich, obwohl ihre Höhe sicherlich fünfzig Schritt und mehr betrug.
Das Schwarzjoch war sicherlich einmal ein richtiger, Meilen hoher Berg. Vielleicht hat ein Gott ihm als Strafe die Spitze abgeschnitten und seinen harten Fuß wie die Wurzel eines gefällten Baumes in der Erde gelassen, dachte Tungdil.
Die Erhebung strahlte für ihn etwas unerklärlich Abstoßendes aus. Wenn er die Artefakte nicht dorthin bringen müsste, hätte er gewiss einen großen Bogen um das Schwarzjoch geschlagen. Gorén schien kein Freund von Gesellschaft zu sein, wenn er sich ein solches Refugium aussuchte.
Der Zwerg schüttelte seine Eindrücke ab, richtete den Beutel mit den Artefakten und schritt die steinige Straße entlang, die eine halbe Meile östlich des Waldrandes vorbeiführte. Während er den Tannenforst umrundete, suchte er nach einem Pfad oder einer Schneise, aber als die Sonne unterging, stand er wieder an seinem Ausgangspunkt, ohne fündig geworden zu sein.
Ein seltsamer Wald. Dann werde ich mir morgen eben einen Weg hindurchschlagen, wenn die Stämme keinen Platz machen. Weil er die Müdigkeit in den Knochen spürte, bereitete er nahe der Straße sein Nachtlager und entzündete ein Feuer. Dabei behielt er den Waldrand im Auge, falls sich ein Raubtier hervorschleichen sollte.
Wenig später bekam er Gäste, die sich sehr darüber freuten, nicht allein sein zu müssen. Zwei Trödelhändler hielten ihren Planwagen neben dem Feuer an und spannten die beiden Maulesel aus, die den Karren gezogen hatten. Die Pfannen, Töpfe und Deckel, die sie in ihrem Gefährt lagerten, klapperten und schepperten noch lauter als die Rüstungen der Soldaten.
»Ist da noch Platz am Feuer?«, fragte der Wagenlenker und übernahm die Vorstellung. Hil und Kerolus waren für Tungdil typische Menschenmänner. Lange Haare, groß, unrasiert, einfache Kleidung und grundlos zu laut. Sie scherzten, lachten und ließen die Flasche mit Branntwein beständig kreisen, aber die Heiterkeit erschien aufgesetzt.
»Versteht meine Frage nicht falsch«, meinte Tungdil, »aber Ihr scheint mir … besorgt zu sein.«
Hil hörte auf der Stelle auf zu lachen. »Gut beobachtet, Unterirdischer …«
»Zwerg. Ich bin ein Zwerg.«
»Ach? Gibt es Unterschiede zwischen Zwergen und Unterirdischen?«
»Nein. Es ist die bessere Bezeichnung, so wie ich Euch aus Respekt Menschenkind nicht Oberirdische oder lange Elende nenne.«
Hil grinste. »Ich habe verstanden.«
»Um ehrlich zu sein, wir fürchten uns vor dem Berg und den Kreaturen, die in dem Wald lebten. Wir rasten nur deshalb neben dem Schwarzjoch, weil unsere beiden Mulis nicht mehr weiter wollten«, gestand Kerolus, der vier Eier in die Pfanne schlug und sie briet. Bereitwillig teilte er sein Mahl mit dem Zwerg und seinem Partner.
»Was hat es mit dem Felsen auf sich?«, fragte Tungdil und schabte das Eigelb mit Brotrinde zusammen.
Der Trödler sah ihn erstaunt an. »Ein Unter… Zwerg, der die Legende nicht kennt? Dann will ich dir gern von dem Berg, der keiner mehr ist, berichten.«
Hil legte sich nah ans wärmende Feuer, und sein Partner hob an zu erzählen …
Einst wurde das Schwarzjoch »Wolkenberg« genannt, weil sein Gipfel bis in den Himmel ragte. Er war mächtiger, stolzer als alle Berge rings um das Geborgene Land. Der Schnee auf seinem Gipfel taute niemals, und die obersten Hänge bestanden aus purem Gold.
Doch keiner der Menschen gelangte in diese Höhe, um sich von dem Reichtum zu holen. Die unteren Wände, auf denen das Gewicht lastete, waren zu glatt und zu hart. Und das Weiß des Schnees und das Gold schimmerten so stark, dass derjenige, welcher zu lange nach oben schaute, blind wurde.
Die Menschen verlangte es nach dem Gold, und sie riefen die Zwerge zu Hilfe.
Die Zwerge schickten eine Abordnung nach Gauragar, um den Wolkenberg mit eigenen Augen zu sehen. Mit ihren Spitzhacken, Meißeln und Schaufeln schlugen sie auf den Felsen ein.
Da ihre Werkzeuge besser geschmiedet waren als die der Menschen, gelang es ihnen, einen Gang in den Wolkenberg zu brechen und sich in seinem Inneren nach oben zu graben. Sie höhlten den Berg aus und trugen das Gold ab, ohne geblendet zu werden.
Die Menschen Gauragars sahen das nicht gern und verlangten von den Zwergen, ihnen von dem Schatz zu lassen. Als sich die Zwerge und Menschen stritten, erbebte der lebendig gewordene Wolkenberg vor Wut, um die Plünderer aus sich herauszuschütteln, aber die Löcher in seinem Inneren waren so zahlreich geworden, dass er einbrach und die Gierigen unter sich begrub.
So verlor der Berg seine Schönheit und seine Größe.
Seitdem verfolgt er Menschen und Zwerge mit seinem Hass. Der verstümmelte Fels wurde im Lauf der Zeit schwarz vor Boshaftigkeit.
Das Feuer knackte laut. Kerolus warf ein Scheit nach, damit die Flammen aufloderten und die Dunkelheit vertrieben.
Ich habe die Bösartigkeit des Schwarzjochs gleich gespürt, dachte Tungdil. Dass Gorén sich ausgerechnet dort wohl fühlte, verstand er nicht. Es sagte zumindest viel über sein Gemüt aus.
»Im Wald streifen Wesen umher, die jedem Wandersmann den Tod bringen, heißt es. Der Berg hat sie gerufen und ihnen fette Beute versprochen«, erklärte der Trödler schaudernd. »Wenn ihr Hunger zu groß wird, kommen sie zwischen den Tannen hervor, um die Dörfer heimzusuchen. Sie fressen alles, Mensch und Tier.«
»Es ist gut, Gesellschaft zu haben«, sagte Tungdil ehrlich und machte sich auf einen ungemütlichen Weg zwischen den Stämmen hindurch gefasst. Seine Axt würde ihm notfalls beistehen. »Aber ich kann auch eine Geschichte erzählen.«
Er schilderte seine Erlebnisse in Gutenauen, berichtete von dem Alb und der Vernichtung des Ortes. Seine Erzählung geriet ins Stocken, die Erinnerung an das Grauen lebte auf.
Er brach ab und versuchte, Schlaf zu finden, doch der Wald hielt ihn wach. Es bereitete den Bäumen anscheinend Vergnügen, immer dann laut zu ächzen und zu knarren, wenn er in tiefen Schlummer gleiten wollte.
Hil und Kerolus störte das nicht besonders. Nun wusste der Zwerg, warum sie dem Branntwein so zusprachen: Er betäubte ihre Sinne derart, dass sie nichts hörten. Die Männer überließen ihm großzügigerweise die Aufgabe, über ihr Leben zu wachen.