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Die Geräusche endeten erst, als der Morgen graute. Die Trödler erhoben sich, wünschten Tungdil noch eine angenehme Reise und fuhren ausgeruht von dannen, während der Zwerg sich wie gerädert fühlte.

Missmutig starrte er auf das Dunkel, das zwischen den Tannen auf ihn wartete. Es half nichts, er musste zum Schwarzjoch. Gorén lebte sicherlich in den Resten des Stollens, sollte die Geschichte, die ihm Kerolus vergangene Nacht erzählt hatte, einen Funken Wahrheit enthalten.

Ungeheuer oder nicht, ich muss hindurch. Er zog die Axt, hielt sie mit beiden Händen gepackt und stapfte in den Wald hinein. Sogleich schlug ihm Ablehnung entgegen. Der Berg gab ihm deutlich zu verstehen, dass er ihn nicht in seiner Nähe haben wollte.

Tungdil störte sich nicht weiter daran. Je eher er die Artefakte übergab, desto schneller konnte er in die Geborgenheit seines geliebten Stollens von Ionandar zurückkehren. Vielleicht haben die Zwerge vom Stamm des Zweiten bereits an Lot-Ionan geschrieben und sein Gesuch beantwortet, dachte er zuversichtlich.

Seine trotzige Zielstrebigkeit führte ihn bald durch den Wald und direkt an den Fuß des Tafelbergs, ohne dass er auf irgendwelche Ungeheuer traf. Bei Tag schienen sie keine Lust zu haben, Wanderer anzugreifen. Ihm sollte es recht sein.

Die senkrecht aufsteigenden Wände des Schwarzjochs aber schleuderten ihm stumme und derart unheilvolle Zurückweisung entgegen, dass er am liebsten kehrt gemacht hätte.

Plötzlich löste sich eine Gerölllawine. Tungdil schaffte es gerade noch, eine Deckung zu finden; der letzte Steinbrocken schlug eine Handbreit neben ihm ein. Die Größe der Trümmerstücke hätte ausgereicht, um ihn zu erschlagen. Dennoch, es half nichts, er musste Gorén finden.

Der Zwerg lief um den Fuß des Tafelbergs, ohne eine Hütte oder den Anfang eines Pfades zu erkennen. Laut rief er den Namen Goréns und hoffte, dass er sich zu erkennen gab. Nichts.

Fluchend umrundete er die schwarzen, rissigen Wände ein weiteres Mal; dabei entdeckte er schmale Stufen, die von kundigen Steinmetzen in den Fels getrieben worden waren. Für ihn reichten die Abmessungen der Stiegen aus, aber die großfüßigen Menschen hätten Schwierigkeiten, sicheren Halt auf den Tritten zu finden.

Tungdil erklomm des Schwarzjoch; er gelangte einhundert Schritte hoch, zweihundert Schritte hoch, dreihundert Schritte hoch. Er krabbelte auf allen vieren und hielt sich an den kurzen Stufen fest. Das war die einzige Sicherung, die sich ihm bot.

Gelegentlich bewarf ihn der Berg mit Geröll und kleinen Lawinen, die ihm Schrammen an den Händen und im Gesicht zufügten. Ein Stein schlug ihm eine Platzwunde oberhalb der Stirn. Schwindel erfasste ihn, und Tungdil presste sich gegen den Fels, um nicht abzustürzen. Als die Umgebung sich nicht mehr drehte, wischte er sich das Blut aus dem rechten Auge und kletterte knurrend weiter.

»Vraccas schuf uns aus Fels, um über den Fels zu herrschen, also wirst du dich gefälligst vor mir beugen!«, rief er laut. »Du wirst mich nicht abschütteln.«

An dem Schatten, den er warf, sah er die Sonne über den Zenit steigen und schließlich versinken; der Wind pfiff ihm kalt um die Ohren und zerrte an seinen Rucksäcken. Die Gefahr wuchs mit jedem Schritt, den er tat, und ans Runterkommen wollte er gar nicht denken. Dennoch wagte er es, sich umzudrehen und einen Blick auf das vierhundert Schritt unter ihm liegende Gauragar zu werfen.

Wolken und Sonne schufen auf dem farbenreichen Flickenteppich aus Wiesen, Feldern und Wäldern ein Schattenspiel, das er in dieser Art nie zuvor gesehen hatte. Tungdils Augen erspähten in meilenweiter Entfernung Städte, die aus kleinen Bauklötzen gemacht schienen. Bäche und Flüsse zogen sich Adern gleich durch die Landschaft, und es roch nach Frühling.

Der herrliche Ausblick raubte ihm fast den Atem. Er fühlte sich mit einem Mal so erhaben und so groß wie ein Berg. Nun verstand er, warum das Volk der Zwerge sich die Gebirge als Wohnstätte erwählt hatte.

Mit neuem Mut setzte er seinen Aufstieg fort, bis er auf gut fünfhundert Schritt Höhe auf eine Nische stieß. Der Zwerg beschloss, die Nacht darin zu verbringen.

Vorsichtig kroch er in die Felseinbuchtung, die ihm Schutz vor dem rauen Wind und vor weiteren Geröllangriffen des Schwarzjochs bot. Morgen sehe ich weiter, dachte er.

Das untergehende Taggestirn beleuchtete sein schlichtes Obdach. Warmes Licht fiel auf die schwarzen Wände des Tafelbergs und hob die unterschiedlichen Strukturen der Felsen hervor. Je länger Tungdil auf die Unebenheiten seiner Nische blickte, desto mehr erinnerten sie ihn an Schriftzeichen.

Der Zwerg blinzelte. Kann es eine Täuschung sein?, fragte er sich. Seine Hand tastete über die Oberfläche. Da war tatsächlich etwas. Die Witterung hatte den Runen im Lauf der Zyklen arg zugesetzt und sie abgeschliffen, aber sie waren zweifellos vorhanden.

Das Problem konnte er leicht lösen! Rasch öffnete er seine Zunderbüchse und entfachte ein kleines Flämmchen, mit dem er den Stiel seiner Axt anbrannte. Tungdil nahm die Landkarte aus dem Rucksack, drehte sie mit der unbemalten Seite nach oben und fuhr mit dem rußigen Stück Holz vorsichtig über das Papier.

Die Rußteilchen hafteten schlecht, aber es gelang: Die Zeichen übertrugen sich, und die Überbleibsel einer uralten Schrift wurden sichtbar.

Tungdil benötigte lange, bis er die künstlerisch vollendeten Runen und die sehr umständliche Formulierung in die gemeine Zwergensprache übersetzt hatte und verstand.

Erbaut mit Blut, gefärbt vom Blut. Geschaffen gegen die Vier, gefallen gegen die Vier. Verflucht von den Vier, verlassen von allen Fünf. Einst erweckt von den Drei gegen den Willen der Drei. Erneut gefärbt vom Blut aller Kinder.

Die Worte waren von dem Bildhauer in Form eines Baumes als Zeichen der Erneuerung und der ständigen Wiederkehr in den Fels graviert worden.

Das Alter der Runen konnte Tungdil nicht einordnen, darüber hatte nichts in dem Buch gestanden, das er in den Regalen Lot-Ionans über die Zwergensprache gefunden hatte. Doch für ihn waren die Worte eine Botschaft aus einem vergangenen Zeitalter, das mindestens eintausendeinhundert Zyklen zurück lag.

Er sprach sie laut, um sie zum Leben zu erwecken; ergriffen lauschte er dem fremden und dennoch seltsam vertrauten Klang, der sich vollkommen anders als der Zungenschlag der Menschen anhörte. Die Silben rührten ihn, packten ihn, wühlten ihn auf.

Doch auch die Hänge und Schluchten des Schwarzjochs vernahmen die altertümliche Sprache, der Tafelberg erinnerte sich und erbebte. Der Groll gegen die Zwerge kehrte mit Macht zurück und richtete sich nun gegen Tungdil.

»Ich lasse mich nicht von dir abschütteln.« Der Zwerg rutschte näher an die Wand, um von den rüttelnden Felsen nicht in die Tiefe gestürzt zu werden.

Doch auch das Gestein in seinem Rücken bewegte sich; es wich mit mahlenden Lauten vor ihm zurück und gab schließlich den Eingang zu einem Tunnel frei. Das Beben des Schwarzjochs endete abrupt.

Tungdil sah zwei Möglichkeiten vor sich. Entweder wollte ihn der Berg in eine Falle locken und ihn für immer in seinem Inneren einschließen, oder aber Gorén öffnete ihm die Tür zu seiner Behausung.

Er wartete nicht lange. Kurz entschlossen sammelte er seine Sachen ein und hing sich den Beutel mit den Artefakten über den Rücken, um forsch in den Gang zu treten.

Er war erst wenige Schritte gegangen, als eine weitere Erschütterung durch den Tafelberg lief. Das steinerne Eingangstor schob sich unaufhaltsam vor den Nachthimmel. Die Sterne über dem Geborgenen Land blinkten dem Zwerg zum Abschied zu, dann saß er im Schwarzjoch gefangen.

Das Geborgene Land, das Zauberreich Lios Nudin im Jahr des 6234sten Sonnenzyklus, Frühsommer

Die majestätische Palastanlage wuchs weiß leuchtend in den stahlblauen Himmel; sandfarbene Türme erhoben sich über die Kuppeldächer und erstrahlten in der warmen Sonne. Ihr selbstbewusstes Blinken und ihre erhabene Größe wiesen den Reisenden auf fünfzig Meilen Entfernung den Weg; nur ein Blinder konnte Porista verfehlen, die Hauptstadt des Zauberreiches Lios Nudin.